Einleitung
Fast jeder Kontinent, so scheint es, hat mindestens eine
große Gestalt, die die Nation und Region eint und
repräsentiert, die jeder kennt und liebt, und auf die jeder
stolz ist. In Südasien war das der Gründungsvater des
indischen Staates, Mahatma Gandhi, in Südamerika Simón
Bolivar, Anführer der lateinamerikanischen
Unabhängigkeitsbewegung. Im Süden Afrikas ist es Nelson
Rohlila Mandela. Alle erhielten sie Namen, die mit ihnen untrennbar
verbunden sind - Bolivar wurde der libertador, der Befreier, Gandhi
- unter seinen gegebenen Vornamen kennt ihn niemand mehr - Mahatma,
auf Sanskrit "dessen Seele groß ist". Beides zeugt von
Respekt und Bewunderung. Mandelas Clanname, Madiba, deutet dagegen
auf Vertrautheit, Bewunderung, selbst Zärtlichkeit; noch mehr
gilt das für jenen Namen, den schwarze Südafrikaner
zunehmend für ihn nutzen - Tata, Vater. Der Dalai Lama nennt
Mandela einen würdigen Nachfolger Gandhis. Niemand in Afrika
dürfte im Ansehen an ihn heranreichen. Nelson Mandela gilt
aller Welt als Symbol für den Kampf um Freiheit. Kaum ein
anderer Lebender gab so vielen Straßen, Schulen, Preisen
seinen Namen. Sein Ruhm nimmt fast mythische Ausmaße an: Der
Mythos Mandela bezieht sich somit auf ihn, auf seine
Größe, seine historische Rolle in der
"Regenbogenrevolution" und auf seine reale Wirkung. Aber ein Mythos
hat auch Kehrseiten und Folgen. Auch die gilt es beim
größten lebenden Afrikaner zu beachten. Schon vor seiner
Freilassung aus fast drei Jahrzehnten Haft im Februar 1990 galt er
als Mythos. Sein Ansehen wuchs, als er, den man in seiner Heimat
Südafrika damals weder zitieren noch abbilden durfte, sichtbar
wurde. Wer dabei war bei seinen Schritten aus dem Gefängnis,
seiner Rede vom Rathausbalkon in Kapstadt und seinem ersten
Gespräch mit Journalisten, vergisst diese Augenblicke nicht:
Seine große Gestalt, die Würde, die er natürlich
ausstrahlt, sein Humor und sein Eingehen auf andere waren
überwältigend. Er konnte und kann jeden mit Charme und
Selbstironie einwickeln. Binnen kurzer Zeit vermochte er auch bei
weißen konservativen Südafrikanern sein Bild zu
ändern: Vom mutmaßlichen Terroristen wurde er für
viele zum Freiheitshelden und Versöhner. Wer angesichts einer
solchen fast unkritischen Wertschätzung nicht abhebt, ist
stark - wie "Madiba", der sich selbst verspottet und gerne einen
alternden Pensionär nennt. Er warnt vor der Neigung ihn zu
vergöttern.
Verzeihen und Versöhnen
Grundlage seines Ansehens ist zum einen sein intellektuelles
Format. Wichtiger noch ist seine menschliche Größe, die
Haltung des Verzeihens und der Versöhnung, die Südafrika
vor einem von vielen befürchteten Bürgerkrieg und Blutbad
bewahrte. Schon als Junge habe er gelernt, berichtet er, seine
Gegner zu bezwingen, ohne sie zu entehren. So hielt er es als
Verhandlungsführer des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC)
bei der Suche nach einer neuen Ordnung und einem geregelten
Übergang mit seinen politischen Rivalen Frederik Willem de
Klerk, dem er 1994 als südafrikanischer Präsident folgte,
und dem Zuluführer Mangosuthu Buthelezi, den er zu seinem
Innenminister ernannte. Damit band er als begnadeter Taktiker
Gegner ein, aber mehr noch die Jugendlich-Ungestümen unter
seinen Anhängern, die lieber auf eine Abgrenzung gesetzt
hätten. Heute nennen Jugendliche in Europa oder Amerika auf
die Frage, was sie mit Südafrika verbinden, zwei Worte -
Mandela und friedlicher Umbruch; dazu kommen Fußball,
Kriminalität, Aids. Sein Verständnis von Demokratie,
Minderheiten und Führung, seine englisch geprägte,
ausgesuchte Höflichkeit gegen jedermann, aber auch sein Stolz
und sein Traditionsbewusstsein haben ihre Wurzeln in seiner Jugend,
die er im Ostkap als Mitglied einer Königsfamilie in
ländlicher Abgeschiedenheit verbrachte; dort wurde er zum
Führen erzogen. Ein weiteres Element zum Verständnis
seines Handelns und Denkens ist seine Lebensgeschichte: In den
Jahren seiner Haft musste er eine Maske tragen. Seine Gefühle
gab er nicht preis, um sich trotz Demütigungen die Achtung der
anderen und die Selbstachtung zu bewahren. Auch das hat eine Wurzel
in seiner Jugend im Ostkap, in der traditionell Gefühle nicht
gezeigt wurden. Als er sich zum letzten Mal von seiner Mutter
verabschiedete, gab es keine Umarmung: Das sei nicht ihr Brauch
gewesen, schreibt er wehmütig in seiner Autobiographie.
1 So
begegnet er auch jenen, mit denen er Jahrzehnte gemeinsam
verbrachte, mit Distanz - der Umjubelte scheint ein Einsamer zu
sein. Loyalitäten aber weiß er zu pflegen - in der Haft
begegnete er neben den zynischen auch sanften Wärtern, die ihm
Respekt zeigten. Durch sie lernte er, dass es unter rechten
Afrikaanern, unter den Uniformträgern des verhassten Regimes,
menschliche Stimmen und Seiten gab. Diesen wenigen Anständigen
verdankt das weiße Südafrika, und damit mittelbar auch
die übrige Welt, Vieles - ohne sie hätte Mandela seine
nach 28 Jahren Haft fast übermenschlich erscheinende
Versöhnungsbereitschaft möglicherweise nicht gehabt.
Zweimal dem ANC voraus
Ein drittes Moment neben dem Fehlen von Bitterkeit und seiner
Balance von Volkstümlichkeit und Distanziertheit brachte ihm
seine unumstrittene Anerkennung nicht nur unter weißen
Südafrikanern und in der übrigen Welt, sondern auch
innerhalb des ANC: Mandela kann nicht nur weitsichtig sein, sondern
auch hart und entschlossen. Als er bei den Verfassungsverhandlungen
in Kempton Park nahe Johannesburg einmal glaubte, sein Gegenspieler
de Klerk breche Vertrauen, wurden Stimme und Worte scharf, fast
bitter - und es zeigte Wirkung. Zweimal war Mandela seiner Bewegung
voraus. Er drängte Anfang der 1960er Jahre den ANC zum
bewaffneten Widerstand; und er begann 1985 aus dem Gefängnis
heraus Verhandlungen mit der Regierung, ohne sich auch nur mit
seinen engsten Vertrauten zu beraten. Angebote aber, er werde
freigelassen, falls er der Gewalt abschwöre, lehnte er ab.
Ausgedehnte geheime Gespräche mit Ministern und hohen Beamten
trugen dazu bei, dass die Regierung in Pretoria Vorbehalte gegen
den ANC abbaute, sich für den Machtwechsel am Kap innerlich
und äußerlich rüstete. In seinem vierten Jahr als
Präsident wurde Mandela Vorsitzender der Blockfreienbewegung.
Das war eine Anerkennung seines Lebenswerkes für den
friedlichen Übergang Südafrikas von einem Polizeistaat,
der die schwarze Mehrheit unterdrückte, zu einer Gesellschaft,
die sich als - wiewohl durchlöchertes - Modell der Welt
anbietet. Dass Südafrika so schnell den Weg beschritt vom
Ausgestoßenen der Welt zum Ansehen bei Süd wie Nord, ist
in starkem Maß ein Verdienst Mandelas, aber auch seines
damaligen Stellvertreters und Nachfolgers Thabo Mbeki.
2
Fußball-WM als Doppelvermächtnis
Wenn im Juni 2010 die erste Fußball-Weltmeisterschaft auf
afrikanischem Boden eröffnet wird, sind weder Mandela noch
Mbeki Präsidenten. Die WM aber ist das Vermächtnis
beider: Mbeki machte die WM 2010, den Aufbau der Infrastruktur, zu
seinem Anliegen im Wissen, dass ihr Ablauf das Bild Südafrikas
und Afrikas auf lange Zeit prägen wird.
3 Ohne Mandelas
Überzeugungskraft wiederum wäre der
Weltfußballverband kaum das Wagnis eingegangen, die
Weltmeisterschaft in den Süden Afrikas zu vergeben. Er nutzte
nicht nur seinen Mythos; dieser allein hilft wenig, wie der
amerikanische Präsident Barack Obama zu spüren bekam, als
Chicago trotz seines Werbens in Kopenhagen als erster von vier
Bewerbern für die Olympischen Spiele 2016 abgelehnt wurde.
Mandela setzte Humor und Leichtigkeit ein - selbst Vuvuzelas
brachte er im Mai 2004 nach Zürich, durchdringende und
bisweilen unerträgliche Plastiktröten, die Gegner auf dem
Fußballfeld ebenso entnerven sollen wie gegnerische Fans. Wie
Mandela ist der anglikanische Erzbischof Desmond Tutu ein
Wächter der Nation, der andere große schwarze
Friedensnobelpreisträger Südafrikas. Mit Leuchtgestalten
ist Südafrika gesegnet - wohl kaum ein anderes Land
vergleichbarer Größe kann auf drei
Friedensnobelpreisträger und zwei Träger des
Literaturnobelpreises innerhalb gut eines Jahrzehnts weisen,
allesamt Mahner und Wegweiser, zudem auf bedeutende Künstler,
die Selbstbesinnung und Selbstbewusstsein bieten. Daneben wirkt der
starke Einfluss von Religion und Kirchen auf diesen Geist der
Vergebung nach Jahrzehnten der Unterdrückung. Vor allem aber
hilft Mandela auch mit seinen 91 Jahren noch beim Übergang und
der inneren Festigung einer Gesellschaft, die zerklüftet und
zerrissen ist wie wenige - nach Hautfarbe, Wohlstand, Religion,
Erfahrung, Werten, Bildung. Wo die Nation landen wird, ist
ungewiss. Klar ist, dass sie das Regenbogenidyll verfehlt, das
Traumgebilde einer harmonischen Gesellschaft. Wer indes skeptisch
darauf weist, muss bedenken, dass das gar nicht unwahrscheinliche
Horrorszenario eines Bürgerkrieges oder zumindest von
Terrorangriffen zwischen den Rassen vermieden wurde.
Segen des Übervaters
Jacob Zuma als vierter frei gewählter Präsident
Südafrikas liegt seit seinem Machtantritt im Mai 2009 daran,
sich mit Mandela sehen zu lassen, wiewohl dieser sich aus
gesundheitlichen Gründen aus der Öffentlichkeit
zurückzog. Zuma sucht und braucht stärker als Mbeki den
Segen des Übervaters. Erst dieser gibt ihm die volle
Legitimation. Mandela ist dem ANC gegenüber loyal genug,
mitzuspielen, was immer er von seinem Nachfolger halten mag. Was
aber von seinem Erbe in einigen Jahren Bestand haben wird, vermag
niemand sicher zu sagen. Der neuerliche Machtwechsel regte
politische Analytiker zu einem Feuerwerk schöpferischer
Begriffe an. Südafrika habe nun seine Unschuld verloren,
hieß es unter Verweis auf Vorwürfe finanzieller und
persönlicher Fehltritte Zumas. Die einen sprechen von einem
"bedrückenden Panoptikum des politischen Niedergangs am Kap",
4andere
verweisen auf Erfolge beim Aufbau eines Sozialstaats. Dieser
Zwiespalt gilt für die Bilanz der ersten 15 Jahre
Südafrikas unter schwarzer Herrschaft ebenso wie für die
Zukunftsaussichten unter Zuma. Nach dem Versöhner Mandela, dem
intellektuellen, aber zunehmend abgehobenen Mbeki und wenigen
Monaten des pragmatischen Übergangspräsidenten Kgalema
Motlanthe folgt ein als " Chamäleon" geltender Populist mit
fragwürdiger Ethik.
5 Es ist ungewiss, woran er glaubt.
Er kann stärker als Mbeki zuhören und einbinden, er
polarisiert aber auch stärker als seine Vorgänger. Der
Zulu, aufgewachsen als Ziegenhirte, spricht die "Sprache der
einfachen Leute" und wird zum Hoffnungsträger derjenigen, die
sich abgehängt und enttäuscht fühlen. Zuma ist
gesprächsbereit in alle Richtungen. So hebt er sich wohltuend
ab von seinem zunehmend in sich gekehrten Vorvorgänger Mbeki.
Mit seiner geschickt austarierten Kabinettsbildung und mit
entschlossenen Worten zur Stärkung der Polizei festigte er die
Zuversicht der Wirtschaft und des Auslandes. Die großen
Probleme, die schon 1994 den Übergang belasteten, bleiben,
teils heftiger als zuvor: HIV/Aids, Kriminalität und
Brutalisierung, Armut und Arbeitslosigkeit. Dennoch ist
Südafrika weiterhin eine Demokratie und ein Rechtsstaat mit
einer nicht nur im Afrikavergleich vorbildlichen Verfassung, der
Achtung von Menschenrechten, einer weitgehenden Pressefreiheit. Die
Unabhängigkeit der Justiz wird trotz unguter Dellen geachtet.
Die Zivilgesellschaft ist verankert und rührig, oft auch
frech. Für Dinge, die Politiker, Journalisten und "normale"
Bürger über die Obrigkeit und deren Politik sagen,
wären sie in den meisten Ländern Afrikas und vielen
Asiens und Osteuropas längst in Haft.
Soziale Umverteilung
Die Wirtschafts- und Geldpolitik ist wie unter Mandela und Mbeki
solide. 14 Jahre lang wuchs die Wirtschaft beständig, deutlich
stärker als in den Industrieländern. Das kam eher dem
neuen Mittelstand und der Oberschicht zugute als der armen
Mehrheit. Dafür sorgte das vom ANC betriebene "Black Economic
Empowerment" - eine Quotenbeteiligung schwarzer Südafrikaner
an großen Unternehmen meist ohne angemessene Gegenleistung.
Spötter sprechen von der Schaffung von "schwarzem Gold".
Zumindest in den Anfangsjahren profitierten davon Schwarze mit
enger Verbindung zum ANC. Einige ANC-Politiker gingen in die
Wirtschaft und wurden rasch Multimillionäre. Das verbitterte
arme Schwarze ebenso wie wohlhabende Weiße und schuf
böses Blut. Der Ruch von Korruption und Nepotismus fand
reichlich Nahrung. Die Literaturnobelpreisträgerin Nadine
Gordimer, die lange den ANC stützte, sagt ernüchtert, die
Helden von einst seien oft die Parasiten von heute. Die
Infrastruktur wird vor der Fußball-WM im Eiltempo ausgebaut.
Der Einbruch durch die Wirtschaftskrise ab Herbst 2008 war anfangs
sanfter als anderswo; dann aber brach der Bergbau bei Gold, Platin
und Diamanten ebenso ein wie die Automobilindustrie. Wenig bemerkt
wurde der vielleicht größte Erfolg der Mbeki-Jahre: Mit
einem sozialen Umverteilungsprogramm erhält in einem Land, in
dem bis vor 15 Jahren Sozialpolitik oder staatliche Hilfe an die
Armen weitgehend unbekannt war, ein Viertel der Bevölkerung
staatliche Unterstützung. Dazu zählen Kindergeld für
acht Millionen Mädchen und Jungen sowie Behindertenbeihilfen
und eine steuerfinanzierte Rente für Ältere. Damit sank
die Armutsrate seit 1999, nachdem sie in den ersten Jahren des
Umbruchs noch gestiegen war.
6 Südafrika habe, wird weithin
gesagt, das umfangreichste soziale Netz aller
Entwicklungsländer
7 - und das wurde innerhalb von
eineinhalb Jahrzehnten aufgebaut. Doch wichtige Gruppen sind von
dem Netz ausgeschlossen - nicht nur alle arbeitsfähigen
Menschen zwischen 15 und 59 Jahren, sondern auch mit HIV/Aids
Infizierte - sie können die Behindertenrente nicht in Anspruch
nehmen. Südafrika bleibt ein Land mit größten
sozialen Ungleichheiten.
Zeichen der Unrast
Jacob Zuma und seine Regierung werden bald entscheiden müssen,
wie sie mit der schleichenden Korruption umgehen, mit dem
"umgekehrten Rassismus", der nicht nur Weiße, sondern auch
"Farbige" ("coloureds") und Inder benachteiligt, mit der Neigung zu
Vetternwirtschaft und Ineffizienz in der Verwaltung. Das trägt
ebenso wie die Armutsschere zu einer Welle fast wöchentlicher,
bisweilen gewaltsamer Proteste in den Townships bei. In den
vergangenen Monaten gab es da noch Verschärfungen: Taxifahrer
beschossen Busse, weil sie einen Verlust ihres Transportmonopols
befürchteten; zweitausend Soldaten versuchten das
Präsidentenamt in Pretoria zu stürmen, um gegen ihre
Entlassung zu protestieren; ANC-Mitglieder gingen gewaltsam gegen
ANC-Stadträte vor, denen sie Versäumnisse in der
Versorgung der Townships vorwerfen. Verbesserungen aber gibt es
auch. Für 95 Prozent der Bevölkerung sind
Gesundheitsstationen innerhalb von fünf Kilometern von ihrem
Wohnort zu erreichen. Zwei Drittel aller Fünfjährigen
sind in einer Schule - gerade in den vergangenen Jahren haben sich
die Bildungschancen verbessert. Seit der ersten demokratischen Wahl
1994 wurden nahezu drei Millionen Sozialbauten errichtet. Vier
Fünftel aller Häuser sind an das Stromnetz angeschlossen.
Der Zugang zu sanitären Anlagen wie Spültoiletten und
Leitungswasser wurde stark ausgeweitet. Der unter Mandela rasch
verbesserte Zuwachs aber hatte sich in den Mbeki-Jahren
abgeschwächt. Noch immer ist die Lage der großen
Mehrheit auf dem Lande wie in den Townships desolat. 43 Prozent der
48 Millionen Südafrikaner leben unter der Armutsschwelle mit
Einkünften von täglich weniger als eineinhalb Euro.
Solange sich das nicht sichtbar und rasch ändert,
verschärfen sich die sozialen Konflikte weiter, der
unerfüllte Erwartungsdruck, die Beschaffungskriminalität,
die Fremdenfeindlichkeit in den Townships gegenüber den
mittlerweile Millionen illegalen Zuwanderern aus den
Nachbarländern, vor allem aus Simbabwe. Südafrika ist
nicht mehr das gehätschelte Wunderkind, dem man dank der
friedlichen Revolution und der Leuchtgestalt eines Nelson Mandela
vieles verzeiht. Beim Kampf gegen HIV/Aids - der Anteil Infizierter
an der Bevölkerung ist in Südafrika und seinen
Nachbarländern Swaziland und Botswana höher als in jedem
anderen Land der Welt - geschah lange wenig. Nach 1994 hatte die
Regierung andere Schwerpunkte und Sorgen. Mandela wurde erst nach
seinem Amtsende neben Tutu zum Vorkämpfer gegen Aids. So wird
die Anzahl der Infizierten am Kap auf 5,5 Millionen geschätzt,
und die der Aids-Waisen auf mehr als zwei Millionen.
Keine heiligen Kühe unter Zuma
Schwer vorhersehbar ist, wie es unter Zuma mit dem Bekenntnis zu
einer freiheitlichen Gesellschaft steht oder mit der
Bekämpfung von Kriminalität in einem Land, das selbst der
vormalige Sicherheitsminister killing field nennt. Hier werde die
Regierung "Unsinn" nicht dulden, sagt Zuma. Prozentual werden am
Kap zwölfmal so viele Menschen pro Kopf der Bevölkerung
ermordet wie in Deutschland. Die Polizisten gehen in letzter Zeit
härter und sichtbarer vor - die Autoentführer und
Mörder aber auch. Ebenso zwiespältig ist die Zukunft
einer Gesellschaft mit dem Nimbus der Freiheitlichkeit und der
Achtung von Minderheiten und freier Debatte, für die Mandela
und Tutu stehen. In seiner Antrittsrede ging Zuma auf die
Opposition zu und warb für einen sanfteren Umgang mit ihr.
Seine Worte, er strebe ein neues Kapitel im Verhältnis von
Regierung und Opposition an, dürften sich eher an junge
Eiferer in den eigenen Reihen gerichtet haben denn an politische
Gegner - er steht unter Druck der Linken (Gewerkschaften,
Kommunisten, Parteijugend), die ihm den Weg zur Macht ebneten. Zum
Amtsantritt berief sich Zuma auf die Versöhnungspolitik Nelson
Mandelas, die er wiederbeleben wolle. Einen ANC-Politiker
ließ er sagen, es werde in seiner Amtszeit keine "heiligen
Kühe" geben,
8jeder könne alles ansprechen.
Umfragen aber lassen nicht nur Gutes erwarten. Wähler wurden
befragt, ob die Regierung ihre Aufgabe gut erfülle (gemessen
an zwei Dutzend Kriterien zur Verbesserung ihres Lebens). In zehn
Befragungen zwischen Mai 2004 und November 2008 sank die
Zustimmungsrate schrittweise von 75 auf 52 Prozent.
9 Das Gefühl, dass
die Herrschenden, die Eliten, in einer Parallelwelt leben,
abgehoben von der Lebenswirklichkeit der Bevölkerungsmehrheit,
wird in der Bevölkerung immer stärker. Einem Nelson
Mandela hätten Südafrikaner auch das verziehen, einem
Jacob Zuma nicht mehr.
1 Vgl. Nelson
Mandela, Long Walk To Freedom (Der lange Weg zur Freiheit),
Boston-New York 1994.
2 Vgl. Mark Gevisser, A Legacy of
Liberation: Thabo Mbeki and the Future of the South African Dream,
New York 2009.
3 Vgl. Robert v. Lucius, Nicht von hier
und nicht von dort. Umbruch und Brüche in Südafrika,
Halle 2009.
4 Thomas Scheen, Südafrika.
Politische Piraten, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom
14. 12. 2008.
5 Vgl. Wolfgang Drechsler,
Versöhner oder Spalter?, in: Handelsblatt vom 22. 4.
2009.
6 Vgl. Steven Friedman, Die Last der
alten Vorurteile, in: welt-sichten, (2009) 3.
7 Vgl. Isobel Frye, Die sozialen
Sicherungssysteme in Südafrika, in: welt-sichten, (2009)
3.
8 ANC: No "holy cows" under Zuma
presidency, in: Mail & Guardian (Johannesburg) vom 17. 4.
2009.
9 Vgl. Umfrage von Markinor, in: BBC
Focus on Africa, 1/2009, S. 16.