Der russische Künstler Grisha Bruskin ironisiert im
Clubraum in einem Triptychon, dessen Titel auf die Zeile
"Deutschland über alles" anspielt, ideologische Mythen,
insbesondere die "Skulptur-Manie" Sowjetrusslands. 115 Einzelbilder
reihen sich aneinander, jeweils eine Person als
weißlich-monochromer statuenhafter Schemen, der erst durch
seine farbigen Attribute als Individuum identifizierbar wird, sei
es als Kolchosbäuerin mit übergroßen
Feldfrüchten oder als russischer Soldat mit den Wappen von
Bundesrepublik und DDR.
Bruskin hatte zunächst an der Kunstakademie in Moskau
studiert, musste jedoch erleben, dass seine Ausstellungen nicht
genehmigt oder unmittelbar nach der Eröffnung von den
sowjetischen Behörden geschlossen wurden. Er entschloss sich
daher im Jahr 1988, nach New
York zu emigrieren. Die Auseinandersetzung mit jener Zeit
vor der Perestroika, als er dem ideologischen Druck eines
totalitären Regimes ausgesetzt war, spiegelt sich in seiner
Arbeit für den Clubraum des Reichstagsgebäudes.
Ausgangspunkt der Arbeit sind die Skulpturen "idealer Helden", die
in Moskau auf Straßenkreuzungen, in Parks, an
Häuserwänden und auf Friedhöfen das Stadtbild
prägen. Dieser Versuch, die Menschen auch bildnerisch zu
indoktrinieren, verbindet die beiden totalitären Ideologien
des 20. Jahrhunderts, Kommunismus und Nationalsozialismus, und
stellt auch mit Blick auf die DDR eine enge Beziehung zwischen
Russland und Deutschland her. Daher schien dieses Thema dem
Künstler besonders geeignet für die Arbeit eines
russischen Malers im deutschen Parlament: Der Betrachter soll im
Spiegel russischer totalitärer Mythen ihm vertraute Details
der eigenen Geschichte entdecken.
Bruskin schuf 115 Einzelbilder, die alle demselben Schema folgen
und ohne jede Hierarchisierung, Entwicklung oder Bewegung
"gleichgeschaltet" sind: Durch einen identischen landschaftlichen
Hintergrund, der vom Mond in Dämmerlicht getaucht wird, werden
alle Skulpturen in ihrem überzeitlichen Anspruch als heroische
Idealentwürfe ironisiert. Eine Textzeile, in der die
sowjetischen Bürger auf ein Leben im Dienst der Gesellschaft
verpflichtet werden, schließt jedes Bild nach oben ab. Nur
die Attribute, im Unterschied zu den Personen farbig und daher
realer als diese, verleihen ihnen Identität und machen sie
benennbar, ähnlich wie die Attribute bei Heiligenfiguren, eine
Anspielung auf die Aneignung des religiösen Sprach- und
Bildschatzes durch säkulare Ersatzreligionen wie den
Kommunismus.
Jede der Figuren erzählt auf diese Weise eine Geschichte,
mal ironisch, mal traurig, mal politisch. Ein sowjetischer
Grenzsoldat trägt einen Grenzpfahl mit sich, in alle Ewigkeit
verdammt, diesen an immer entfernteren Grenzen zu setzen, ein
anderer russischer Grenzsoldat schützt sich mit einem
deutschen Schäferhund, eine Lehrerin hält dem Betrachter
geradezu drohend die Leninsche Losung "Lernen, lernen, nochmals
lernen" entgegen.
geboren 1945 in Moskau, lebt und arbeitet in New York.
Text: Andreas Kaernbach
Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages