Geschichte
Der westdeutsche Traum von Gerechtigkeit: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft wurde nie Realität
Jede große Geschichte beginnt mit einer großen Zeit. Für die einen ist sie das Paradies, für die anderen Arkadien. Für die Deutschen ist es das Wirtschaftswunder. In ihm kristallisiert sich die Urgeschichte der Republik - die Zeit der großen ökonomischen Wachstumsraten; die Ära des Aufstiegs zur Wirtschaftsmacht. Bald schon, da sollte das junge Westdeutschland zu den größten Industriestaaten der Erde zählen. Kurz: In der Erzählung vom großen Wirtschaftswunder verbirgt sich der Mythos von einem Phönix aus der Asche. Ein Land, das eben noch am Boden lag, sollte plötzlich wieder auferstehen. Wenn Westdeutsche melancholisch werden, dann denken sie an diese Zeit: Die Phase zwischen VW-Käfer und erstem Mittelklassewagen, zwischen Rhein-Tour und der ersten Fahrt ans Mittelmeer, zwischen Mietwohnung und dem Traum vom Häuschen in Mittelklasselage. Denn Mitte war das neue Ziel. Das Land der Extreme - der Ideologien, der Weltkriege und der totalen Vernichtung - , es wollte endlich nur das sein, was es scheinbar immer gewesen war: Ein normaler Landstrich mitten in Mitteleuropa. Diese Zeit, sie war so, wie es Jochen Schimmang jüngst im Titel seines aktuellen Romans beschrieben hat. Sie war: Das Beste, was wir hatten.
Wenn es einen Denker gab, der das Eigentümliche jener Jahre in treffende Worte gefasst hat, dann war es der aus Chemnitz stammende Soziologe Helmut Schelsky. Sein Terminus von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" wurde zum Longseller. Zuweilen spukt er gar noch heute als zeitdiagnostische Vokabel durch die Öffentlichkeit. Für die einen drückt sich in dem erstmals Mitte der 1950-er Jahre auftauchenden Begriffspaar das irdisch gewordene Kleinbürger-Paradies aus, während es für andere nur die Beschreibung einer unerträglichen Spießer-Hölle ist. Wie immer man sich zu Schelskys Beschreibungsmodell einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" auch verhalten mag - es bildete lange Jahre den perfekten Subtext für jenes ökonomische und soziale Wunder, das sich damals vor aller Augen zu ereignen schien.
Es war phänomenal: Eine erstaunliche Beschleunigung des Wirtschaftswachstums paarte sich seit Beginn der 1950-er Jahre mit einem nie da gewesenem gesellschaftlichen Reichtum. Während in den Jahren von 1913 bis 1950 das jährliche Wirtschaftswachstum in Deutschland nur durchschnittlich 0,4 Prozent pro Kopf betragen hatte, stieg es in den 1950-er Jahren plötzlich auf 6,5 Prozent an. An die Stelle des lange Jahre üblichen Protektionismus trat eine Liberalisierung des Handels. Regierungen gaben erstmals nicht mehr weniger, sondern mehr Geld aus. Allerorten wurde in Infrastruktur und Maschinen investiert. Und das Beste: Jeder schien an dem plötzlich ausbrechenden neuen Wohlstand partizipieren zu können. "Die Menschen, die weniger als zehn Jahre zuvor verunsichert aus den Trümmern gestolpert waren", schreibt Tony Judt in seiner Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, "betraten nun, staunend und auch ein wenig verwirrt, das Zeitalter des Wohlstands".
Besonders auf Seiten der politischen Linken rieb man sich verdutzt die Augen. Der einst von Marx prognostizierte Klassenkampf schien zumindest für die westdeutsche Gesellschaft abgeblasen zu sein. Soziale Konflikte wurden hier nicht mehr auf der Straße, sondern institutionalisiert über Interessensvertretungen wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ausgetragen. Während sich die Unternehmen auf die maßvollen Lohnforderungen der Beschäftigten verlassen konnten, wurden diese wiederum mit sicheren Arbeitsplätzen, einer geringen Inflation und umfassenden betrieblichen und staatlichen Sozialleistungen entschädigt. "Wohlstand für alle", jenes große Versprechen Ludwig Erhards, schien in greifbare Nähe gerückt zu sein.
Inmitten diese soziokulturelle Großwetterlage hinein hat Helmut Schelsky seinen Theorieballon aufsteigen lassen. Die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", sie war für den namhaften Soziologen die perfekte Antwort auf die angeblich "klassenlose Gesellschaft" der jungen DDR. Oder, wie es Schelskys Kollege Jürgen Ritsert später einmal mit unüberhörbarer Ironie formulieren sollte: Die Theorie von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" war "der Versuch, die Klasse über Theorie zum Verschwinden zu bringen". Für Schelsky jedenfalls war die Sache klar: "Die dualistische Klassenspannung von Bourgeoisie und Proletariat", so meinte er erstmals in seinem 1953 erschienenen Buch Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, "bedeutete nicht mehr länger die dominante Struktur der Gesellschaft." Eine der Neuerungen war für Schelsky die soziale Auf- und Abstiegsbewegung während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In dieser seien Industriearbeiter und Verwaltungsangestellte sozial nach oben geklettert, während Besitz- und Bildungsbürger durch Vertreibung oder Enteignung die soziale Leiter nach unten gerutscht seien. Dieser Prozess habe laut Schelsky nicht nur zu einer historisch einmaligen Neuausrichtung der alten Klassenordnung geführt, er habe eine Dynamik in Gang gesetzt, die als "soziale Entschichtung" beschrieben werden könne. Proleten oder Malocher, sie suchte man nun meist vergebens. Jeder zählte sich fortan zur neuen Mitte. Oder, um es mit Schelskys eigenen Worten zu sagen: Die neue Mobilität der Klassen hat "zu einem relativen Abbau der Klassengegensätze, einer Entdifferenzierung der alten, noch ständisch geprägten Berufsgruppen und damit zu einer sozialen Nivellierung in einer verhältnismäßig einheitlichen Gesellschaftsschicht, die ebensowenig proletarisch wie bürgerlich ist", geführt.
Doch etwas Weiteres kam noch hinzu. Etwas, was sich als Aufstieg der Konsum- und Massenkultur beschreiben lässt. Ein Phänomen, das einst beim kostengünstigen Nierentisch aus Furnier begann, und das später im konformierten Wohnstil skandinavischer Bauart gipfeln sollte - in der flächendeckenden Durchdringung mit Billy, Malm und Beddinge. Für Schelsky sollte dieser neue Konsumstil Anzeichen einer sozialen Homogenisierung werden. Die Angleichung der wirtschaftlichen wie politischen Verhältnisse habe seiner Meinung nach die Milieus aber auch die Konsum- und Verhaltensformen angepasst. So begann der Siegeszug der "kleinbürgerlich-mittelständischen Verhältnisse". HB-Männchen und "kleiner Mann", sie wurden die Zentralfiguren in diesem neuen deutschen Aufstiegsmythos.
Hatte Schelsky also recht? War die bundesdeutsche Gesellschaft damals auf dem besten Weg, die alte und immer wieder bedrohlich erscheinende Klassenfrage mittels Nivellierung hinter sich zu lassen? So attraktiv dieser Gedanke auch gewesen sein mochte, spätestens als in den 1970-er Jahren die gigantischen Wachstumsraten einzubrechen begannen und Ölkrise und Rezession zu erster Massenarbeitslosigkeit führten, mussten die Anhänger der Theorie von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" einräumen, dass diese eher Wunschtraum war. Dabei fanden sich erste Kritiker bereits sehr früh. Der Soziologe Ralf Dahrendorf etwa hielt Schelskys Vorstellung von einer Erosion der Klassen bereits 1957 für kritikwürdig. In seinem Standardwerk Soziale Klassen und Klassenkonflikte in der industriellen Gesellschaft grenzte er sich scharf von seinem Wissenschaftskollegen ab. Eine Gesellschaft, in der zu jener Zeit allenfalls jedes zehnte Arbeiterkind eine Aufstiegschance hatte, konnte für Dahrendorf nicht als sozial durchlässig beschrieben werden. Er sah in der These von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" vielmehr die Gefahr einer Zementierung von Herrschaftsverhältnissen. Für einen notwendigen Aufbruch jedenfalls fehlte ihr die Energie.
Heute, ein halbes Jahrhundert später, scheint die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" so entschwunden zu sein wie Goggomobil und Toast Hawaii. Und doch: Im kollektiven Unterbewusstsein lebt Schelsky weiter. Als im Oktober des Jahres 2006 eine Debatte um "neue Unterschichten" entbrannte, parierte der damalige Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) die Auseinandersetzung mit folgenden Worten: "Es gibt keine Schichten in Deutschland. Es gibt Menschen, die es schwer haben, die schwächer sind. Das ist nicht neu." Viele konnten dem einstigen Miterfinder der sogenannten "Neuen Mitte" bei diesem Statement inhaltlich nicht folgen. Alle Erhebungen und Zahlen schienen für eine Rückkehr der alten Klassenfrage zu sprechen. Doch der Traum vom Ende der vertikalen Gesellschaftsschichtung, er hat eben auch im 21. Jahrhundert nicht an Strahlkraft verloren. Ralf Hanselle