Deutschland beteiligt sich mit bis zu 4500 Soldatinnen und Soldaten am Einsatz in Afghanistan (International Security Assistance Force/ISAF). Die Staats- und Regierungschefs haben den ISAF-Einsatz beim NATO-Gipfel in Straßburg/Kehl als "zentrale Priorität" bezeichnet. Die afghanische Regierung soll dabei unterstützt werden, ein sicheres, stabiles und demokratisches Land aufzubauen. 1 Entsprechend wurde im Afghanistan-Konzept der Bundesregierung argumentiert, der Aufbauprozess könne nur gelingen, wenn in einem umfassenden, vernetzten Ansatz zivile und militärische Maßnahmen abgestimmt werden. 2
Das Prinzip vernetzter Sicherheit spiegelt sich in der ressortübergreifenden Arbeit deutscher Wiederaufbauteams wider. Weitere Berührungspunkte zu den Streitkräften bestehen seitens staatlicher und nichtstaatlicher Hilfsorganisationen etwa bei der Nutzung militärischer Infrastruktur und Transportkapazitäten für Notstandshilfe, beim militärischen Schutz für Konvois, beim Personal und der Verteilung von Hilfsgütern sowie beim Informationsaustausch. Allerdings werden die Beiträge der Bundeswehr von manchen Hilfsorganisationen kritisiert, die darin eine problematische Verknüpfung erkennen - weil die Konditionalität der militärischen Hilfe im Gegensatz zum humanitären Gedanken stehe oder weil sie eine militärische Landnahme angestammter Ressourcen und Tätigkeitsfelder befürchten.
Ziel des Konzepts zivil-militärischer Zusammenarbeit (Civil-Military Co-operation/CIMIC) ist es, die Erfüllung des militärischen Auftrags zu unterstützen. Idealiter ist CIMIC bei der Entwicklung einer militärische und zivile Aspekte umfassenden Gesamtstrategie beteiligt und leistet einen praktischen Beitrag, um die dort definierten Ziele zu erreichen. Inwiefern diese Zielsetzung mit der Einsatzpraxis übereinstimmt, wird im Folgenden am Beispiel des ISAF-Einsatzes hinterfragt. Dazu wird zunächst die CIMIC-Konzeption erläutert. Darauf aufbauend werden das ISAF-Mandat und der Auftrag dargestellt und problematisiert: Worin liegen die Ziele des ISAF-Einsatzes, und welche CIMIC-Maßnahmen haben sich zur Erreichung des Einsatzauftrages besonders qualifiziert? Welche Probleme und Widersprüche haben sich ergeben?
Die Grundsätze zivil-militärischen Zusammenwirkens resultieren maßgeblich aus den NATO-Einsätzen im ehemaligen Jugoslawien. Diese begründeten eine neuartige Gleichzeitigkeit von zivilen und militärischen Maßnahmen. Angesichts der komplexen humanitären Notlage und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit einer Abstimmung zwischen den Streitkräften und den zivilen Akteuren wurde deutlich, dass das Zusammenwirken verbessert werden musste. Ein Ergebnis dieses Lernprozesses war die CIMIC-Doktrin mit ihren drei Kernfunktionen - die Zusammenarbeit mit dem zivilen Umfeld erleichtern, die Akzeptanz des Einsatzes bei der Zivilbevölkerung erhöhen (um den Schutz der Truppe zu stärken) sowie zur Operationsplanung und -führung beitragen. 3
Die aktuelle CIMIC-Konzeption ist damit ein Ergebnis der Herausforderungen von multifunktionalen Stabilisierungseinsätzen. Hierbei geht es um eine vielfältige Interaktion ziviler und militärischer Akteure im Einsatzland. Die Konfliktursachen sollen überwunden werden, damit sich ein politisch-wirtschaftliches System aufbauen lässt, das ein friedliches Zusammenleben im Sinne von Friedenskonsolidierung ermöglicht. Stabilisierungseinsätze enthalten daher ein komplexes Zusammenspiel von Aufgaben und Hilfeleistungen. Sie können sich je nach Ursache und Art des Konflikts, seiner Dauer und Intensität sowie dem Kräfte- und Mittelansatz erheblich voneinander unterscheiden. Zudem sind sie in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass sie in fluiden Sicherheitslagen stattfinden - so müssen oft simultan humanitäre Hilfe, Peacekeeping in Form sporadischer Gefechte mit militanten Oppositionsgruppierungen und intensive Kampfhandlungen durchgeführt werden.
Kontrovers diskutiert werden Art und Umfang zivil-militärischer Interaktion. Eine Ambivalenz von CIMIC zeigt sich darin, dass es einerseits ein operativ-taktisches Instrument des Kommandeurs zur Erfüllung des militärischen Auftrags ist, andererseits subsidiäre Hilfs- und Aufbauleistungen oft als originärer Beitrag der Streitkräfte dargestellt werden. Dabei ist der Eindruck, dass "Soldaten als Entwicklungshelfer" tätig wären, weder realistisch noch wünschenswert. Er reflektiert vielmehr das politische Spannungsfeld, in dem CIMIC zu verorten ist.
Es ist das genuine Interesse der Politik und ihrer Streitkräfte im Auslandseinsatz, ein unsicheres Umfeld so weit zu stabilisieren, dass sich die Soldaten möglichst bald wieder zurückziehen können. Wesentliche Gründe dafür sind die hohen Kosten und die geringe Akzeptanz eines längerfristigen Militäreinsatzes in demokratisch verfassten Entsendestaaten. Die erfolgreiche Stabilisierung einer Nachkriegsgesellschaft, die einen Abzug der Streitkräfte ermöglicht, bemisst sich daran, inwieweit Frieden und Sicherheit so weit konsolidiert sind, dass sich ein Rückfall in den Kriegszustand vermeiden lässt und staatliche Strukturen gestärkt werden können. Diese vorwiegend zivile Aufgabe der internationalen Gemeinschaft kann nur in einem sicheren und stabilen Umfeld nachhaltig bewältigt werden. CIMIC hat in diesem Kontext die Funktion, den Kommandeur bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben - unter anderem hinsichtlich des Eigenschutzes - zu unterstützen und subsidiär zum zivilen Wiederaufbau beizutragen. Im weiteren Sinne kann CIMIC als Teil eines umfassenden politisch-strategischen Instrumentariums unterstützend tätig sein. CIMIC wirkt dabei unverändert am Gesamtprozess mit, ist aber nicht mehr zentraler Träger des zivil-militärischen Zusammenwirkens. Der Begriff Zusammenwirken wird insofern der CIMIC-Aufgabe im Kontext eines umfassenden Ansatzes eher gerecht.
Dauerhaft zu befriedende Nachkriegsgesellschaften erfordern ein langwieriges, militärisch abgestütztes Engagement. Dabei kann CIMIC kräfteverstärkend wirken, so dass sich der Einsatz wirkungsvoller durchführen und damit früher beenden bzw. im Umfang reduzieren lässt. Denn die im CIMIC-Aufgabenbereich eingesetzten Soldaten sind durch konstante Verbindungs- und Kontaktarbeit in der Lage, die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Prozesse vor Ort zeitnah zu beurteilen. Dadurch wird es möglich, potentiell destabilisierende Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und im Falle einer militärisch relevanten Situation entsprechende Kräfte einzusetzen. Dies kann im Laufe einer erfolgreichen Stabilisierungsphase dazu beitragen, die Streitkräfte zu reduzieren. Damit sich dies in einer gemeinsamen integrierten Vorgehensweise erreichen lässt, muss CIMIC dem spezifischen Aufgabenspektrum im Einsatzgebiet angepasst werden. Schließlich muss die militärische Operationsplanung in eine kohärente politische Gesamtplanung integriert werden, da militärische Maßnahmen allein nicht zu nachhaltigen Effekten führen.
Die Gestaltung zivil-militärischer Beziehungen besteht hauptsächlich in deren Aufbau und Koordination, im Informationsaustausch über die wechselseitigen Auswirkungen militärischen und zivilen Handelns sowie in Bekanntgabe und Abstimmung von Einsatz- und Operationsplanungen. Auf diese Weise soll die Voraussetzung dafür geschaffen werden, dass zivile Akteure einerseits Verständnis für Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen militärischen Handelns entwickeln, andererseits militärische Belange bei der Planung und Durchführung ihrer Maßnahmen berücksichtigen. Im Idealfall entsteht ein synergetisches Miteinander.
Prinzipiell wird gegenüber zivilen Organisationen keine Kontrollfunktion beansprucht. Vielmehr soll das CIMIC-Personal ein umfassendes Verständnis von Mandat, Rolle, Struktur, Methoden und Prinzipien ziviler Organisationen besitzen. Diese Verbindungsarbeit ist frühzeitig einzuleiten, auch auf der Basis von Daten über das Einsatzland, die im Vorfeld des Einsatzes erhoben und vor Ort aktualisiert werden. CIMIC-Kräfte sind also bereits im frühen Planungsstadium und in der Umsetzung des Streitkräfteeinsatzes tätig.
Im Einsatz selbst stellen vertrauensbildende Beziehungen zu den zivilen Akteuren einen Schwerpunkt dar. Zu dieser Aufgabe zählen Kontaktaufnahme und -pflege; die Einbeziehung relevanter ziviler Akteure in die Planung auf strategischer und operativer Ebene; eine kontinuierliche Beurteilung des zivilen Umfelds, einschließlich der Identifizierung lokaler Bedürfnisse (Trinkwasserversorgung, Infrastruktur, medizinische Versorgung) und der Einschätzung, ob und in welchem Maße diese befriedigt werden können; die Beaufsichtigung entsprechender Aktivitäten, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Spezialisten sowie die Orientierung an einer zeitgerechten Übergabe von Verantwortung an die zivilen Agenturen und schließlich die Beratung des Kommandeurs.
Diese Aktivitäten bilden die Grundlage für die beiden anderen Aufgabenbereiche - die Unterstützung des zivilen Umfelds und die Unterstützung der Streitkräfte. Dabei kann sich das Profil von CIMIC gemäß den Gegebenheiten des Einsatzes verändern. Einsätze unterliegen sich ständig verändernden Rahmenbedingungen und können sich daher nach Auftrag, Intensität, Schwerpunktsetzung sowie Kräfte- und Mittelansatz erheblich voneinander unterscheiden. Bei einem fließenden oder plötzlichen Wechsel der Intensitäten hat die Beurteilung der zivilen Lage entscheidende Bedeutung. Bei allen Szenarien müssen zur Erstellung eines zivilen Lagebildes politische, soziale, kulturelle, religiöse, wirtschaftliche, ökologische und humanitäre Bedingungen des Landes und seiner Bevölkerung berücksichtigt werden, außerdem der Zustand der - meist nur rudimentär vorhandenen - Behörden und Strukturen auf regionaler und lokaler Ebene. Ebenso wichtig ist die Präsenz von internationalen Organisationen, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen sowie Agenturen der Geberländer bzw. Hauptgeldgeber (wie EU, Weltbank) mit ihren Mandaten, Rollen, Methoden und Prinzipien.
Die Unterstützung ziviler Stellen und Akteure soll als zweite CIMIC-Aufgabe die Akzeptanz der Streitkräfte erhöhen, um so den Schutz der Truppe zu verbessern. Ein breites Spektrum an Handlungsoptionen ist vor allem dort erforderlich, wo es um die Schaffung eines sicheren Umfelds geht. Begünstigt werden kann dieser Prozess dadurch, dass Hilfe mittelbar erfolgt, indem Unterstützungsleistungen koordiniert werden, oder dadurch, dass man die Bevölkerung unmittelbar unterstützt (um vorteilhafte Bedingungen für den militärischen Einsatz zu schaffen und/oder weil zivile Strukturen dazu nicht in der Lage sind). Außerdem sind im Rahmen verfügbarer Kräfte und Mittel zusätzliche Leistungen möglich. Berücksichtigt werden müssen dabei die Vorgaben des Gastlandes sowie Entwicklungskonzepte der Geberländer, außerdem übergeordnete Ziele nationaler, internationaler sowie supranationaler Institutionen. Generell dient die Unterstützung des zivilen Umfelds der Durchführung des eigenen Auftrags und erfolgt subsidiär.
Drittens wirken CIMIC-Stabsoffiziere an der militärischen Operationsplanung und -führung mit, indem sie das militärische Führungspersonal beraten. So leisten sie eine Unterstützung der Streitkräfte. Die wesentliche Grundlage dafür bilden Informationen über die Lage der zivilen Akteure einschließlich der Bevölkerung sowie die Bewertung der wechselseitigen Auswirkungen militärischen und zivilen Handelns. Das zivile Lagebild enthält Daten über die soziale und wirtschaftliche Lage der Bevölkerung, die ethnische Situation sowie kulturelle und religiöse Besonderheiten, den Zustand der zivilen Infrastruktur sowie des Bildungs-, Gesundheits- und Veterinärwesens und des staatlichen Sicherheitssektors. Zudem informiert das Lagebild darüber, wie das Handeln der Streitkräfte wahrgenommen wird, welche Maßnahmen zivile Akteure planen und welche gemeinsamen Projekte durchgeführt werden.
Zur Vervollständigung des Gesamtlagebildes tragen neben CIMIC weitere Funktionsbereiche eines Stabes oder Hauptquartiers bei. CIMIC wirkt unmittelbar auf die Entscheidungsfindung bei der Operationsplanung ein. In seinem Lagevortrag kann ein CIMIC-Offizier bestimmte Maßnahmen zur Eigensicherung empfehlen, Unterstützungsmöglichkeiten vorschlagen, Koordinations- und Abstimmungsbedarf gegenüber zivilen Organisationen anmelden oder die Auswirkungen des Einsatzes der eigenen Kräfte auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung einschätzen. Er kann gegebenenfalls einen Unterstützungsbedarf für das zivile Umfeld erklären oder Verhaltensmaßregeln im Einsatzgebiet bekanntgeben. Schließlich sind die Streitkräfte auf zivile Ressourcen vor Ort angewiesen. Gleichzeitig sollen nachteilige Auswirkungen auf Bevölkerung, Wirtschaft, Umwelt, Infrastruktur oder die Arbeit humanitärer Organisationen vermieden werden.
Die Bundesregierung hat in ihrem "Afghanistan-Konzept" die Aufgabe der Streitkräfte so festgelegt: "Die militärische Komponente schafft (...) das notwendige sichere Umfeld für den Wiederaufbauprozess - so lange, bis die afghanischen Sicherheitsorgane dazu selbst in der Lage sind." 4 Gemäß ISAF-Operationsplan dienen die Wiederaufbauteams (Provincial Reconstruction Teams/PRTs) als "Katalysatoren des Wandels", zu deren militärischer Unterstützung die ISAF-Kräfte beitragen. Präsenz und Engagement sollen ein Umfeld erzeugen, in dem Vertrauen und Sicherheit herrschen und Aufbauarbeit möglich ist. Dabei reicht die Bandbreite militärischer Operationen vom Selbstschutz bis zu offensiven Land- und Luftoperationen.
Rechte und Pflichten der im Ausland tätigen Truppe sind vor allem aus dem Mandat abzuleiten, das dem Einsatz zugrunde liegt. Deutschland hat dem Operationsplan und den Einsatzregeln im NATO-Rat zugestimmt, jedoch Erklärungen zur nationalen Umsetzung abgegeben. So sollen deutsche Soldaten militärische Gewalt nur gemäß dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit einsetzen und grundsätzlich in den ISAF-Regionen Nord und Kabul operieren - in anderen Regionen nur für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaßnahmen. Aus Sicht der Bundesregierung führen die Vorbehalte zu keiner Einschränkung der Handlungsfähigkeit. Darüber hinaus dürfen sich Soldaten nur in gepanzerten Fahrzeugen, mit medizinischer Unterstützung sowie in Begleitung von Kampfmittelbeseitigungsteams auf Patrouille begeben. 5 Verbunden mit weiteren Einsatzrestriktionen erschweren solche Vorgaben die ISAF-Einsatzkoordination und gemeinsame Aktionen mit afghanischen Sicherheitskräften. Das Problem verschärft sich, wenn gleichzeitig Fähigkeitslücken auftreten - bei Aufklärung, Kommunikation, Fahrzeugen, Infanterie- und Pionierkräften oder Lufttransport. Kurzum: "Die Vorbehalte, wie die Lücken, erhöhen das Risiko für jeden ISAF-Angehörigen in Afghanistan." 6
Deutschland trägt als Leitnation die Verantwortung in der Nordregion, insbesondere durch die PRTs in Kunduz und Feyzabad sowie ein permanentes Beratungsteam in Taloqan. Grundprinzip ist das Zusammenwirken ziviler und militärischer Experten, die gleichrangig unter einem politischen Gesamtauftrag arbeiten und größere Wirkung erzielen, indem sie konzeptionell und operativ integriert agieren. Die militärischen Fähigkeiten dienen dazu, Sicherheit herzustellen und so die Arbeit der zivilen Agenturen zu ermöglichen. Im Idealfall trägt CIMIC zum Eigenschutz bei. Allerdings ist der Kommandeur aufgrund mangelnder militärischer Fähigkeiten häufig auf die Zusammenarbeit mit lokalen Machthabern angewiesen, um den Schutz des PRT zu gewährleisten. Eine häufig geäußerte Kritik lautet daher, dass in PRTs unter deutscher Leitung der Selbstschutz vor der Auftragserfüllung, also der Sicherheitsherstellung, rangiere und die Bundeswehr hauptsächlich mit der Eigensicherung beschäftigt sei. So wirken sich deutsche Einsatzbeschränkungen direkt auf die Umsetzung militärischer Fähigkeiten aus.
Abgeleitet vom ISAF-Mandat hat der deutsche Kommandeur des Regionalkommandos Nord den Auftrag, ein sicheres und stabiles Umfeld zu schaffen und die Bedingungen für eine weitere positive Entwicklung herzustellen. Ein grundlegendes Problem besteht jedoch darin, dass im konzeptionellen Design der ISAF-Mission die extrem defizitären Strukturen des kriegszerstörten afghanischen Staatswesens nicht hinreichend berücksichtigt wurden. Faktisch muss ein "Staatsaufbau ohne Staat" betrieben werden. 7 Angesichts dieser Situation, die durch eine sich verschlechternde Sicherheitslage erschwert wird, erscheint der im Vergleich zum Balkan-Engagement geringe Streitkräfte- und Mittelansatz fragwürdig.
Die Bedeutung von CIMIC-Kräften bei der Beschaffung von Informationen, mit denen sich die Entwicklung im Einsatzgebiet beurteilen lässt, kann gerade in fluiden Sicherheitslagen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Gleichwohl waren 2008 im deutschen ISAF-Einsatzkontingent nur 36 Soldaten im Bereich CIMIC eingesetzt - davon jeweils zwölf in den beiden Wiederaufbauteams. Wie soll mit einer derart geringen Zahl an CIMIC-Personal ein realistisches Lagebild erstellt werden? Zweifellos müssen nicht alle Daten kontinuierlich durch Erkundungstrupps überprüft und nicht alle Erhebungen von CIMIC-Kräften durchgeführt werden. Allerdings war bei dem auslaufenden Einsatz im Kosovo - wo eine vergleichbare Situation bestand (Nachkriegsgesellschaft, fehlende Staatlichkeit, Gewaltkriminalität) - mit 67 Soldaten ein größeres Kräftekontingent in der Verbindungsarbeit tätig, obwohl das deutsche Einsatzgebiet in den nordafghanischen Provinzen Badakhshan, Kunduz und Takhar mit einer Fläche von 64520 Quadratkilometern sechsmal so groß ist wie das Kosovo.
Der Einsatz deutscher CIMIC-Kräfte erfolgt in unterschiedlicher Form. Die CIMIC-Stabskräfte im Regionalkommando Nord und in den PRTs beauftragen Erkundungstrupps (zwei Mann und ein Sprachmittler sowie Begleitschutz), die die zivile Lage erfassen, Kontakte herstellen und pflegen, Projekte identifizieren sowie bei deren Abstimmung und Realisierung unterstützend tätig sind. Die zur Erkundung eingesetzten Feldkräfte haben die Aufgabe, in den Ortschaften ihrer Zuständigkeitsgebiete Gespräche zu führen und Eindrücke zu sammeln, um daraus Village Profiles zu erstellen. Erfasst werden relevante Aspekte wie die Trinkwasserversorgung, die Bildungsinfrastruktur, die Sicherheitslage oder der Zustand lokaler Institutionen. Zudem überprüfen Projekttrupps (ein Bauingenieur und ein Bautechniker sowie ein Sprachmittler) die Entwicklung von Infrastrukturprojekten. Die Verbindungsarbeit wird von den Offizieren allein in Begleitung eines Sprachmittlers geleistet - dazu gehören Gespräche mit Vertretern von Provinzregierung, Provinzrat, afghanischer Armee und Polizei sowie Medien, mit Bürgermeistern, Mullahs und Ältesten oder den Repräsentanten von UNAMA (Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen). Aus all diesen Informationen erstellen die CIMIC-Stabskräfte das zivile Lagebild.
Aufgrund einer restriktiven Selbstverpflichtung des Verteidigungsministeriums werden keine umfangreichen Aufbauprojekte durchgeführt. 8 Vorrangig werden Unterstützungsmaßnahmen umgesetzt, die schnelle, sofort sichtbare Ergebnisse zeitigen. Diese Quick Impact Projects beruhen auf der Beurteilung der zivilen Lage und können auch humanitäre Hilfen beinhalten. Zudem steht dem Kommandeur ein "Handgeld" in Höhe von 30000 EUR für den Einsatzzeitraum von vier Monaten zur Verfügung, das er für Maßnahmen verwenden kann, die operativ notwendig sind. Grundsätzlich werden Mittel für CIMIC-Projekte in Afghanistan von Dritten bereitgestellt - auch durch private Spender, Firmen und Vereine. Die Bundeswehr stellt das notwendige Personal, Material und technische Gerät zur Verfügung. Insgesamt fallen Anzahl und Finanzvolumen von CIMIC-Projekten in Afghanistan signifikant geringer aus als bei den Balkan-Einsätzen. 9
Ein Dilemma besteht in diesem Kontext darin, dass einerseits Hilfe notwendig ist, die in vielen Fällen nur Streitkräfte leisten können, weil zivile Alternativen nicht zur Verfügung stehen (so infolge des harten Winters 2007/2008, der im Januar fast tausend Tote in der Bevölkerung forderte), und dass sich damit andererseits "humanitäre Räume" verringern, in denen Hilfsorganisationen in zeitlicher und räumlicher Distanz zu den Streitkräften den Dialog mit allen Beteiligten führen können.
Lässt die im Vergleich zum Balkan geringe Zahl eingesetzter Kräfte darauf schließen, dass das bei seiner Einführung hochgepriesene CIMIC-Konzept auf dem Weg der Marginalisierung ist? Eher nicht - vielmehr könnte man argumentieren, dass die Bundeswehr in Nordafghanistan unzureichend präsent ist und daher zur Verbesserung der Sicherheitslage (im Sinne des Mandats und des Einsatzauftrags) nur begrenzt beitragen kann. Das gegebene Streitkräftedispositiv ermöglicht jedenfalls keine raumgreifende CIMIC-Arbeit. Wenn sich CIMIC-Kräfte nur mit Begleitschutz und in geschützten Fahrzeugen außerhalb des Camps bewegen dürfen, dafür aber weder Soldaten noch geschützte Fahrzeuge in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen, kann der Auftrag nur in reduziertem Umfang ausgeführt werden - und dies angesichts der übrigen selbstgesetzten Beschränkungen in einer sich verschlechternden Sicherheitslage.
Damit der militärische Auftrag, ein sicheres Umfeld zu schaffen, erfüllt werden kann, sind hinlängliche Kräfte notwendig. Wenn die Entsendestaaten ihre Soldaten nicht in der zugesagten Anzahl und noch dazu unter Vorbehalten bereitstellen, kann dies zur Eskalation der Gewalt beitragen - dann werden nämlich Luftwaffe und Artillerie statt besser geeigneter Landstreitkräfte für taktische Einsätze herangezogen. Die dadurch verursachten zivilen Opfer bedeuten nicht nur einen Verlust an Menschenleben, sondern sind auch politisch kontraproduktiv: Die Unterstützung des Einsatzes in der afghanischen Bevölkerung geht verloren, die Taliban finden günstigere Bedingungen für die Rekrutierung neuer Kämpfer, und darüber hinaus verschlechtert sich in den Entsendestaaten die öffentliche Meinung zum Einsatz.
Eine zentrale Herausforderung für ISAF und die afghanischen Sicherheitskräfte besteht darin, das Vertrauen der Bevölkerung in die eigene Durchsetzungsfähigkeit zu stärken. Dies verweist jedoch wiederum auf das Problem hinlänglicher Kräfte: Gebiete, die von Aufständischen befreit worden sind, können danach nicht gesichert werden, weil die ISAF-Streitkräfte anderweitig eingesetzt werden müssen und afghanische Soldaten noch nicht in ausreichender Zahl und mit dem nötigen Ausbildungs- und Ausrüstungsstand zur Verfügung stehen.
Insofern greift die populäre Variante von CIMIC, an Grundbedürfnisse und materielle Eigeninteressen der Bevölkerung anzuknüpfen, im Kontext der Aufstandsbekämpfung zu kurz. Denn die Bevölkerung muss nicht nur davon überzeugt werden, dass der Erfolg von ISAF in ihrem eigenen Interesse ist, sondern auch daran glauben, dass ISAF und die eigenen Streitkräfte einen dauerhaften Schutz gewährleisten. Beides bedingt flexibel einsetzbare und ausreichend ausgestattete Streitkräfte. Dabei wird nicht die Absicht verfolgt, das Land flächendeckend militärisch zu kontrollieren. Vielmehr sind zur Aufstandsbekämpfung wesentlich nichtmilitärische Maßnahmen notwendig; gerade diese erfordern ein sicheres und stabiles Umfeld.
Nachhaltige Sicherheit kann letztlich nur die Afghanische Nationalarmee (ANA) gewährleisten. Sie hat quantitative und vor allem auch qualitative Fortschritte gemacht. Zunehmend finden große Militäroperationen unter afghanischer Führung statt. Zu den als beispielhaft angeführten Einsätzen gehörte die Operation "Harekate Yolo II" von November 2007, deren Ziel die Bekämpfung von Aufständischen in den nordwestlichen Provinzen Faryab und Badghis war. Die Afghanen führten die Offensive gemeinsam mit der norwegischen Quick Reaction Force; die Bundeswehr leistete Aufklärung und Sanitätshilfe. Deutsche CIMIC-Kräfte waren in die Operation eingebunden und mit der Beschaffung von Hilfsgütern befasst; die Verteilung dieser Winterhilfe wurde den ANA-Soldaten überlassen, um deren Ansehen in der Bevölkerung zu fördern. In diesem Fall gingen aktive Sicherheitsherstellung und Eigenschutz eine wirkungsvolle Symbiose ein. Dass Aufgaben sukzessive von einheimischen Sicherheitskräften übernommen werden, stärkt das Prinzip afghanischer Eigenverantwortung. Allerdings können solche Einsätze nur dann nachhaltige Wirkung erzeugen, wenn sie mit ziviler Aufbauhilfe und Sicherheitsgewährleistung durch afghanische Sicherheitskräfte verbunden sind.
In der deutschen Debatte wird der Beitrag der CIMIC-Kräfte häufig in Konkurrenz zu Hilfsorganisationen gesetzt. Dabei wird übersehen, dass sie für diese Rolle weder personell noch materiell hinreichend ausgestattet sind. Angesichts der reservierten bis ablehnenden Haltung der deutschen Bevölkerung zum ISAF-Einsatz bietet CIMIC andererseits ein positives Bild. Denn mit Impressionen vom Brückenbau und vom Brunnenbohren gewinnt der deutsche Beitrag zum internationalen Militäreinsatz ein populäres, da ziviles Image. Die innenpolitische Legitimation des Einsatzes wird gefördert, und die Mandatsverlängerung ist leichter zu erlangen. CIMIC-Projekte können jedoch nur punktuell und nicht nachhaltig erfolgreich sein. Außerdem sind sie nicht geeignet, notwendige Beiträge im Rahmen der Bündnissolidarität - die aktive Herstellung von Sicherheit - zu ersetzen. Wenn daran erinnert wird, dass man "Soldaten - und nicht bewaffnete Entwicklungshelfer!" 10 nach Afghanistan geschickt habe, geht es insofern auch um den Beitrag Deutschlands in langwierigen und gefährlichen Stabilisierungseinsätzen.
Im Einsatz in Afghanistan erweckt die Verpflichtung des Verteidigungsministeriums, allenfalls Nothilfe zu leisten, zusammen mit nationalen Vorbehalten und unzulänglichen Ressourcen den Eindruck einer Selbstblockade. Daraus sollte nicht die Konsequenz gezogen werden, dass auf die Unterstützung der Streitkräfte beim Wiederaufbau verzichtet werden könnte; sie ist gerade in fluiden Sicherheitslagen unverzichtbar und erfordert hinlängliche CIMIC-Fähigkeiten zu Verbindungsarbeit, Projektunterstützung und Lagebeurteilung. Ein Ansatz mag umfassend konzipiert und eine Doktrin detailliert sein, ihre Realisierung ist jedoch nur durch entsprechendes Personal und Ressourcen möglich.
1 Vgl.
Gipfelerklärung von Straßburg/Kehl. Treffen des
Nordatlantikrats auf Ebene der Staats- und Regierungschefs am 4.4.
2009, Ziffer 9.
2 Vgl. Bundesregierung, Das
Afghanistan-Konzept der Bundesregierung, Berlin 2008, S. 14.
3 Vgl. ausführlich Michael Paul,
CIMIC am Beispiel des ISAF-Einsatzes. Konzeption, Umsetzung und
Weiterentwicklung zivil-militärischer Interaktion im
Auslandseinsatz (SWP-Studie 31/08), Berlin 2008, S. 7 - 13.
4 Bundesregierung (Anm. 2), S. 14.
5 Dass sich Soldaten nur geschützt
auf Patrouille begeben, ist selbstverständlich. Der personelle
und technische Aufwand kann je nach Vorgabe aber unterschiedlich
ausfallen.
6 General Karl-Heinz Lather, zit. nach:
In Afghanistan fehlen Soldaten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 10.5. 2008, S. 5.
7 Vgl. Citha D. Maaß, Afghanistan:
Staatsaufbau ohne Staat (SWP-Studie 4/2007), Berlin 2007.
8 So wurde zugesagt, "keine CIMIC im
gleichen Umfang wie bei den Balkan-Einsätzen
durchzuführen, sondern allenfalls so viel an Nothilfe zu
leisten, wie es für Zwecke der militärischen
Stabilisierung unabdingbar ist". Michael Schmunk, Die deutschen
Provincial Reconstruction Teams. Ein neues Instrument zum
Nation-Building (SWP-Studie 33/05), Berlin 2005, S. 29.
9 Vgl. M. Paul (Anm. 3), S. 20.
10 Hans-Ulrich Klose, Gleiches Risiko
für alle, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.2. 2008, S.
2.