Einleitung
Is race a good indicator of youth culture?", fragte schon vor
einigen Jahren der Autor eines südafrikanischen
Wirtschaftsblogs.
1 Die Frage ist noch immer
berechtigt. Spielt die Hautfarbe also noch eine Rolle für die
Jugendlichen in dem ehemaligen Apartheidstaat, wo die "Rasse"
2 eines
Menschen bis vor 15 Jahren noch ihre oder seine Lebenschancen
eindeutig bestimmte? Wie sehen sie sich selbst, wie gehen sie
miteinander um, die jungen Frauen und Männer der ersten
Generation, die nach dem Ende der Apartheid aufgewachsen ist? Was
bewegt die Kinder der "Regenbogennation", was sind ihre Hoffnungen
und Sorgen? Was ist mit HIV/Aids? Wie stehen sie zu der
fremdenfeindlichen Gewalt, die das Land zu Beginn des
südafrikanischen Winters 2008 erschütterte? Und wie sehen
sie die übrige Welt, die sich in wenigen Monaten zur ersten
Fußballweltmeisterschaft auf afrikanischem Boden bei ihnen
einfinden wird? Ich lade Sie ein, in diesem Artikel mit mir den
Campus der University of the Western Cape (UWC) zu besuchen, an der
ich seit 2001 Ethnologie lehre. Diese Universität mit ihren 15
000 Studierenden spiegelt in vielerlei Hinsicht die Hoffnungen wie
auch die Frustrationen der jungen südafrikanischen
Gesellschaft wider. Die UWC wurde 1960 als Apartheidinstitution
gegründet: Sie ließ ursprünglich nur "Farbige"
("coloureds")
3 als Studierende zu, um ebendiese
von den "weißen" Universitäten zu entfernen bzw.
fernzuhalten. 1985 unternahm die Universität einen wahrhaft
revolutionären Schritt und ließ von da an
Studienbewerberinnen und -bewerber aus allen
Bevölkerungsgruppen zu. Innerhalb weniger Jahre stieg die
Anzahl der "schwarz-afrikanischen" Studierenden rapide an.
Geprägt von der globalen Jugendkultur
Noch bis vor wenigen Jahren wurde die UWC - vor allem von aktuellen
und ehemaligen Studierenden - manchmal liebevoll, manchmal ironisch
bush genannt. Sie lag in der Tat "im Busch", ohne Läden oder
Gaststätten in der Nachbarschaft, trotz des Standorts im
weltstädtischen Kapstadt vom urbanen Leben abgeschnitten.
4 Das lag
daran, dass die Apartheidregierung die den "Farbigen" zugedachte
Hochschule 25 Kilomenter vom Stadtzentrum entfernt inmitten der
Townships auf den Cape Flats errichtet hatte, wo es nur minimale
Infrastruktur gab. Heute ist das anders. Ein nahegelegenes Shopping
Center ist bequem zu Fuß zu erreichen, neben Ladenketten gibt
es dort Fast-Food-Restaurants, Fish and Chips, Pizzerien und -
immer gut besucht - das in Südafrika allseits beliebte KFC
(Kentucky Fried Chicken). Die Studierenden der UWC sind in aller
Regel ganz ähnlich wie ihre deutschen Altersgenossinnen und
-genossen in der legeren Mode der globalen Markennamen gekleidet.
Ehemalige UWC-Studierende sind oft erstaunt, wie ganz anders als zu
ihrer Studienzeit der Campus und die Studierenden wirken. "Richtig
wohlhabend" sehe es aus, sagte mir eine Ehemalige, die ihren
Abschluss 1997 gemacht hatte: jede Menge Studentenautos, die
modische Kleidung der jungen Studierenden, und natürlich deren
schicke Mobilfunktelefone, mit denen sie ständig in virtueller
Verbindung zur global vernetzten Welt und untereinander stehen.
Dazu kommen eine zunehmende Anzahl von privat betriebenen
Cafeterien, die an den Studierenden gut verdienen. Terri Barnes,
die von 1997 bis 2008 an der Universität beschäftigt war,
behauptet, dass anders als zu Beginn ihrer Zeit als Dozentin die
ganz Mittellosen von der Hochschule inzwischen einfach nicht mehr
zum Studium zugelassen würden.
5 Heißt das, dass zumindest
bescheidener Konsum für die Studierenden der UWC, die ja nach
wie vor zumeist aus den unterprivilegierten (und
dunkelhäutigen) Bevölkerungsschichten Südafrikas und
der Nachbarländer kommen, heute selbstverständlich ist?
Nicht für alle: Unter der Oberfläche gibt es immer noch
bittere Not. So stellte die Universität im vergangenen Winter
auf dem Campus Container auf, um Lebensmittelspenden für
ärmere Studierende zu sammeln. Dennoch ist nicht zu
übersehen, wie sehr sich das Bild der Universität und
ihrer Studierenden im Laufe des vergangenen Jahrzehnts in
materieller Hinsicht verändert hat. Gleichzeitig hat sich ein
anderer bedeutender Wandel vollzogen: Vor wenigen Jahren noch
fehlten den meisten Studierenden selbst die grundlegendsten
Computerkenntnisse: Bis vor etwa fünf Jahren war es durchaus
üblich, Hausarbeiten handschriftlich einzureichen. Heute
hingegen gehen schon Erstsemester souverän mit der digitalen
Technik um. Ihre Freizeit verbringen die Studierenden des aktuellen
Jahrgangs gern in beliebten Chatrooms wie "Mxit". Ohne Frage, der
Alltag dieser jungen Südafrikanerinnen und Südafrikaner
ist von der globalen Jugendkultur geprägt, in der sie sich
vollkommen zu Hause fühlen.
Multikultur und Ethnizität
Wie jede Einrichtung im heutigen Südafrika ist auch die UWC
verpflichtet, die "Rasse" aller Beschäftigten und Studierenden
statistisch zu erfassen, um auf dieser Grundlage die
Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu beheben. Demzufolge sind
derzeit etwas über 60 Prozent der Studierenden "Farbige", etwa
ein Drittel haben sich als "schwarz/afrikanisch" definiert,
während nur wenige Studierende als "Inder" oder "Weiße"
registriert sind. Früher gab es gar keine weißen
Studierenden an der Universität, deren immer noch kleine, aber
seit ein paar Jahren stetig zunehmende Zahl ist daher durchaus
bemerkenswert. Knapp zehn Prozent der Studierenden stammen aus dem
Ausland, vor allem aus dem südlichen Afrika und
ostafrikanischen Ländern, wie Kenia oder Ruanda. Auch diese
Internationalisierung der Studentenschaft ist eine relativ neue
Entwicklung. Der Rückgang des Anteils schwarzer Studierender
im vergangenen Jahrzehnt hat unter anderem dazu geführt, dass
"rassisch" motivierte Argumente in der Studentenpolitik
gelegentlich eine Rolle spielen. Während der Wahlen zum
Student Representative Council im August 2008 hängte zum
Beispiel eine der zur Wahl stehenden Organisationen in den
Hörsaalgebäuden Transparente auf, in denen rhetorisch
gefragt wurde, ob die Abnahme des prozentualen Anteils schwarzer
Studierender von 46 auf 34 Prozent ein "Zufall" sei, oder ob dies
vielleicht doch "absichtlich" geschehen sei, um sie vom Studium an
der UWC auszuschließen. Die Studierenden sind aber nur
teilweise um die (Zahlen-) Verhältnisse zwischen den
"Rassengruppen" besorgt; diesbezügliche Spannungen gibt es -
glücklicherweise - nur selten. Wie in Untersuchungen zur
Jugendkultur beobachtet, sind die jungen Südafrikanerinnen und
Südafrikaner heute in der Regel sehr viel "farbenblinder" als
die älteren.
6 Unterschiede werden eher als
"kulturell" wahrgenommen, wobei es dabei manchen Untersuchungen
zufolge hauptsächlich um als selbstverständlich
angenommene populärkulturelle Vorlieben von Jugendlichen der
verschiedenen "rassischen" Gruppen geht.
7 Andererseits spielen sogenannte
"traditionelle", ethnisch definierte Gebräuche auch im Diskurs
unter den Studierenden eine nicht zu vernachlässigende Rolle.
Bezeichnend sind dafür die zunehmenden Ankündigungen von
"kulturellen" Studentenverereinigungen, die sich über
ethnische Zugehörigkeit definieren. Manche Organisationen
drücken das schon in ihrem Namen aus; es gibt zum Beispiel
eine Gruppe, die sich "Zulu Kingdom" nennt. Die
mitgliederstärkste "kulturelle" Studentenorganisation nennt
sich "Abambo". Obwohl der Name sich historisch eindeutig auf die
Xhosa-Gruppen bezieht, aus denen die Mehrheit der schwarzen
Studierenden stammen, verneint der Vorsitzende eine ethnische
Orientierung. Dies wird von vielen Studierenden allerdings anders
verstanden, obwohl es - so sagen die Abambo-Aktivisten - ihr
explizites Ziel sei, kulturelle Veranstaltungen zu organisieren,
bei denen Studierende verschiedener ethnischer Herkunft ihre
"Kulturen aufführen", um "sich besser kennenzulernen". Sie
führen etwa im Rahmen von "kulturellen Tagen" in den
weitläufigen Wohnheimkomplexen traditionelle Tänze und
Gesänge auf. Für ein paar Stunden tauschen sie dann ihre
modische Kleidung gegen "traditionell-afrikanische" Lendenschurze
oder Lederschärpen ein. Was steckt dahinter? Wie stehen diese
Aufführungen "traditioneller" Kultur im Verhältnis zum
Alltag auf dem multikulturellen Campus? Und wie sollen wir dabei
die immer präsenten Bezüge auf Ethnizität verstehen,
wenn die meisten Studierenden "Kultur" als Tradition bzw. Brauchtum
verstehen? Oft genug höre ich von jungen Frauen und
Männern in meinen Seminaren, dass sie befürchten, ihre
traditionell-ethnische "Kultur" im modernen Alltag zu verlieren.
Warum also diese angestrengte Suche nach der "eigenen Kultur", die
ja mit dem Alltag und der von der überwiegenden Mehrheit
geteilten Populärkultur der Studierenden wenig gemeinsam hat?
Warum ist es für diese jungen Frauen und Männer, die erst
nach dem Ende der Apartheid aufgewachsen sind, so wichtig, die
Zugehörigkeit zu einer bestimmten "Kultur" zu betonen? Wie ich
im Folgenden zeigen werde, ist die Verschiedenheit von ethnisch
definierten, weitgehend unveränderlichen und kohärenten
"Kulturen", die als "Eigentum" jeweils genau bezeichneter
ethnisch-sozialer Gruppen verstanden werden, in der Tat ein
zentrales Moment der Selbstvergewisserung vieler, auch vieler
junger Südafrikanerinnen und Südafrikaner.
Identität und Nationalität
Anfang 2008 behandelte ich in einer Lehrveranstaltung das Thema
"Prozesse von Identitätsformierung in Südafrika". In den
dazu eingereichten Arbeiten zeigte sich bei einigen Studierenden
eine deutliche Sorge angesichts der zentralen Rolle von ethnischer
"Identität" im alltäglichen und öffentlichen
Diskurs. Sie sahen darin ein "Krebsgeschwür", das aus den
Zeiten der Apartheid in das "neue Südafrika"
hinüberwuchert, und befürchteten, dass dies
schlimmstenfalls sogar zu ethnischer Gewalt führen könne.
Einige andere wiederum machten sich Gedanken darüber, wie ihre
Einbindung in die globalisierte Welt in neue Hoffnung auf
Gemeinsamkeit münden könne. Diese jungen Leute vertrauen
darauf, dass sie als die erste Generation der "Freigeborenen"
(born-frees) des Landes selbstbewusst Technologien und Kulturstile
der globalen Jugendkultur aufnehmen und neu besetzen können,
um damit Gemeinsamkeiten zu schaffen und die Trennlinien der
Vergangenheit zu überwinden: "We all listen to the same music,
hip-hop, and value the same cars", schrieb eine Studentin. In
diesem hoffnungsvollen Kommunikationsstrang spielten neue digitale
Medien eine zentrale Rolle ("We all speak Mxit"). Die
überwiegende Mehrheit der 180 Studierenden - die meisten von
ihnen zwischen 1985 und 1988 geboren - aber drückte aus, was
ein Student mit den Worten beschrieb: "We all belong to different
cultures. Only a completely ignorant person would deny this." Diese
Studierenden waren sich einig: Zentral für "unsere
Identität" ist, dass wir zu einer jeweils ethnisch bestimmten,
von anderen unterschiedenen "kulturellen Gruppe" gehören. Auf
den ersten Blick klingt das ganz so, wie der südafrikanische
Ethnologe John Sharp vor 20 Jahren das Grundkonzept der
Apartheidgesellschaft beschrieb: "To many South Africans it is
self-evident, a matter of common sense, that the society consists
of different racial and ethnic groups, each of which forms a
separate community with its own culture and traditions. It is
believed that such groups actually exist objectively in the real
world, and that there is nothing anybody can do to change this."
8 Wenn ich
entsprechende Aussagen heute in den Arbeiten von Studierenden lese,
die zum Teil noch nicht mal eingeschult waren, als Nelson Mandela
1994 zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten
Südafrikas wurde, frage ich mich, ob deren
selbstverständliche Annahme unabänderlicher Trennlinien
zwischen jeweils ethnisch eingegrenzten "Kulturen" tatsächlich
der Apartheid-Vergangenheit geschuldet ist. Zum Teil sicherlich ja,
aber es wäre verkehrt anzunehmen, dass nur sie allein
dafür verantwortlich ist. Anders als vor 1994 ist heute in
Südafrika Identität der zentrale Begriff, um zu
verstehen, wie ethnisch-kulturelle Unterschiede in individuelles
und kollektives Selbstverständnis umgedeutet werden. Wie Adam
Kuper schreibt, ist "kulturelle Identität" für viele
Menschen tief persönlich und hoch politisch zugleich.
9
Fallstudien auf allen Kontinenten haben gezeigt, dass es ein
Wechselspiel von Faktoren gibt, die zum einen "homogenisieren"
(z.B. die globale Jugendkultur) und zum anderen "heterogenisieren".
Letzteres bedeutet, dass vorgeblich althergebrachte,
festgefügte Besonderheiten der eigenen ethnischen oder
ethnisch-nationalen Gruppe betont werden. Dies schließt immer
auch die Abgrenzung von den "Anderen" ein und kann mitunter zu
gewalttätigen ethnischen Konflikten führen.
10 Für viele
junge Studierende in Südafrika stellt sich das weit weniger
problematisch dar. Für sie ist ethnische Identität und
Differenz gewissermaßen natürlich und unabdingbar
für die Konstitution des "neuen Südafrika". Im März
2008 fragte ich zum Beispiel in einer Vorlesung: "Does a South
African culture exist?" Die Studierenden waren sich einig, dass es
so etwas wie eine allen gemeinsame südafrikanische Kultur
nicht gebe. Die Grundlage des "neuen Südafrika" sei doch eben
die Harmonie des Regenbogens: "The one thing we have in common is
that we are all so different, yet we get along so well." Die
wichtigste "Qualifikation" für die Zugehörigkeit zur
südafrikanischen Nation heute ist für viele Studierende -
wie auch für die meisten führenden Politikerinnen und
Politiker -, dass man einer ethnisch definierten "Kultur"
angehört. Diesem weit verbreiteten Denken zufolge kann man
ohne "eigene Kultur" (my culture) kein Südafrikaner, keine
Südafrikanerin sein. Eine solche Vorstellung von politisierter
kulturell-ethnischer Verschiedenheit ist im gegenwärtigen,
neoliberalen Zeitalter jedoch nicht nur in Südafrika, sondern
weltweit üblich.
11
Xenophobie
"Identität" tritt in Südafrika wie andernorts vor allem
in der Form sozialer und politischer Ansprüche auf.
Während die Identitätspolitik, im Ganzen betrachtet, seit
1994 bislang kaum beunruhigende Folgen hatte, führte die
brutale Gewalt, die sich im Mai und Juni 2008 in
südafrikanischen Townships gegen Migrantinnen und Migranten
aus anderen afrikanischen Ländern entlud, zu intensivem
Nachdenken und Ursachenforschung.
12 Owen Sichone, der schon seit
langem die Situation der afrikanischen Migranten in Kapstadt
untersucht, vertritt die Auffassung, dass Armut und die
Enttäuschung über das Ausbleiben der erhofften raschen
sozialen Verbesserungen zu einem gewissen Grad für die
Eskalation verantwortlich seien, dass es letztlich aber keine
gradlinige Erklärung gebe.
13 Wie stehen junge
Südafrikanerinnen und Südafrikaner zur
Fremdenfeindlichkeit? In einem Pressebericht, in dem junge
Täter zu Wort kamen, sagt der 20-jährige Wandile Langa,
dass es in seinem Township schon immer Probleme mit kwerekwere
("Stotterer", wie afrikanische Ausländer herabsetzend genannt
werden) gegeben habe, die den Südafrikanern zustehende Jobs
wegnehmen und auch ganz allgemein die Vorzüge "unserer
Freiheit" ernten würden.
14 Andere weitverbreitete Mythen
deuten auf sexuelle Eifersucht hin ("die Ausländer" nehmen uns
"unsere" Frauen weg). Auch wird die hohe Kriminalitätsrate
gerne Nicht-Südafrikanern, vor allem Nigerianern,
zugeschrieben, wenngleich dies keineswegs statistisch signifikant
ist. Nicht zuletzt werden afrikanische Migranten der Verbreitung
von Krankheiten, insbesondere von HIV/Aids verdächtigt. Solche
fremdenfeindlichen Klischees sind zumindest teilweise den
unsicheren Lebensgrundlagen, insbesondere denen junger Männer,
geschuldet. Die UWC blieb von der fremdenfeindlichen Gewalt nicht
unberührt. Ausländische Studierende berichteten, dass sie
in Sammeltaxis beschimpft und bedroht wurden. Auf dem
Universitätsgelände kam es zum Glück zu keinen
Angriffen, und die Universität, die inmitten der von den
Gewalttaten erschütterten Townships liegt, wurde zu einer
Basis zahlreicher friedlicher Initiativen. Beschäftigte und
Studierende organisierten materielle Unterstützung für
die Verfolgten sowie Protestversammlungen auf dem Campus und im
Stadtzentrum. Die Universitätsleitung wandte sich in einer
scharf formulierten öffentlichen Erklärung gegen die
Gewalt. Kann daraus geschlossen werden, dass das Verhältnis
zwischen südafrikanischen und internationalen Studierenden
frei von Stereotypen, Diskriminierung und Ausgrenzung ist? Knapp
ein Jahr nach der Gewaltwelle von 2008 leitete ich ein
Lehrforschungsprojekt mit Studierenden zu Xenophobie an der UWC, in
dessen Rahmen je 200 südafrikanische und ausländische
Studierende in offenen Interviews befragt wurden. Diese ergaben
unter anderem: Erstens: Nur afrikanische Studierende erlebten
Diskriminierung und hatten oft den Eindruck, nicht willkommen zu
sein. Niemand unter den Befragten, die aus Europa, Nordamerika oder
Asien stammten, fühlte sich diskriminiert, im Gegenteil: Viele
südafrikanische Kommilitoninnen und Kommilitonen suchten aktiv
Kontakt mit ihnen. Die befragten Südafrikaner bestätigten
dies: Sie machten einen klaren Unterschied zwischen
"ausländischen", das heißt afrikanischen, und
"internationalen", außer-afrikanischen Studierenden. Letztere
werden als bereichernd im studentischen Leben wahrgenommen; die
"Ausländer" hingegen werden von vielen südafrikanischen
Studierenden abgelehnt. Zum Teil liegt dieser Haltung offenkundig
kultureller Rassismus zu Grunde. So beklagte sich zum Beispiel eine
Studentin aus Tansania, dass "ausländische" Studierende zum
Teil aus den Gemeinschaftsküchen der Wohnheime gedrängt
worden seien, weil den "Einheimischen" der Geruch von scharf
gewürztem afrikanischem Essen nicht gepasst habe. Zweitens
wurde in unserer Untersuchung deutlich, dass Sprache eine zentrale
Rolle bei der Ausgrenzung von "Ausländern" spielt.
Insbesondere Xhosa-sprachige Studierende scheinen oft anzunehmen,
dass alle Afrikaner "ihre Sprache" sprächen, und wenn sie dies
nicht können, dies eine Barriere darstelle. In Wirklichkeit
ist Englisch Vorlesungssprache an der UWC, das von allen
Studierenden weitgehend beherrscht wird. Das Argument zeigt nur
einmal mehr, dass sich Fremdenfeindlichkeit in Südafrika
generell über "Hautfarbe" und "Sprache" manifestiert und
dunkelhäutige Menschen, die keine einheimischen Sprachen oder
diese nur mit Akzent sprechen, als kwerekwere ausgegrenzt,
diskriminiert und eben auch gewaltsam angegriffen werden
können. Drittens: Obgleich Verallgemeinerungen in solchen
komplexen Zusammenhängen nur begrenzte Aussagekraft haben,
fiel auf, dass sich unter den südafrikanischen Studierenden
vor allem eine Gruppe besonders oft fremdenfeindlich
äußerte oder behauptete, dass Xenophobie in
Südafrika "kein Problem" darstelle: Die Xhosa-sprachigen
Männer, und darunter inbesondere jene, die wenig erfolgreich
in ihrem Studium waren. Offensichtlich fühlten sich diese von
den häufig überdurchschnittlichen befähigten
"Ausländern" bedroht, während sich viele der besseren
unter den südafrikanischen Studierenden mit ihren
"ausländischen" Kommilitonen solidarisierten und
Freundschaften pflegten.
HIV/Aids und Gender
In Universitätsseminaren ist von den angesprochenen
Bedrohungsängsten selten etwas zu hören. Dort
präsentieren sich die Studierenden zumeist selbstbewusst. Wenn
man aber genauer hinhört, zeigen sich vor allem bei vielen
jungen Männern Bruchstellen und Verletzlichkeiten. Der
südafrikanische gender-Spezialist
15 Robert Morell argumentiert,
dass die Ängste junger Männer zum einen globalen
Entwicklungen geschuldet seien, vor allem dem Verlust von Tausenden
von Arbeitsplätzen seit dem Ende der Apartheid. Zum anderen
habe der historische Umbruch in Südafrika neue Unsicherheiten
hervorgerufen: Unter anderem fordere die - zumindest rhetorisch -
ungewöhnlich radikale und seit 1996 in der Verfassung
verankerte Politik der Geschlechtergleichstellung die Männer
zu neuem Verhalten heraus. Morell schreibt, dass zwei Grundformen
von Reaktionen zu beobachten seien: Einerseits reagierten
Männer mit zunehmender sozialer Gewalt untereinander und vor
allem mit geschlechterspezifischer Gewalt gegen Frauen.
Andererseits hätten sich auch hoffnungsträchtige neue
Formen von männlichem Selbstverständnis entwickelt.
16 Unter
den Studenten der UWC lassen sich in der Tat beide Reaktionen
beobachten. Im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse werden in
Südafrika häufig zwei soziale Probleme genannt: die
bereits erwähnten gewalttätigen Beziehungen und die hohe
Rate von HIV-Infizierten bzw. an Aids Erkrankten. Von HIV/Aids sind
besonders junge Frauen im Alter von 15 bis 24 Jahren betroffen, vor
allem dann, wenn sie sexuelle Beziehungen mit älteren
Männern eingehen, in denen sie wenig zu sagen haben. Dies wird
auch gelegentlich als ein Problem von Studentinnen berichtet, die
an der UWC die Mehrheit (60 %) der Studierenden stellen. Wenngleich
Statistiken über sexuelle und interpersonelle Gewalt notorisch
unzuverlässig sind - in Südafrika wie anderswo -, kann
kein Zweifel darüber bestehen, dass die vorgestellte und reale
Bedrohung durch Gewalt ein allgegenwärtiges Phänomen ist.
"Violence is everywhere", beschrieb eine Studentin ihren Alltag
außerhalb, aber auch innerhalb der Universität. Eine
andere Studentin berichtete, dass sie eines Abends im Wohnheim
Ohrenzeugin wurde, wie ihre Zimmernachbarin von ihrem Freund
geschlagen wurde, aber dass sie nicht eingreifen wollte, weil sie
befürchtete, dann selbst zum Opfer zu werden. Erzwungener
Geschlechtsverkehr ist an der UWC kursierenden Gerüchten
zufolge ein beinahe alltägliches Vorkommnis in den Wohnheimen,
von dem besonders Erstsemesterinnen betroffen sind. Trotz aller
Gleichstellungspolitik scheinen auch nach 1994 viele Studierende
alte Stereotype von geschlechtstypischem Verhalten verinnerlicht zu
haben, die junge Frauen zu Unterwürfigkeit und ihre
männlichen Kommilitonen zu macho-bravado anhalten.
17 Es
gibt unter jungen Südafrikanern aber auch andere Ansätze
von Geschlechterbeziehungen, die sich gerade in der
Auseinandersetzung mit der HIV/Aids-Epidemie entwickelt haben. Die
neueste, großangelegte Studie zeigt, dass trotz der insgesamt
immer noch extrem hohen Infektionsrate (über 15 Prozent der 15
- 49-Jährigen) der Anteil der Infizierten unter den
Jugendlichen (15 - 24 Jahre) von 10,3 Prozent im Jahre 2005 auf 8,6
Prozent im Jahr 2008 zurückgegangen ist. Besonders
ausgeprägt war der Rückgang unter den Teenagern (15 - 19
Jahre).
18 Während lange Zeit die
meisten HIV-Kampagnen den Virus mit einem sicheren baldigen Tod und
oft genug auch mit mangelhafter Sexualmoral assoziiert haben, sind
in den vergangenen Jahren neue Ansätze entwickelt worden, um
das Problem zu thematisieren. In Bezug auf Jugendliche ist hier
besonders die Organisation LoveLife bedeutsam, die mit
Medienkampagnen und anderen Aktivitäten 79,1 Prozent der
Südafrikanerinnen und Südafrikaner im Alter von 15 bis 24
Jahren erreicht.
19 LoveLife wurde 1999 mit dem
Ziel gegründet, mit innovativen Ansätzen Jugendliche zu
Verhaltensänderungen zu bewegen. Zentral dabei ist, dass diese
regierungsunabhängige Organisation bewusst nicht als eine
öffentliche Gesundheitskampagne wahrgenommen werden will,
sondern HIV/Aids nur als Teil ihres Anspruchs versteht,
Jugendlichen anspruchsvolle Lebensziele und eine "neue positive
Kultur" zu vermitteln. LoveLife stellt sich als Markenname (brand)
dar, um die junge Generation anzusprechen, für die Markennamen
von Mode oder Mobiltelefonen so wichtig in ihrem Bestreben nach
einem "coolen" Lebensstil sind. Die Grundidee dabei ist, dass junge
Leute, die Hoffnung auf ein besseres Leben haben, auch mehr
Vorsicht in ihren sexuellen Begegnungen walten lassen. Initiativen
wie LoveLife oder auch die bei Jugendlichen populäre
Fernsehserie "Yizo Yizo" zeigen der Kwaito-Generation, wie die
heutigen Jugendlichen oft nach dem populären
südafrikanischen Musikstil gleichen Namens genannt werden,
alternative Lebensentwürfe auf. Sie propagieren - was für
die vor 1994 extrem puritanische südafrikanische Gesellschaft
ganz erstaunlich ist - öffentlich Ideen von freier
Sexualität, einschließlich gleichgeschlechtlicher
Beziehungen und verbinden "sexuellen Dialog" mit einem "positiven
Lebensstil". Nach dem Motto "Lasst uns über Sex reden!"
fordern sie die Jugendlichen auf, verantwortungsbewusste
Entscheidungen über ihr Leben und ihre Zukunft zu treffen
("Sex nur mit Kondom"; "Lasst Euch testen, damit Ihr wisst, was
Sache ist"). Trotz des Aufklärungscharakters dieser Kampagnen
steht bei ihnen der Spaßfaktor im Vordergrund.
Neue Kultur sozialer Beziehungen?
Die Postapartheid-Jugendlichen verstehen ihre "hypercoolen"
Selbststilisierungen eindeutig als Teil der kosmopolitisch
orientierten, neuen Jugendkultur, wie Elaine Salo schreibt, die in
Kapstädter Townships Jugendliche und gender erforscht hat.
20
Während Sozialwissenschaftler sich kritisch zu der offen zur
Schau gestellten Konsumorientierung der Jugendlichen
äußern, und deren zentralen Stellenwert für
Geschlechteridentitäten bedauern,
21 steht die Bedeutung von
Organisationen wie LoveLife außer Frage, wenn es um sich
ändernde persönliche Vorstellungen von kulturellen und
geschlechtlichen Beziehungen geht. Der 19-jährige Luvuyo zum
Beispiel, den ich 2005 im LoveLife-Jugendzentrum im Kapstädter
Township Langa kennenlernte, demonstrierte dies eindrucksvoll in
Fotos und Kommentaren, in denen er das Zentrum und seine Umgebung
darstellte. Er erklärte das Bild einer Gruppe junger Frauen
und Männer in der Küche des Zentrums stolz mit den
Worten: "It is no longer the case that only women enter a kitchen."
In mehreren Bildern zeigte er, wie junge Leute verschiedener
Hautfarbe selbstverständlich miteinander umgingen, was er als
einen wichtigen Aspekt der von LoveLife propagierten "neuen
positiven Kultur" beschrieb.
22 Ein junger Mann wie Luvuyo, der
damals gerade die Oberschule abgeschlossen hatte und hoffte, trotz
seiner Herkunft aus einem armen Township bald ein Studium beginnen
zu können, kann, allen Problemen wie Armut, Gewalt und
HIV/Aids zum Trotz, als Hoffnungsträger der jungen Generation
Südafrikas gelten. Er fühlte sich überall in
Kapstadt zu Hause, obwohl auch ihm bewusst war, wie sehr gerade
diese südafrikanische Metropole immer noch sozial und nach
"Rasse" segregiert ist. Dieser selbstbewusste und nachdenkliche
19-Jährige sah sich darüber hinaus als Teil einer
globalen Jugendkultur. Wenngleich nicht ganz typisch, demonstrieren
solche jungen Südafrikaner neue Wege, um sowohl die von der
früheren Generation ererbten als auch die neu entstandenen
Herausforderungen der südafrikanischen Gesellschaft anzugehen.
1 Graeme
Codrington, Is Race a Good Indicator of Youth Culture, 24. 8. 2005,
in: www.connectioneco nomy.com (20. 10. 2009).
2 Ich setze "Rasse" durchweg in
Anführungszeichen, um klarzustellen, dass es sich um eine
soziale Konstruktion und keineswegs um eine biologische Kategorie
handelt.
3 Leider lassen sich auch heute noch die
"Rasse"-Kategorien der Apartheid in Südafrika nicht vermeiden,
denen zufolge "coloureds" als Menschen gemischter Herkunft von
"africans/blacks" unterschieden werden. In Kapstadt stellen
"coloureds" etwas mehr als die Hälfte der
Bevölkerung.
4 Vgl. Jeffrey Lever, Report from UWC:
Radical Rhetoric Gives Way to Bitter Reality, in: Focus. Magazine
of the Helen Suzman Foundation, 13 (1999), online:
www.hsf.org.za/resource-centre/focus/issues- 20 -
11/issue-13-first-quarter-1999 (14. 10. 2009).
5 Vgl. Terri Barnes, Merre Christmas,
14. 12. 2007, in: www.thoughtleader.co.za (11. 10. 2009).
6 Vgl. G. Codrington (Anm. 1).
7 Vgl. Nadine Dolby, Constructing Race:
Youth, Identity, and Popular Culture in South Africa, Albany
2001.
8 Vgl. John Sharp, Introduction:
Constructing Social Reality, in: Emile Boonzaier/John Sharp (eds.),
South African Keywords. The Uses and Abuses of Political Concepts,
Cape Town 1988, S. 1.
9 Vgl. Adam Kuper, The Culture of
Discrimination, in: Reginald Byron/Ullrich Kockel (eds.),
Negotiating Culture. Moving, Mixing and Memory in Contemporary
Europe, Münster 2006, S. 186.
10 Vgl. Birgit Meyer/Peter Geschiere
(eds.), Globalization and Identity. Dialectics of Flow and Closure,
Oxford 2003.
11 Vgl. John Comaroff/Jean Comaroff,
Reflections on Liberalism, Policulturalism & ID-ology:
Citizenship & Difference in South Africa, in: Steven Robins
(ed.), Limits to Liberation after Apartheid: Citizenship,
Governance & Culture, Oxford 2005.
12 Vgl. Adrian Hadland (ed.), Violence
and Xenophobia in South Africa: Developing Consensus, Moving to
Action, Pretoria 2008; Shireen Hassim/Tawana Kupe/Eric Worby
(eds.), Go Home Or Die Here: Violence, Xenophobia and the
Reinvention of Difference in South Africa, Johannesburg 2008.
13 Vgl. Owen Sichone, Xenophobia, in:
Nick Shepherd/Steven Robins (eds.), New South African Keywords,
Johannesburg-Athens 2008.
14 Vgl. Thembelihle Tshabalala/Monako
Dibetle, Inside the Mob, 22. 5. 2008, in: www.mg.co.za (12. 10.
2009). Siehe hierzu auch den Artikel von Norbert Kersting in dieser
Ausgabe.
15 Im Folgenden verwende ich den
englischen Begriff gender für Geschlechteridentitäten und
-praktiken.
16 Vgl. Robert Morrell, The New Man?,
in: Agenda, 37 (1998), S. 7-12.
17 Vgl. Bridgett Sass, Coping with
Violence: Institutional and Student Responses at the University of
the Western Cape, Bellville 2005 (MA dissertation).
18 Vgl. Olive Shisana u.a., South
African National HIV Prevalence, Incidence, Behaviour and
Communication Survey 2008: A Turning Tide Among Teenagers?, Cape
Town 2009, S. xvii.
19 Vgl. ebd., S. 59.
20 Vgl. Elaine Salo, Negotiating Gender
and Personhood in the New South Africa. Adolescent Women and
Gangsters on the Cape Flats, in: European Journal of Cultural
Studies, 6 (2003) 3, S. 345-365.
21 Vgl. dies./Bianca Davids, Glamour,
Glitz and Girls: The Meanings of Femininity in High School Matric
Ball Culture in Urban South Africa, in: Melissa Steyn/Mikki van Zyl
(eds.), The Prize and the Price. Shaping Sexualities in South
Africa, Cape Town 2009, S. 47.
22 Vgl. Heike Becker, Negotiating
Culture in Contemporary South Africa: Photographic
Self-Representations >From the Cape Flats, Basel 2008. Siehe
auch die Internetseite des Fotoprojektes:
http://howweseeourculture.org/exhibition.html.