Ehemalige Bundestagspräsidentin im Alter von 88 Jahren gestorben
Die frühere Bundestagspräsidentin und SPD-Politikerin Annemarie Renger ist in der Nacht zum Montag, dem 3. März 2008, im Alter von 88 Jahren gestorben. 1972 war sie als erste Frau und Sozialdemokratin zur Präsidentin des Bundestages gewählt worden und hatte dieses Amt vier Jahre lang ausgeübt.
Bundestagspräsident Norbert Lammert würdigte sie am
Montag als eine bedeutende Parlamentarierin. Sie habe ihr Amt "mit
Bestimmtheit und Würde" ausgeübt und wichtige
Parlamentsreformen auf den Weg gebracht.
Am 13. März 2008 wird das Parlament mit einem Staatsakt an
die Verstorbene gedenken. Vor Sitzungsbeginn am Donnerstag, dem 6.
März 2008, hielt der Bundestag eine Gedenkminute ab.
"Der Deutsche Bundestag und unser Land haben Annemarie Renger viel zu verdanken", so Lammert. "Mit ihr haben wir eine bedeutende Parlamentarierin verloren, eine engagierte Demokratin, eine Abgeordnete mit Leib und Seele. Annemarie Renger war in der Geschichte des Deutschen Bundestages die erste Frau und Sozialdemokratin, die dieses Amt innehatte und sie übte es so gerne wie überzeugend aus - mit Bestimmtheit und Würde. Kennzeichnend war ihr gelegentlich energischer Durchsetzungswille, den alle Parlamentarier, über Fraktionsgrenzen hinweg, erleben durften."
In ihrer Amtszeit, betonte Lammert, habe sie wichtige
Parlamentsreformen auf den Weg gebracht und den Kontakt zu den
ausländischen Parlamenten vertieft - etwa zur israelischen
Knesseth und zum polnischen Sejm. "Sie suchte und fand den
Kontakt zum Bürger."
Kaum eine andere Politikerin ist mit der Geschichte des
Bundestages so eng verbunden wie Annemarie Renger und das über
Jahrzehnte hinweg. 37 Jahre lang war sie Abgeordnete - von Anfang
der 50er Jahre bis zur Wahl des ersten gesamtdeutschen Parlamentes
1990. In den 70er-Jahren galt sie als die bekannteste Politikerin
des Landes. 1972 stand sie für vier Jahre an der Spitze des
Parlaments als dessen Präsidentin. Sie war nicht nur die erste
Frau, sondern auch die erste Sozialdemokratin in diesem Amt.
Für die damalige Zeit eine Revolution.
Annemarie Renger wollte die Rolle der Frau in der Politik nie in
den Vordergrund stellen. In ihrer Antrittsrede sagte sie vor dem 7.
Deutschen Bundestag: "Die Wahl einer Frau für dieses Amt hat
verständlicherweise einiges Aufsehen erregt. Das Erstmalige
und mithin Ungewohnte gerät in die Gefahr, zum Einmaligen und
Besonderen erhoben zu werden." Doch sie betone, "dass die Frauen
unter den Mitgliedern des Hohen Hauses keine Ausnahmestellung
wünschen." Ihre Wahl solle dazu beitragen, jene Vorurteile
abzubauen, "die einer unbefangenen Beurteilung der Rolle der Frau
noch immer entgegenstehen." Durch ihre erfolgreiche,
unermüdliche parlamentarische Arbeit und als Wegbereiterin
für die Gleichberechtigung von Frauen in der Politik erwarb
sich die über alle Parteigrenzen hinweg geschätzte
Politikerin den Beinamen "Grande
Dame".
Als jüngstes von sieben Kindern wurde sie als Annemarie Wildung am 7. Oktober 1919 in Leipzig geboren. Sie wuchs in einer Familie mit langer sozialdemokratischen Tradition auf. Der Vater war Stadtrat in Leipzig und Chefredakteur der "Arbeiter-Turnzeitung". 1924 zog die Familie nach Berlin. Die Tochter besuchte das Gymnasium, musste die Schule 1933 aber verlassen. Wegen der politischen Einstellung ihrer Eltern wurde ihr das Stipendium gestrichen. Sie begann eine Lehre zur Verlagskauffrau, heiratete und bekam einen Sohn. Ihr Mann fiel im Zweiten Weltkrieg.
Gleich bei Kriegsende zog es die junge Frau dann in die Politik. Im Mai 1945 schrieb sie an Kurt Schumacher, dem ersten Vorsitzenden der SPD, einen Brief. Sie suchte dringend Arbeit und fragte bei ihm an, ob sie für ihn tätig werden könne. Im Oktober desselben Jahres wurde sie dessen Sekretärin. Bald wurde sie eine der engsten Mitarbeiterinnen und Vertraute von Schumacher. Er förderte ihr politisches Talent. Nach Schumachers Tod ging sie aktiv in der Politik und wurde 1953 in den Bundestag gewählt. Als erste Frau in der SPD übernahm sie wenig später die parlamentarische Geschäftsführung ihrer Fraktion.
Von 1962 bis 1973 war sie Mitglied des SPD-Parteivorstandes, von
1970 bis 1973 Mitglied des SPD-Parteipräsidiums. Von 1979 bis
1986 gehörte sie der Kontrollkommission der SPD an.
Nach ihrer vierjährigen Amtszeit als
Bundestagspräsidentin blieb sie bis zu ihrem Ausscheiden aus
dem Parlament Vizepräsidentin des Bundestages. 1990
kandidierte sie nicht mehr für den Bundestag. Danach
engagierte sie sich in vielen Ehrenämtern und
veröffentlichte ihre Erinnerungen in dem Buch "Ein politisches
Leben". So war sie als Vorsitzende der Kurt-Schumacher Gesellschaft
und als Präsidentin des Arbeiter-Samariter-Bundes
tätig.
Renger engagierte sich über viele Jahrzehnte hinweg für eine Verbesserung der deutsch-israelischen Beziehungen. Als Ausdruck der hohen Wertschätzung dieses Engagements verlieh ihr die Ben Gurion Universität in Beersheva (Israel) die Ehrendoktorwürde. 1991 erhielt sie zusammen mit Hildegard Hamm-Brücher die Buber-Rosenzweig-Medaille. 2006 ehrte sie die Jüdische Gemeinde in Berlin mit dem Heinz-Galinski-Preis.