GRUNDLAGEN
Das deutsche Wahlsystem weist einige Besonderheiten auf - und ist permanent im Wandel
Allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim": Nach diesen Grundsätzen wird der Bundestag in der Bundesrepublik gewählt, am 27. September bereits zum 17. Mal. Die Prinzipien klingen selbstverständlich und gelten bei den meisten demokratischen Wahlen weltweit. Allerdings mit Ausnahmen: Der Präsident der Vereinigten Staaten wird beispielsweise nicht unmittelbar, sondern von einem Wahlmänner-Kollegium gewählt. Die Wähler entscheiden mit ihren Stimmen über deren Zusammensetzung.
Das deutsche Wahlsystem unterscheidet sich aber nicht nur vom amerikanischen, sondern auch von vielen europäischen Wahlsystemen. Die wichtigste Differenz: In der Bundesrepublik wird nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, während andere Länder die reine Mehrheitswahl vorziehen.
Groß-britannien gilt als ältestes und Musterbeispiel für die Mehrheitswahl. Das Land ist in 646 Wahlkreise eingeteilt, in denen jeweils mehrere Kandidaten für den Einzug in das britische Parlament kämpfen. Wer die meisten Stimmen erhält, gewinnt den Wahlkreis. Wer einen anderen Kandidaten gewählt hat, dessen Stimme wird nicht berücksichtigt. Als Vorteil der Mehrheitswahl gilt, dass sie meistens für klare Mehrheiten sorgt - allerdings begünstigt sie große Parteien. In der Bundesrepublik Deutschland wurde nach 1948 das Verhältniswahlrecht eingeführt, das auch schon in der Weimarer Republik gegolten hatte. In Deutschland gibt es 299 Wahlkreise, in denen Kandidaten direkt um den Einzug in den Bundestag kämpfen. Sie werden mit der Erststimme gewählt. Wichtiger ist jedoch die Zweitstimme. Sie entscheidet, welchen Anteil der Parlamentssitze die Parteien erhalten. Deshalb sind im Deutschen Bundestag auch Parteien vertreten, die nur in wenigen oder keinem Wahlkreis die meisten Stimmen auf sich vereinigen können. Weil das Wahlsystem in Deutschland die Verhältniswahl mit Elementen der Mehrheitswahl in den einzelnen Wahlkreisen verbindet, bezeichnet man es als "personalisierte Verhältniswahl".
Als Vorteil der Verhältniswahl gilt, dass mehr Wählergruppen im Parlament repräsentiert werden. Auch neue Parteien können sich in diesem Wahlsystem leichter durchsetzen als bei der Mehrheitswahl. Als Nachteil gilt, dass sie nicht immer zu klaren Mehrheiten führt und somit die Bildung einer Regierung erschweren kann. Daraus folgt - ein weiterer Kritikpunkt -, dass der Bürger eine Partei wählt, aber vor der Wahl nicht sicher sein kann, welche Koalition diese Partei nach der Wahl eingehen wird, um eine Mehrheit erlangen.
Obwohl die Einführung der Mehrheitswahl wegen ihrer möglichen Vorteile in Deutschland immer wieder diskutiert wird, stand die Einführung nie bevor. Die Verhältniswahl ist eine Konstante des deutschen Wahlsystems, genauso wie die Fünf-Prozent-Hürde (siehe Glossar).
Andere Bestandteile des Wahlsystems verändern sich immer wieder. So die Wahlkreise: Nach der Gründung der Bundesrepublik gab es zunächst 242, ihre Zahl stieg nach 1961 auf 248 und nach der Einheit sogar auf 328. Vor sieben Jahren wurde ihre Zahl auf 299 reduziert. Ein Wahlkreise darf nicht mehr als ein Viertel größer oder kleiner sein als der Durchschnitt. Deshalb "wandern" auch Wahlkreise, indem sie die Zu- und Abwanderung der Wähler in verschiedenen Regionen nachvollziehen. Niedersachsen und Baden-Württemberg werden bei der kommenden Abstimmung einen Wahlkreis mehr haben, Sachsen und Sachsen-Anhalt einen weniger.
Auch bei der Umrechnungsmethode von Zweitstimmen in Mandate gibt es dieses Jahr eine Neuerung: Erstmals wird bei Bundestagswahlen das sogenannte Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren angewandt. Benannt ist es nach dem französischen Mathematikprofessor Jean-André Sainte-Laguë und dem Physiker Hans Schepers. Es löst das Hare/Niemeyer-Verfahren ab, das der Engländer Thomas Hare im 19. Jahrhundert erfand. Der deutsche Mathematiker Horst Niemeyer brachte es Jahrzehnte später wieder in Erinnerung. Das Verfahren hat jedoch den Nachteil, dass es kleinere Parteien in bestimmten Fällen benachteiligt. Schepers entwickelte deshalb als Leiter der Gruppe "Datenverarbeitung" im Bundestag eine Methode, die unabhängig von ihm bereits der Franzose Sainte-Laguë 1912 vorgeschlagen hatte. Sie steht für eine gerechtere Verteilung der Mandate.
Bei der Besetzung der Ausschüsse im Bundestag wird bespielsweise die Sainte-Laguë-Schepers-Methode schon seit 1976 angewandt. Der Grund: Wenn nur wenige Sitze zu vergeben sind, ist mit diesem Verfahren eine gerechtere Sichtzverteilung möglich.
Während die Wahl der Berechnungsmethode vor allem Mathematiker beschäftigt, diskutierten nach der Bundestagswahl 2005 viele über das Phänomen des "negativen Stimmgewichts".
Als Folge des deutschen Wahlrechts können nämlich Konstellationen eintreten, in denen mehr Stimmen zu weniger Mandaten für eine Partei führen. Besonders deutlich wurde dieser Effekt bei Nachwahlen in Dresden im Oktober 2005: Hätten viele Wähler der CDU in diesem Wahlkreis die Zweitstimme gegeben, hätte die sächsische CDU einen zusätzlichen Platz gewonnen. Der aber wäre in einem anderen Bundesland abgezogen worden. Bei weniger Zweit- und vielen Erststimmen konnte die Partei jedoch ein zusätzliches Überhangmandat für Sachsen gewinnen. Mehr Mandate für weniger Stimmen? Im Juli 2008 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts "die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl" verletzt. Der Wähler könne nicht immer erkennen, ob seine Stimme der von ihm unterstützten Partei nutze oder schade. Wegen der Komplexität des Themas hat der Bundestag allerdings bis zum 30. Juni 2011 Zeit, eine neue Regelung zu finden. Am 27. September wird deshalb noch nach bestehendem Recht gewählt.