Abschied
111 Abgeordnete verlassen das Parlament, darunter viele ehemalige Minister
Hans Eichel (SPD) war gerade richtig in Schwung. In seiner letzten Rede vor dem Bundestag am 2. Juli ließ er an den Plänen der FDP, die Steuern weiter senken zu wollen, kein gutes Haar und geißelte die Finanzmarktakteure dafür, schon wieder die "nächste Party" zu planen. Doch plötzlich wechselte der ehemalige Bundesfinanzminister das Thema und wurde selbstkritisch: "Das, worüber ich mir nach meinem Ausscheiden aus dem Bundestag die meisten Sorgen machen werde, ist der unglaubliche Vertrauensverlust, den wir als Politiker in der Bevölkerung erlitten haben." Aber damit nicht genug: "Wir alle", rief er seinen Kollegen zu, "sind an dem Vertrauensverlust selbst schuld."
Für solch kritische Reflexionen werden vielleicht künftig noch mehr Abgeordnete Zeit haben: Insgesamt 111 Parlamentarier verlassen den Bundestag nach Ende der 16. Legislaturperiode. Nicht alle freilich so skandalträchtig wie der ehemalige SPD-Abgeordnete Jörg Tauss, der sich seine Karriere mit dem Besitz von kinderpornografischem "Recherchematerial" ruinierte.
Besonders deutlich zeigt sich der Schwund in der SPD-Fraktion, die mit 56 nicht nur die meisten Mitglieder verliert. Sie muss zugleich einen Generationswechsel verkraften. Es verlassen allein sechs ehemalige SPD-Minister des Schröder-Kabinetts das Parlament: Otto Schily, der sich vom RAF-Anwalt zum obersten Terroristenjäger der Republik wandelte; Walter Riester, der es als Arbeitsminister immerhin schaffte, dass eine private Altersvorsorge nach ihm benannt wurde (Riester-Rente); Renate Schmidt, deren Tatendrang als Familienministerin auch nicht von der abfälligen "Gedöns"-Bemerkung Gerhard Schröders gestoppt wurde; Hans Eichel, der sich ernsthaft mühte und es als Finanzminister dennoch nicht schaffte, das Amt schuldenfrei seinem Nachfolger zu übergeben; Peter Struck, der als Verteidigungsminister feststellen musste, Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt und schließlich Herta Däubler-Gmelin, die durch einen umstrittenen Hitler-Bush-Vergleich am Ende ihrer Amtszeit zu sehr von ihren juristischen Kompetenzen ablenkte.
Verluste prominenter Politiker ermöglichen auch einen Neubeginn. Hans Eichel stellte das in seiner letzten Rede vor dem Bundestag am 2. Juli ohne Bitterkeit fest: "Es müssen Jüngere ran."
Einen solchen Satz würde Friedrich Merz (53) wahrscheinlich nicht unterschreiben. Der CDU-Politiker erfand als Finanzexperte die Bierdeckel-Steuerreform und sah seinen eigentlichen Durchbruch noch vor sich. Doch unter Angela Merkel als Parteichefin sollte sich die Hoffnung des einstigen Fraktionsvorsitzenden nicht erfüllen. Von 2002 an folgte ein Rückzug auf Raten und nun der endgültige Abschied.
Gelassener kann ein anderer prominenter CDU-Politiker seinen Rückzug antreten. Bernd Schmidbauer (70) hatte seine große Zeit 1991 bis 1998, als er als Staatsminister im Kanzleramt unter Helmut Kohl für die Koordination der Geheimdienste zuständig war. Allerdings geriet er nachträglich in Erklärungsnot und musste sich noch im Januar vor dem BND-Untersuchungsausschuss wegen der jahrelangen Bespitzelung von Journalisten durch den BND rechtfertigen.
Auch ohne sich durch kilometerlange Aktenbestände eines Untersuchungsausschusses quälen zu müssen, kam Konrad Schily zu dem Schluss, im Bundestag werde zu viel Papier produziert. Schily zog als Seiteneinsteiger erst 2005 für die FDP in den Bundestag ein. Der 71-jährige Neurologe und Gründungspräsident der Universität Witten-Herdecke vermisste im hektischen Parlaments-alltag Zeit fürs Nachdenken. Als Privatier wird er die künftig wieder haben.
Zu jung für den Rückzug ins Private ist Anna Lührmann. Sie zog 2002 als jüngste Abgeordnete mit nur 19 Jahren für die Grünen ins Parlament und dort in den Haushaltsausschuss ein. Nun zieht sie weiter, als Diplomatengattin in den Sudan - laut Eigenaussage mit der Option, irgendwann vielleicht in die Politik zurückzukehren.
Erfahrungen in islamischen Ländern sammeln - darauf wollte Winfried Nachtwei bereits während seines Mandats nicht verzichten. Zwölf Mal bereiste der Sicherheitsexperte Afghanistan und bewies eine enorme Wandlungsfähigkeit: vom Friedensaktivisten zum Vorkämpfer von UN-Militäreinsätzen bei den Grünen.
Das haben Lothar Bisky und Bodo Ramelow in ihrer Partei (Die Linke) erst gar nicht versucht. Ihr Rückzug ist nur ein Umzug in andere Parlamente: Bisky zieht es ins Europaparlament nach Brüssel und Ramelow ins Landesparlament nach Erfurt. Eine erste Annäherung an Europa - gewissermaßen aus der Gegenrichtung - wird Parteichef Bisky schon vorher, am 26. August erleben. Dann trifft sich der 16. Bundestag zu seiner ersten von zwei Sondersitzungen, um die Mitspracherechte des Bundestages bei EU-Entscheidungen neu zu justieren.