Zukünftige Kernenergie-Politik (1979-1983)
Kernenergie, Globalisierung, Gentechnologie - es sind stets Zukunftsfragen, mit denen sich Enquete-Kommissionen befassen. Mit diesen überfraktionellen, von Abgeordneten und Sachverständigen besetzten Arbeitsgruppen versucht das Parlament, über den Tellerrand der Tagespolitik hinauszublicken und Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme zu finden. Für den Bundestag sind Enquete-Kommissionen zu einem wichtigen Instrument der Entscheidungsvorbereitung geworden.
Sicher, umweltfreundlich, wirtschaftlich - die Kernenergie galt noch in den 1960er-Jahren als die Lösung aller Energieprobleme. Gerade die Ölkrise 1973 hatte die Sorge vieler bestätigt, ohne Atomkraft sei die deutsche Wirtschaft zu stark abhängig von importierten Energieträgern wie Öl und Erdgas. Daher setzte die sozialliberale Koalition auf den Ausbau der Kernenergie, um den prognostizierten, steigenden Energiebedarf zu sichern. 40 neue Atommeiler sollten bis zum Jahr 1985 gebaut werden. Doch dagegen regte sich ab Mitte der 1970er-Jahre Widerstand.
Zu den ersten großen Protesten kam es 1975 im südbadischen Wyl, wo Atomkraftgegner den Bauplatz des Kraftwerks monatelang besetzten. Eine Aktion, die für Demonstranten in Brokdorf, Kalkar oder Gorleben zum Vorbild wurde. In wenigen Jahren wuchs der Anti-Atom-Protest zur stärksten Bürgerbewegung in der Bundesrepublik heran: 1976 sprachen sich 47 Prozent der Bundesbürger in Umfragen gegen die Kernenergie aus. 1979 demonstrierten in Bonn 150 000 Menschen für die Stilllegung aller Atomanlagen.
Die Politik reagierte: Im selben Jahr, am 29. März 1979, beschloss der Bundestag einstimmig die Einsetzung einer Enquete-Kommission, um die "zukünftige Kernenergiepolitik unter ökologischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und Sicherheits-Gesichtspunkten darzustellen und Empfehlungen für entsprechende Entscheidungen vorzubereiten". Ihr gehörten 15 Mitglieder an: sieben Abgeordnete und acht Energiewissenschaftler. Wie der CDU-Abgeordnete Adolf Freiherr Spies von Büllesheim hofften viele, der Bericht der Kommission werde zu einer "Versachlichung der Diskussion" führen. Die Kommission werde keine "Hinterstubenkommission", sein, versprach Reinhard Ueberhorst (SPD), sondern "das Ohr dort haben, wo Anliegen zwischen Mühlheim und Gorleben ausgesprochen werden".
Dennoch gab es auch skeptische Untertöne: So warnte Spies von Büllesheim die SPD/FDP-Koalition davor, die Kommission als "Alibiverein" zu benutzen, um wichtige Entscheidungen "auf unabsehbare Zeit zu verschieben". Konkret meinte er damit die Entscheidung über die Nutzung des "Schnellen Brüters", einer neuen Generation von Atomreaktoren: Der Reaktor sollte gleichzeitig zur Energiegewinnung und zur Erzeugung von spaltbarem Material dienen - seit 1973 fand sich ein solcher Brutreaktor im niederrheinischen Kalkar im Bau, war jedoch wegen Sicherheitsbedenken vom Bundestag 1978 wieder gestoppt worden.
Der Bericht, den die Kommission im Juni 1980 zum Ende der Legislaturperiode als "Zwischenstand der Arbeit" vorlegte, sorgte für Zündstoff zwischen Koalition und Opposition. Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder war darin zu dem Ergebnis gekommen, die Nutzung von Atomenergie sei nicht unbedingt notwendig; bei Verringerung des Energiebedarfs und einem Ausbau von alternativen Energien sei ein Ausstieg möglich. Zudem empfahl das Gremium, bis zum Jahr 1990 keine endgültige Entscheidung für oder gegen Atomkraft zu treffen, sondern beide Optionen offen zu halten. Ein Ergebnis, das die CDU/CSU-Fraktion heftig kritisierte: Der Kompromiss, so Lutz Stavenhagen, verberge vor den Bürgern die wirklichen Positionen der Kommissionsmehrheit. Zudem sei der Ausbau regenerativer Energien um ein zehnfaches "unrealistisch" - und ein "totaler Energiesparstaat" den Bürgern dazu nicht vermittelbar.
Die SPD jedoch verteidigte die Ergebnisse: Mit der Beschreibung von vier möglichen "Energiepfaden" - zwischen den Extremen maximaler Ausbau der Atomkraft und totaler Verzicht - lägen nun die nötigen Sachinformationen vor, um Voraussetzungen und Folgen aller Optionen zu diskutieren, so der Abgeordnete Reinhard Ueberhorst (SPD). Zusätzlich plädierte die sozial-liberale Koalition für eine Nachfolge-Kommission nach der Bundestagswahl im Oktober 1980, zur Entscheidung über die Technologie des "Schnellen Brüters" und weitere offene Fragen, für die in den 15 Monaten der Enquete-Beratungen zu wenig Zeit geblieben war.
Nach den Bundestagswahlen, bei denen die sozial-liberale Koalition bestätigt wurde, votierte der Bundestag für eine Wiedereinsetzung der Enquete-Kommission, die im Mai 1981 ihre Arbeit aufnahm. Im September 1982 legte das Gremium schließlich seine lang erwartete Risikostudie zum "schnellen Brüter" vor, den "Bericht mit Auswertung des Gutachtens zur SNR 300". Das Urteil der Mehrheit der Kommissionsmitglieder: Das Risiko sei etwa gleich hoch einzuschätzen wie das bei den im Betrieb befindlichen Leichtwasserreaktoren.
Am 1. Oktober übernahm Helmut Kohl (CDU) schließlich nach einem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) die Regierung. Bei der Abstimmung über die Inbetriebnahme des "Schnellen Brüters" am 24. März 1983 setzte sich die neue Regierung dann gegen die Stimmen der SPD durch, die den Vorbehalt gegenüber dem Brutreaktor trotz Kommissionsempfehlung aufrecht erhalten wollte. Es gäbe nicht "genügend gesicherte Fakten, um grünes Licht für die Inbetriebnahme zu geben", begründete der SPD-Abgeordnete Ulrich Steger das Nein seiner Partei. Zudem sei der Bau des Brüters in Kalkar "aus heutiger Sicht ein Frühstart in der Wachstumseuphorie der Nachkriegszeit" gewesen, inzwischen sei er zu einem "Symbol für katastrophales Missmanagement von Staat, Industrie und Wissenschaft“ geworden.
Obwohl die Arbeit der Enquete-Kommission in der Öffentlichkeit viel Resonanz fand, blieb die konkrete Umsetzung ihrer Empfehlungen schwierig - oder erwies sich als langwieriges Unterfangen: Erst die rot-grüne Bundesregierung beschloss 2002 den Ausstieg aus der Atomkraftnutzung, heute wird über den Atomausstieg wieder heftig diskutiert.
Das Vorhaben, den "Schnellen Brüter" in Kalkar in Betrieb zu nehmen, wurde 1991 endgültig aufgegeben - die politischen Bedenken und die Zweifel an seiner wirtschaftlichen Notwendigkeit konnten auch in 20 Jahren Bauzeit nie ausgeräumt werden.