Arbeitswelt
Interview mit Johannes Giesecke vom WZB
Herr Giesecke, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit sozialer Ungleichheit und deren Folgen. Welche Veränderungen konnten sie in den vergangenen Jahren bemerken?
Seit Mitte der 1990-er Jahre hat die Ungleichheit in Deutschland auf mehreren Ebenen massiv zugenommen. Ein Beispiel: Während die Arbeitslöhne der oberen und mittleren Einkommensgruppen leicht gestiegen sind, mussten die unteren Lohngruppen nach Berücksichtigung der Inflation sogar Abschläge verzeichnen. Das bedeutet, dass die Lohnungleichheit steigt: So betrug der relative Abstand zwischen dem obersten und dem untersten Zehntel 1998 ungefähr 150 Prozent, im Jahr 2006 waren es schon 170 Prozent. Gleichzeitig stiegen übrigens in diesem Zeitraum die Unternehmensgewinne deutlich.
Solche Unterschiede sind nicht gleichzusetzen mit sozialer Ungleichheit.
Das ist der Punkt. Unterschiede in Verteilungen vor- oder nachteiliger Lebensbedingungen müssen per se erstmal nicht als soziale Ungleichheit definiert werden. Einkommen können auch völlig zufällig verteilt sein, nicht nach Alter, nicht nach Bildung, nicht nach Geschlecht. Dann hätten wir Unterschiede, die aber nicht sozial strukturiert sind. Das Entscheidende ist die soziale Strukturiertheit von Ungleichheit. Das heißt: Haben wir ganz bestimmte Gruppen, die strukturell benachteiligt sind und wegen dieser Benachteiligung geringere Einkommen haben?
Nun sollten gerade die Hartz-Arbeitsmartreformen den Zugang zum Arbeitsmarkt und damit zu sozialer Teilhabe erleichtern.
Das ist nur teilweise gelungen. Problemgruppen sind immer noch Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose, also eigentliche jene, die auch vorher schon die Problemgruppen waren. An denen scheinen die Reformen relativ vorbeigegangen zu sein, was ihre Eingliederungschancen in den Arbeitsmarkt betrifft. Ein anderes Problem ist die Ausweitung des Niedriglohnbereichs durch schlecht bezahlte Teilzeitstellen und Minijobs. Dafür sind natürlich diese Reformen, die Minijobs ja erst geschaffen oder ausgeweitet haben, schon verantwortlich. Natürlich kann man einerseits sagen: Ein Minijob ist besser als keiner. Aber gleichzeitig zeigen Studien, dass viele dieser Stellen sich als Sackgasse erweisen, aus der man nicht mehr rauskommt.
Wie würden Sie eine sozial gerechte Gesellschaft definieren?
Das kommt sehr darauf an, welcher Ideologie man anhängt. Ob man eher die Chancengleichheit hoch hängt und dann sagt: Gut, das Ergebnis ist eben nicht immer gleich, aber dadurch, dass wir allen Menschen die gleichen Chancen gegeben haben, etwas aus ihrem Leben zu machen, ist das in Ordnung. Und natürlich sollte diese Chancengleichheit für alle gewahrt sein.
Aber gleichzeitig muss es eine gewisse Eingrenzung von Ungleichheit auf der Ergebnisseite geben. Das bedeutet, auch das Bedarfsprinzip anzuerkennen. Bestimmte Menschen können eben nicht in vollem Umfang produktiv sein: Behinderte, Alte, Alleinerziehende zum Beispiel. Und auch diese Menschen brauchen die Chance, wieder integriert und ausreichend entlohnt zu werden. Das wird zu wenig bedacht, wenn man nur auf die Chancengerechtigkeit setzt.
Ein Drittel der deutschen Staatsausgaben entfällt auf Sozialleistungen. Was sagt diese Summe über "soziale Gerechtigkeit" tatsächlich aus?
Die Summe kann verschiedene Dinge anzeigen. Sie kann zeigen: Ja, es wird überhaupt etwas gemacht. Gleichzeitig verraten diese Zahlen aber auch, dass es irgendwo ein Problem gibt und man darüber nachdenken sollte, wie man es schafft, diese Umverteilung gar nicht mehr in dem Umfang nötig zu haben. Welcher Staat gibt schon gerne ein Drittel seiner verfügbaren Einnahmen für Sozialleistungen aus?
Durch die Hartz-Reformen gibt es eine ständige Debatte darüber, was zu einem menschenwürdigen Dasein nötig ist.
Das ist sehr schwer zu definieren. Natürlich muss auch ein Hartz-IV-Empfänger nicht verhungern. Aber hier geht es auch um die Chance, teilzuhaben am gesellschaftlichen Leben. Wirtschaftsinstitute setzen Erfolg immer mit Arbeit gleich. Ob diese Person in irgendeiner Weise mit der Arbeit zufrieden ist, ob diese Arbeit also auch eine gesellschaftliche und soziale Komponente von Teilhabe ermöglicht, bleibt meist außen vor. Aber das ist auch eine Frage von Gerechtigkeit: Reicht es aus, Menschen in Arbeit zu bringen? Was ist das für eine Arbeit, welche Qualität hat sie? Das wird eines der zentralen Themen der Zukunft sein, mit dem sich die Politik auseinandersetzen muss. Denn der letzte Wirtschaftsaufschwung hat sich nicht bei unbefristeter Vollzeitbeschäftigung niedergeschlagen, sondern bei Leiharbeit und geringfügiger Beschäftigung. Auch solche Stellen können Türöffner sein. Aber alles, was wir bisher aus Untersuchungen kennen, deutet darauf hin, dass es dem größten Teil dieser Beschäftigten nicht gelingt, in ein normales Arbeitsverhältnis zu wechseln.
Das Interview führte Claudia Heine.
Dr. Johannes Giesecke ist Mitarbeiter des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozial- forschung (WZB). Seine Forschungsschwerpunkte sind Arbeitsmarktsoziologie, soziale Ungleichheit und Methoden der empirischen Sozialforschung.