Kommunalpolitik
Im ländlichen Raum haben kleine Parteien Konjunktur - mit heimatnahen Themen
Auf dem Land ticken die Wähler anders: Für die Wahlen in diesem und im kommenden Jahr haben sich zahlreiche neue Parteien in Dörfern und Kleinstädten gegründet. In jedem Bundesland schießen seit Monaten kleine Gruppierungen aus dem Boden. Dort, wo Wähler und Kandidaten sich noch persönlich kennen, haben charismatische Außenseiter eine größere Chance. "Oftmals kandidieren nun Personen, die etablierten Parteien den Rücken gekehrt haben und dann auf einem neuen Ticket viel bessere Chancen haben", sagt Holger Magel, Dekan des Lehrstuhls für Bodenordnung und Landentwicklung an der Technischen Universität München. Entscheidend sei, wie sehr die Partei mit den Bewohnern und der Stadt verwurzelt ist. "Ein bisschen Lokalpatriotismus braucht dort jeder", sagt er.
Das Konzept scheint zu funktionieren. Die Freien Wähler steigerten sich bei der Kommunalwahl im Juni in Thüringen um 4,4 Punkte auf 15,1 Prozent. Bei den Wahlen zu den 949 Gemeinderäten bauten sie ihre Rolle als stärkste politische Kraft sogar noch aus: Sie eroberten mit 44,2 Prozent knapp die Hälfte der Sitze. Das spornt Nachahmer an: "Wir werden alle 40 Wahlkreise in Schleswig-Holstein besetzen", sagt der Landesvorsitzende der Freien Wähler in Schleswig Holstein, Malte Tech. Er bekräftigt sein Ziel, bei der nächsten Landtagswahl zehn Prozent der Stimmen zu holen. "Das Klima für uns ist zurzeit gut", sagt Tech.
Für den Experten Magel muss ein Dorfbürgermeister grundsätzlich dasselbe leisten wie ein Rathauschef in München. "Aber die Themen unterscheiden sich doch erheblich", stellt er fest. Sorgen sich die Bürger in den großen Städten zum Beispiel um ihre Sicherheit, haben Menschen auf dem Land ganz andere Probleme. "Dort ist entscheidend: Bleibt der Supermarkt erhalten, werden wir auch das schnelle Breitbandinternet bekommen, wo ist die nächste Apotheke?"
Die besonders drastische demografische Entwicklung auf dem Land führe zu besonderen Wahlkämpfen: Weil dort relativ viele Senioren wohnen, richte sich die Parteiwerbung häufig an den betagten Wählern aus. "Die Gefahr besteht, dass vor dieser Generation zu viel gebuckelt wird", sagt Magel. Dabei müssten die Dörfer auch versuchen, junge Familien anzulocken, um ihr Überleben zu sichern.
Auf dem Land spielen bundespolitische Themen wie zum Beispiel die Mehrwertsteuer eine noch geringere Rolle als in Metropolen. Die Freien Wählergemeinschaften kümmern sich zum Beispiel um den Erhalt der Schule, um die Ortsumgehung und einen neuen Supermarkt. Im lippischen Lemgo hat die Wählergemeinschaft "Bürger für Lemgo" (BfL) kurz nach ihrer Gründung 20 Kandidaten für alle Stadtteile aufstellen können. Sie wirbt mit kleinen Projekten: So soll der Marktplatz neu gepflastert werden, zusätzliche Parkplätze sollen entstehen. Die Politik des bisherigen schwarz-grünen Stadtrates geißelt sie als "bürgerfern". "Wir brauchen Sachverstand statt Parteibuch", fordert der Bürgermeisterkandidat von BfL, Wolfgang Sieweke. Der 58-jährige Lehrer sagt, er habe aus Frust über den Klüngel bei den etablierten Parteien seine eigene gegründet. Und Sieweke ist längst kein Einzelfall mehr. Wenn am 30. August in Nordrhein-Westfalen gewählt wird, treten dort rund 300 Wählergemeinschaften an, die sich aus Bürgerinitiativen oder privaten Gruppen gebildet haben.
Inzwischen haben sich die Gemeinschaften auch in Köln, Essen, Bielefeld und Münster gegründet. "Allerdings sind wir in den ländlichen Bereichen wesentlich stärker und erfolgreicher", sagt der Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Landesverbandes der Freien Wähler, Harald Heck. "Auf dem Land haben unsere Leute eine viel bessere Bühne", erläutert er. Wenn dort eine rostige Laterne störe, könne das sofort erledigt werden. In der Großstadt dauere so etwas ewig.
Auch Forscher Magel glaubt: "Auf die große Berliner Politikbühne lassen sich diese heimatnahen Wählergemeinschaften kaum übertragen. Vor Ort sind sie gut - aber wenn sie sich so große Apparate aufbauen wie die etablierten Parteien, geht ihr Alleinstellungsmerkmal verloren." Deshalb ist er auch skeptisch, ob die Freien Wähler in Bayern tatsächlich den Sprung in den bundesweiten Wahlkampf wagen sollten. Die Partei wird zwar nicht an der Bundestagswahl im September teilnehmen. Eine Kandidatur für die Wahl 2013 schließt der Bundesvorsitzende Armin Grein aber nicht aus. Dabei haben die 1,7 Prozent bei der Europawahl gezeigt, dass die Freien Wähler bislang nur auf dem Land erfolgreich sind.
Das Land wählt aber nach wie vor konservativer als die durchschnittlich jüngere Stadtbevölkerung. Diese Tendenz spiegeln auch die Freien Wähler wieder: Sie sind eher in der bürgerlichen Mitte anzusiedeln. In NRW existieren bislang zwei Fraktionsgemeinschaften mit der FDP und einige lose Verbindungen mit der CDU, sehr selten nur mit der SPD. "Wir werden uns vor der Kommunalwahl am 30. August nicht festlegen", sagt der NRW-Vorsitzende Heck.
Auf dem Land sind die Kandidaten auch unberechenbarer als in Metropolen, wo sie erst nach jahrelanger Parteiarbeit aufgestellt werden. Der Bundesverband der Freien Wähler hat erst in diesem Frühjahr zwei Landesverbände wegen Anzeichen für eine rechte Unterwanderung ausschließen müssen, auch in Bonn wurden Wählergemeinschaften als rechtspopulistisch entlarvt und dann ausgestoßen. Auch hier ist der Prozess kürzer als bei den großen Parteiapparaten in der Stadt. Auf dem Land können die Bürger ihren Gewählten viel genauer auf die Finger schauen. Und so lobt der Münchener Magel: "Die viel geforderte Transparenz ist im Dorf am höchsten."
Die Autorin ist freie
Journalistin in Bochum.