ALEX BORAINE
Der südafrikanische Theologe fordert Wahrheit für Opfer von Menschenrechtsverbechen. Für ihn ist sie entscheidender als Sühne
Herr Boraine, Sie leiten das International Center for Transitional Justice (ICTJ) in New York. Was heißt eigentlich Transitional Justice?
Transitional Justice bedeutet, eine gerechte Gesellschaft in Krisengebieten aufzubauen. Leider klingt der Begriff sehr technisch. Vielleicht sollten wir uns umbenennen. Vielleicht wäre "Zentrum für Gerechtigkeit und Frieden" ein besserer Name.
Was genau macht Ihre Organisation?
Wir, die rund 130 Mitarbeiter des ICTJ, haben uns zur Aufgabe gemacht, Gesellschaften, die aus Diktatur oder Bürgerkrieg hervorgehen, bei der Bewältigung der Vergangenheit zu helfen. Wir setzen uns in mehr als 20 Ländern für die Verfolgung von Menschenrechtsverletzern, die Einrichtung von Wahrheitskommissionen, Verfassungsreformen und Reparationszahlungen an die Opfer ein.
Wie sieht die Hilfe konkret aus?
Wir sind Berater, keine Besatzer. Wir verfolgen keine Straftäter und erlassen keine Dekrete. Stattdessen arbeiten wir mit der Regierung oder der Uno zusammen, machen ihnen Vorschläge, die dann hoffentlich umgesetzt werden. Ein Beispiel: Ich habe auf dem Balkan mit Opfern, Politikern und Geistlichen gesprochen. Man merkt schnell, dass die Menschen ein großes Misstrauen gegen das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag haben, wo die Drahtzieher der Balkankriege angeklagt werden. Also habe ich Vorschläge für die Einrichtung einer regionalen Wahrheitskommission erarbeitet. Das ist es, was die Leute wollen: Eine Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in der eigenen Sprache und der eigenen Region.
Was ist daraus geworden?
Leider war die Initiative vergebens. Das Tribunal hat sie blockiert. Es fürchtete offenbar, Konkurrenz zu bekommen. Dabei wäre die Wahrheitskommission doch eine Ergänzung. Ich habe bewusst das Beispiel eines Misserfolgs gewählt. Man muss sich auf viele Rückschläge einstellen, wenn man sich für Gerechtigkeit einsetzt.
Niemand bezweifelt, dass Gerechtigkeit ein erstrebenswertes Ziel ist. Aber birgt Ihr Beharren auf der Aufarbeitung der Vergangenheit nicht die Gefahr, dass alte Wunden aufreißen und die Gewalt von neuem beginnt?
Ob in Serbien, Kolumbien oder Ruanda - wo auch immer wir als Berater aktiv sind, ist die Situation kompliziert und instabil. Das Alte ist noch nicht gestorben, das Neue noch nicht geboren. Natürlich sind die Risiken groß. Aber dauerhaften Frieden gibt es nur, wenn der Gerechtigkeit Genüge getan wird. In welcher Form und in welchen Umfang, das hängt von den Umständen in dem betreffenden Land ab. Natürlich unterscheidet sich Gerechtigkeit in Übergangsperioden von anderen Formen der Gerechtigkeit, etwa der Gerechtigkeit im Strafrecht.
Inwiefern? Was macht Transitional Justice besonders?
Unsere Sorge gilt nicht nur der Verurteilung der Täter, wir wollen eine gerechte Gesellschaft. Darum müssen wir uns stärker um die Opfer kümmern. Wenn die Wunden, die ein Konflikt oder eine Diktatur aufgerissen hat, verheilen sollen, müssen die Opfer Gelegenheit haben, über ihr Leid zu sprechen. Wahrheit ist entscheidend für eine gerechte Gesellschaft, entscheidender als Sühne. In Übergangsperioden ist es ohnehin nicht möglich, alle Verbrecher zu verurteilen. Es sind schlicht und einfach zu viele.
Das klingt nach selektiver Gerechtigkeit, nach Willkür.
Strafverfolgung nach Konflikten ist beliebig, sogar zufällig. Gerade daher brauchen wir neben den Gerichtsprozessen ja Wahrheitskommissionen, an denen die ganze Gesellschaft mitwirken soll. Es kann keine Menschenrechtskultur basierend auf Lügen und Halbwahrheiten entstehen.
Kann Wahrheit in den Augen der Opfer jemals ein angemessener Ersatz für Bestrafung sein?
Sehen sie, wir arbeiten in 23 Ländern. Wo immer ich hinkomme, höre ich Opfer sagen: "Ich bin bereit zu vergeben, aber ich muss wissen, wem ich vergeben soll und was ich vergeben soll."
Sie haben an der Seite von Bischof Desmond Tutu die Wahrheits- und Versöhnungskommission Südafrikas geleitet. Ist Südafrika das Modell, für das sie in anderen Staaten werben?
Ja und nein. Die Versöhnungskommission in meiner Heimat war die erste, die in der Öffentlichkeit stattfand. Daher gibt es heute kaum ein Land, das sich nicht auf die Erfahrungen von Südafrika bezieht. Aber jeder Staat ist unterschiedlich. Und wir haben viele Fehler begangen.
Was meinen Sie damit?
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin stolz auf das, was wir erreicht haben. Aber es gab Versäumnisse, andere Länder können daraus lernen. Wir haben es etwa nicht geschafft, die gesamte Militärführung vor die Kommission zu bringen. Es ist uns auch nicht gelungen, führende Politiker dazu zu bewegen, sich zu ihren Taten zu bekennen.
In Südafrika gab es lange Streit um Entschädigungen. Welche Rolle spielt Geld bei der Vergangenheitsbewältigung?
Worte sind nicht genug, um eine gerechte Gesellschaft aufzubauen. Wir brauchen auch Reparationen. Das kann Bargeld sein oder neue Schulen und Krankenhäuser für die bisher Benachteiligten. In Südafrika hat es die Regierung lange versäumt, den versprochenen Zahlungen nachzukommen. Die Opfer fühlten sich alleingelassen. Sie hatten sich geöffnet und mussten doch auf ihre Entschädigung warten.
Der Aufbau einer gerechten Gesellschaft in einem krisengeschüttelten Land erfordert eine gewaltige soziale Umwälzung. Wiedergutmachung und Vergangenheitsbewältigung allein dürften dafür kaum ausreichen.
Das stimmt. Darum müssen wir Reformvorschläge unterbreiten, die tief in das Gesellschaftsgefüge eingreifen. Es wäre naiv zu glauben, man bräuchte bloß eine Wahl und einen neuen Staatschef. Institutionen sind Machtinstrumente. Oft schließen sie bestimmte Gesellschaftsgruppen aus oder werden zur Unterdrückung genutzt. Denken sie an das Schulsystem, das Minderheiten benachteiligt, oder die Polizei, die korrupt ist, und das Militär, das vielleicht Todesschwadronen ausgesandt hat.
Ihre Zentrale befindet sich in New York, viele ihrer Experten sind Europäer und Amerikaner. Wie vermeiden sie, dass Sie in Afrika, Lateinamerika oder Asien als Propagandisten des Westens wahrgenommen werden?
Wir reisen nicht einfach in ein Land und sagen was zu tun ist. Wir kommen, wenn wir darum gebeten werden, entweder von der dortigen Regierung oder der Uno. Und wenn es schon andere Organisationen gibt, die eine ähnliche Arbeit machen, dann unterstützen wir sie nur und bleiben im Hintergrund. Außerdem schrecken wir auch nicht vor Kritik an westlichen Staaten zurück. Wir fordern ganz klar: Die Verbrechen der Bush-Regierung müssen aufgearbeitet werden.
Was wollen Sie tun?
Die USA brauchen eine Wahrheitskommission. Wir fordern das ganz offen und haben dafür bereits eine eigene Abteilung gegründet. Das Erschreckende ist, dass große Teile der amerikanischen Gesellschaft Folter für angemessen halten. Umso wichtiger ist es, dass Bush und seine Gefolgsleute Rechenschaft ablegen - übrigens auch über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg im Irak. Leider schreckt Präsident Obama aus politischen Gründen davor zurück, die alte Regierung zur Verantwortung zu ziehen. Justizminister Eric Holder hat zwar Ermittlungen aufgenommen. Aber diese dürften höchstens auf die Maßregelung einiger Agenten hinauslaufen.
Das Interview führte Moritz Koch,
Korrespondent der
"Süddeutschen Zeitung" in New York