VON KATA KOTTRA
Wenn wir ans Mittelmeer fahren, wollen wir den Alltag hinter uns lassen. Wir denken an Sonne, Strand und Urlaub; wir sehnen uns nach einer entspannteren Lebensart, die uns an verregneten, hektischen Tagen so verlockend scheint. Länder wie Italien und Spanien zählen seit Jahrzehnten zu den liebsten Urlaubszielen der Deutschen. Die Menschen, die von den südlichen und östlichen Ufern des Mittelmeers aufbrechen, um nach Europa gelangen, haben andere Sehnsüchte. Sie hoffen, am nördlichen Ufer Arbeit zu finden, Sicherheit und vielleicht sogar Wohlstand. Dafür nehmen jedes Jahr Hunderte das Risiko einer Überfahrt in überfüllten Booten auf sich. Was alle eint: Die großen Erwartungen, mit denen sie zu den Küsten des Mittelmeers aufbrechen.
Das größte Binnenmeer der Erde, das sich über mehr als 2,5 Millionen Quadratkilometer erstreckt, prägt das Leben der Bewohner seiner Küsten und Inseln seit Jahrtausenden. Die drei monotheistischen Weltreligionen sind im Umkreis des Mittelmeers entstanden, Zivilisationen und Nationen trafen hier aufeinander. "Im Mittelmeerraum reisen heißt, auf die römische Welt im Libanon treffen, auf eine prähistorische in Sardinien, auf griechische Städte in Sizilien, auf Spuren arabischer Anwesenheit in Spanien, solche des türkischen Islam in Jugoslawien", schrieb der französische Historiker Fernand Braudel in den 1980er Jahren. Am Beispiel des Mittelmeers entwickelte er sein Modell der "longue durée", der Betrachtung langer Zeitabschnitte.
Das heißt aber nicht, dass hier die Zeit stillsteht: Vieles verändert sich, und der Mittelmeerraum steht in den nächsten Jahren vor großen Herausforderungen. Umweltschützer sprechen von einem der bedrohtesten Ökosysteme der Erde. Die Überfischung macht nicht nur dem Thunfisch, sondern auch Delfinen und Haien zu schaffen. Wie eine gemeinsame Zukunft von Fischern und Fischen aussehen könnte, erklärt in dieser Ausgabe der EU-Kommissar für Fischerei, Joe Borg. Der Meeresbiologe Robert Hofrichter beschreibt, wie er den Zustand der Tier- und Pflanzenwelt bei seinen Tauchexkursionen erlebt.
Dass Probleme wie Überfischung, Umweltverschmutzung und die Flüchtlingsproblematik sich von keinem Land alleine lösen lassen, wird immer deutlicher. Die Mittelmeerunion, die Mitte Juli ihren ersten Geburtstag in gedämpfter Stimmung feierte, stellt einen Versuch dar, die Schwierigkeiten gemeinsam anzugehen. Doch solange der Nahost-Konflikt die Region prägt, bleibt die Zusammenarbeit beschwerlich. Es gibt aber auch Beispiele dafür, wie Kooperation ganz pragmatisch funktionieren kann: In Kuraymat in der ägyptischen Wüste bauen deutsche und lokale Firmen das erste Solarkraftwerk des Landes. Wer dort arbeitet, ist nicht von abstrakten Idealen, sondern der Sehnsucht nach verlässlicher Energie, Wohlstand und einer intakten Umwelt motiviert. Manche Sehnsüchte teilen die Menschen südlich, östlich und nördlich des Mittelmeers eben doch.