Mittwoch, 9. Juli 1919: Achtzig Abgeordnete der Weimarer Nationalversammlung fehlen, neun haben sich krank gemeldet, fünf sind beurlaubt, einer hat sich entschuldigt, als die dritte Lesung des Gesetzentwurfs "über den Friedensschluß zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten" aufgerufen wird. Von den an der namentlichen Abstimmung teilnehmenden 325 Abgeordneten stimmen 209 dem Gesetzentwurf zu, 116 votieren dagegen. Enthaltungen und ungültige Stimmen gibt es nicht. Damit hatte die deutsche Volksvertretung die Friedensbedingungen der Siegermächte des Ersten Weltkrieges angenommen. Vorausgegangen waren wochenlange hektische Bemühungen der Reichsregierung, bei den Alliierten Änderungen des "Schmachfriedens" zu erreichen.
Ein Sturm der Entrüstung ging im Mai
1919 durch das von Kapitulation und Revolutionswirren gezeichnete
Deutsche Reich, als die Friedensbedingungen bekannt wurden, die die
Siegermächte – Frankreich, Großbritannien, Italien
und die USA – Deutschland aufzuerlegen gedachten.
Das Deutsche Reich sollte ein Siebtel seines Territoriums abtreten,
in dem ein Zehntel seiner Bevölkerung lebte, außerdem
alle Kolonien. Das 1871 von Frankreich abgetretene
Elsass-Lothringen ging wieder zurück an den Nachbarn im
Westen. Die übrigen Gebietsabtretungen betrafen
ausschließlich Preußen. Unter anderem fiel der
größte Teil der Provinzen Posen und Westpreußen
ohne Volksabstimmung dem neuen polnischen Staat zu.
Auch die militärischen Bedingungen waren hart. Die Stärke des deutschen Heeres wurde auf 100.000 Berufssoldaten festgelegt, die der Marine auf 15.000 Mann. Das linke Rheinufer sollte auf 15 Jahre durch alliierte Truppen besetzt und das gesamte Rheinland entmilitarisiert werden.
Am meisten Empörung aber löste der "Kriegsschuldparagraf"
in Deutschland aus. Das Deutsche Reich und seine Verbündeten
seien, so hieß es im Artikel 231, als "Urheber für alle
Verluste und Schäden" verantwortlich, die die Alliierten
"infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und
seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben". Dieser
Artikel diente den Siegermächten als völkerrechtliche
Grundlage für ihre Forderungen nach Reparationen, die vom
Deutschen Reich in Form von umfangreichen Sachlieferungen und
Zahlungen in Goldmark in noch unbestimmter Höhe erbracht
werden sollten.
Die Koalitionsregierung aus SPD, dem katholischen Zentrum und der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) unter Reichskanzler Philipp Scheidemann hielt den Vertrag vor allem dieses Artikels wegen für unannehmbar. In der am 12. Mai 1919 in Berlin einberufenen Sitzung der Nationalversammlung rief der Sozialdemokrat – er fehlte bei der namentlichen Abstimmung am 9. Juli – die später viel zitierten Worte aus: "Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legte?"
Auch Scheidemanns Parteikollege, der Reichspräsident Friedrich
Ebert, betonte einen Tag später in einer öffentlichen
Ansprache: "Wir werden diesen Vertrag nicht unterzeichnen, komme,
was da wolle."
Doch rasch sollte klar werden, dass der Verhandlungsspielraum des
Kriegsverlierers Deutschland denkbar eng war. Eine Art
Gegenfriedensvertrag, den die deutsche Delegation den Alliierten am
26. Mai in Versailles überreichte, wurde von diesen am 13.
Juni 1919 in fast allen Punkten abgelehnt.
Drei Tage später stellten sie ein Ultimatum: Sollte die Reichsregierung dem Vertrag nicht binnen einer Woche zustimmen, würden ihre Truppen ins Deutsche Reich einmarschieren. Daraufhin trat das Kabinett Scheidemann am 20. Juni zurück. Die DDP schied vorläufig aus der Koalition aus. Neuer Reichskanzler wurde der bisherige Arbeitsminister Gustav Bauer.
Zwar erkannte Bauer, dass ihm kaum etwas anderes übrig blieb,
als die Friedensbedingungen anzuerkennen. Doch die alleinige
Kriegsschuld Deutschlands wollte auch er nicht akzeptieren. In der
Sitzung der Nationalversammlung am 22. Juni 1919 erklärte der
Sozialdemokrat: "Wenn die Regierung unter Vorbehalt unterzeichnet,
so betont sie, dass sie der Gewalt weicht, in dem Entschluss, dem
unsagbar leidenden deutschen Volk einen neuen Krieg, die
Zerreißung seiner nationalen Einheit durch weitere Besetzung
deutschen Gebietes, entsetzliche Hungersnot für Frauen und
Kinder und unbarmherzige längere Zurückhaltung der
Kriegsgefangenen zu ersparen."
Er legte aber "größten Nachdruck auf die Erklärung,
dass wir den Artikel 231 des Friedensvertrages, der von Deutschland
fordert, sich als alleinigen Urheber des Krieges zu bekennen, nicht
annehmen können".
"Wiederaufnahme des Kampfes ist aussichtslos"
Mit dieser Position konnte sich Bauer zwar in der Nationalversammlung durchsetzen: In namentlicher Abstimmung nahmen die Abgeordneten am 22. Juni 1919 mit 237 Ja-Stimmen bei 138 Nein-Stimmen und fünf Enthaltungen den Versailler Vertrag ohne Kriegsschuldparagrafen an. Doch die Reaktion der Siegermächte auf diese eigenmächtige Änderung der Friedensbedingungen war ein klares Nein.
Noch immer aber mochten sich die politisch Verantwortlichen in
Berlin und Weimar nicht mit dem Unausweichlichen abfinden. Selbst
militärischer Widerstand wurde erwogen. Doch als Ebert am 23.
Juni bei der Obersten Heeresleitung (OHL) in Kassel anrief, um die
Chancen dafür auszuloten, machte ihm Generalquartiermeister
Wilhelm Groener unmissverständlich klar: "Die Wiederaufnahme
des Kampfes ist aussichtslos. Der Friede muss daher unter den vom
Feinde gestellten Bedingungen abgeschlossen werden."
Noch am selben Tag kam die Nationalversammlung daher erneut zusammen und beschloss mit großer Mehrheit die Annahme des Vertrags in der von den Alliierten vorgelegten Fassung. Damit es schneller ging, verzichtete Reichstagspräsident Constantin Fehrenbach (Zentrum) sogar auf eine namentliche Abstimmung.
Wenige Tage später reisten Außenminister Hermann
Müller (SPD) und Verkehrsminister Johannes Bell (Zentrum) nach
Paris, wo sie den Friedensvertrag am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal
des Schlosses von Versailles unterzeichneten. Am 9. Juli 1919 wurde
er von der Nationalversammlung ratifiziert, am 10. Januar 1920 trat
er in Kraft.
Auch wenn die Bestimmungen des Versailler Vertrags in der historischen Forschung heute sehr viel differenzierter gesehen werden, als es die politisch Verantwortlichen damals taten – so betont der Berliner Historiker Heinrich August Winkler, dass er dem Deutschen Reich gute Aussichten bot, wieder zur europäischen Großmacht aufzusteigen –, so sind sich die meisten doch einig, dass vor allem der Kriegsschuldparagraf für die Weimarer Republik eine enorme Hypothek bedeutete.
So schrieb der Düsseldorfer Historiker Gerd Krumeich vor
Kurzem in der "Süddeutschen Zeitung", dass die Deutschen
unfähig gewesen seien, aus der "Schmach von Versailles" einen
gemeinsamen Abwehrwillen, eine Art Minimalkonsens zu entwickeln. Zu
eng hätten sich die Niederlage von 1918 und das
"Friedensdiktat" von 1919 mit dem Verdacht verbunden, dass die
Niederlage nicht auf dem Schlachtfeld erfolgt, sondern das Resultat
revolutionärer Machenschaften der Linken gewesen sei, so
Krumeich. "Aber der Schaden durch den Versailler Vertrag ging noch
tiefer, er führte zu einem Basisverlust an Vertrauen in die
Gestaltungskraft der neuen Staatsform."