Wendejahr 1989
Der Anfang vom Ende der Sowjetunion
Die Bedeutung des Umbruchjahrs 1989 ist bekannt: Der "runde Tisch" in Polen bereitete den friedlichen Systemwechsel vor. Ungarn forderte den Abzug der sowjetischen Truppen und öffnete für DDR-Flüchtlinge die Grenze in die Freiheit. Im Zuge der "samtenen Revolution" wurde der ehemalige politische Gefangene Václav Havel zum Präsidenten der Tschechoslowakei gewählt. Die Berliner Mauer fiel im November und am 25. Dezember wurde Nicolae Ceausescu, der berüchtigte "Rote Zar" Rumäniens, nach einem kurzen Prozess hingerichtet. Kurz: Das Jahr 1989 steht für die erfolgreiche Hinwendung der Völker des ehemals kommunistischen Ostblocks zur Demokratie.
Helmut Altrichter, Inhaber des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg, möchte seine Leser informieren, was in der Sowjetunion 1989 vor sich ging. Dabei fällt zunächst auf, dass der Titel des Buches "Russland 1989" falsch gewählt wurde. Denn im Buch geht es weder um Russland noch um die Russländische Föderation (RF), sondern nur um die Sowjetunion. Zwar erwähnt der Autor die politische Entwicklung in der RF und den Lebenslauf des späteren Präsidenten Boris Jelzin. Dabei handelt es sich aber nicht um die zentralen Passagen des Buches, in dessen Mittelpunkt die Perestroika-Politik Michail Gorbatschows und der innenpolitische Umbruch stehen. Zudem geht es hier nicht nur um Russen, sondern auch um Abchasen, Georgier, Litauer, Armenier sowie um die Volksfront-Bewegungen im Baltikum.
Gut recherchiert hat der Osteuropa-Geschichtswissenschaftler die Bedeutung der Perestroika im Zuge der Legitimationskrise der SED und bei den emanzipatorischen Prozessen in den osteuropäischen Ländern. Umgekehrt wäre es auch interessant gewesen zu erfahren, welche Auswirkungen die Entwicklung 1989 in Osteuropa auf die sowjetische Gesellschaft und auf die Entscheidungen der sowjetischen Führung hatte. Plante das Politbüro tatsächlich die Einführung einer Demokratie? Oder sollte das kommunistische System nur modernisiert werden? Darüber verrät der Autor dem Leser nichts.
Altrichter konzentriert sich auf die detaillierte Beschreibung der politischen Ereignisse. Dabei referiert er die langatmigen Reden Gorbatschows und anderer politischer Akteure. Außerdem fasst er den Inhalt der wichtigeren Dokumente des Volkskongresses und der KPdSU zusammen. Was fehlt, ist eine ordnende Analyse und Bewertung des Präsentierten. Der Laie verliert in Anbetracht der Fülle der Materialien schnell den Überblick. Dabei wäre es gerade interessant, die Einschätzung eines Spezialisten über die Lage in der Sowjetunion zwei Jahre vor ihrem Untergang zu erfahren, zumal Gorbatschows Interpretation der Ereignisse subjektiv gefärbt ist.
Auch erfährt der Leser nicht, warum sich das Politbüro der KPdSU überhaupt für den Perestroika-Kurs entschieden hatte. Was waren die wahren Gründen Gorbatschows für eine "werteorientierte Politik"? Warum unterbreitete er den USA seine Friedensangebote, die mit ihren Forderungen nach nuklearer Abrüstung den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan verunsicherten? Wieder fehlt eine klare Einordnung und Bewertung Altrichters. Es scheint, als wolle er der Ikone Gorbatschow nicht zu nahe treten.
Immerhin ist es dem Autor gelungen, die Herausforderungen zu beschreiben, denen sich die Sowjetbürger vor mehr als 20 Jahren gegenübersahen: Angefangen von Alltagsproblemen, wie dem Mangel an Fleisch oder Zucker bis zur neuen Geschichtsschreibung über lange verschwiegene historische Tatsachen wie das geheime Zusatzprotokolls zum sowjetisch-deutschen Nichtangriffspakt vom August 1939. Daneben analysiert Altrichter die wichtigen publizistischen Veröffentlichungen von 1989, die den "leninistischen Kurs" der Perestroika torpedierten. Erinnert sei hier nur an den Aufsatz des Philosophen Alexander Zypko, der Josef Stalin als konsequenten und treuen Schüler Lenins darstellte. Auch die Nationalitätenkonflikte im Transkaukasus und in Zentralasien finden Erwähnung, die Gorbatschows Position in den Verhandlungen mit den USA weiter schwächten.
Den Leser würde auch interessieren, dass bei der blutigen Niederschlagung der friedlichen Demonstration in Tiflis am 9. April 1989 der örtliche Befehlshaber General Igor Rodionow später unter Präsident Boris Jelzin zum Verteidigungsminister aufstieg. Oder dass der direkte Vollstrecker des Befehls, der Afghanistan-Veteran Oberst Alexander Lebed, für das Präsidentenamt kandidieren und mit dem Hessischen Friedenspreis (1998) ausgezeichnet werden sollte. Schließlich wurden in Tiflis damals 20 Demonstranten getötet. Gorbatschow verharmloste dieses Verbrechen, wie auch die Pogrome an den christlichen Armeniern in Sumgait (Aserbaidschan) im Februar 1988. Seiner Meinung nach konnten im Sozialismus überhaupt keine Pogrome stattfinden. Dabei waren es die Bergarbeiterstreiks, die die Legitimität des "Arbeiter- und Bauernstaates" endgültig in Frage stellten.
Altrichter bringt dem Leser das Hauptereignis des Jahres 1989 nahe: den Volkskongress - im Sprachgebrauch der Sowjetbürger die "Gorby-Show". Wie Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow feststellte, machte dieser Kongress "jede Umkehr unmöglich. Nun wissen alle, dass es nur den Weg nach vorn oder den Untergang gibt." Die Erlaubnis Gorbatschows, aus den Kongress-Sitzungen live zu berichten, brachte den Menschen die Realität ungeschminkt ins Wohnzimmer. Die Delegierten redeten Klartext und kritisierten die Lebensmittelknappheit, die Umweltkatastrophen, die mangelhafte Infrastruktur und die Verbrechen des Regimes.
Ungeachtet all der beschriebenen Schwächen handelt es sich um ein empfehlenswertes Buch mit einer Fülle von Informationen.
Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums.
Verlag C.H. Beck, München 2009; 448 S., 26,90 ¤