Pressemeldung - 08.10.2005Rede
des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse zum
100jährigen Jubiläum der Naturfreunde Deutschlands am 8.
Oktober 2005 in München
Es gilt das gesprochene Wort "Wer vor
einigen Wochen die "Zeit" aufschlug, musste über eine
irritierende Titelzeile stolpern: "100 Jahre Rotgrün" war da
zu lesen. Hat sich die "Zeit" etwa verzählt? Auch wenn die
ersten sicher schon vergessen haben, wann in Hessen das erste
rotgrüne Regierungsbündnis geschmiedet wurde, 100 Jahre
ist das gewiss noch nicht her.
Nun, die Titelzeile "100 Jahre Rotgrün" bezog sich nicht auf
rotgrüne Regierungspolitik, sondern auf das Jubiläum der
Naturfreunde Deutschlands. Und die Überschrift bringt es in
der Tat auf den Punkt: Genau genommen sind die Naturfreunde
Deutschlands nämlich die erste rot-grüne Bewegung
überhaupt. Sie waren es, die neben den sozialdemokratischen
Urthemen wie solidarische Selbsthilfe und Kampf um Gerechtigkeit
auch den Schutz der Natur auf ihre Fahnen geschrieben haben. Die
"Zeit" hat also Recht, wenn sie die Naturfreunde als Pioniere der
rot-grünen Bewegung bezeichnet. Ich gratuliere den
Naturfreunden herzlich zum 100. Geburtstag.
100 Jahre Naturfreunde - darin spiegeln sich natürlich auch
100 Jahre deutsche Geschichte - mit all ihren Höhen und
Tiefen. Gegründet wurde die Bewegung noch im Kaiserreich, als
es zum Beispiel darum ging, gegen Privilegien des Adels zu
kämpfen, etwa was den Zugang zu Wäldern anging. Oft
besaßen nur Adel und Großgrundbesitzer Betretungsrechte
- die Naturfreunde haben damals für etwas gekämpft, was
uns heute als selbstverständliche Errungenschaft erscheint:
Natur muss für alle da sein.
Als sozialdemokratische Bewegung waren die Naturfreunde
überzeugte Gegner der Nationalsozialisten. Nach der
Machtergreifung Hitlers begannen die Nationalsozialisten, die
Organisation zu zerschlagen und alles, was die Naturfreunde bis
dahin aufgebaut hatten, zu zerstören. Viele Naturfreunde
gingen in den Widerstand. Einer der bekanntesten
Widerstandskämpfer aus den Reihen der Naturfreunde ist Georg
Elser, dessen Attentat auf Hitler nur wegen eines
unglücklichen Zufalls scheiterte. Sein Mut zeigt, dass die
Mitglieder der Naturfreunde eben immer mehr waren und sind als
unpolitische Freunde der Natur. Sie stehen ein für Demokratie
und Freiheit, für soziale Gerechtigkeit, für den Schutz
der Schwachen und der natürlichen Lebensgrundlagen. Auf ihre
sozialdemokratischen Wurzeln jedenfalls sind die Naturfreunde immer
stolz gewesen.
Natürlich haben sich die Ziele der Naturfreunde im Laufe der
Jahre und Jahrzehnte immer wieder verschoben und aktualisiert.
Vieles, was vor 100 Jahren noch als Utopie galt (etwa der
8-Stunden-Arbeitstag), ist heute selbstverständlich.
Dafür sind neue Ziele dazugekommen (zum Beispiel der Einsatz
für den sanften Tourismus). Und manche Ziele sind auch -
wenngleich in anderer Form - wieder aktuell geworden. Um
Betretungsprivilegien des Adels geht es heute zwar nicht mehr, wohl
aber ist die Frage nach dem öffentlichen Zutritt zu
Wäldern oder Seeufern durchaus wieder aktuell, nachdem in
Zeiten klammer Kassen Gemeinden dazu neigen, ganze Seen oder
Wälder zu privatisieren. Die alte Forderung der Naturfreunde,
dass Natur für alle da sein muss, ist also keineswegs
überholt.
Viele kennen die Naturfreunde primär als Organisation, die
naturverträgliche Touren anbietet, die Menschen jeden Alters
Naturerlebnisse verschaffen will. Weit bekannt sind die
Naturfreundehäuser, die quasi ein Markenzeichen dieser
europäischen Organisation sind. Mir erscheint es aber zu
eindimensional, wenn man die Naturfreunde auf ihr touristisches
Angebot reduzieren würde - man würde damit auch nicht der
historischen politischen Leistung gerecht, die die Naturfreunde
erbracht haben. Und auch heute mischen sich ihre
Landesverbände - worüber ich froh bin - in die
politischen Debatten ein. Sie haben das Glück, mit Michael
Müller einen der profiliertesten Experten auf dem Gebiet des
Umweltschutzes und der Umweltpolitik als Vorsitzenden zu
haben.
Die politischen Initiativen der Naturfreunde haben zum Beispiel mit
dazu beigetragen, dass heute das Konzept der Nachhaltigkeit in der
deutschen und internationalen Umweltpolitik fest verankert ist, ja
dass dieses so wichtige Prinzip allmählich auch in anderen
Politikbereichen Fuß fasst. Schon früh haben die
Naturfreunde darauf aufmerksam gemacht, dass das Ökosystem des
Planeten aus seinem natürlichen Gleichgewicht zu geraten
droht. Und wenn wir in diesen Tagen lesen, dass die Arktis in einem
atemberaubenden Tempo abschmilzt, ist das nur ein weiteres Indiz
dafür, dass die Warnungen der Naturfreunde nur zu berechtigt
gewesen sind. Schon 1972 stellten die Naturfreunde die kühne
Forderung auf, dass sich alle ökonomischen Maßnahmen den
ökologischen Notwendigkeiten unterzuordnen haben. Davon sind
wir - jedenfalls was den globalen Maßstab angeht - noch weit
entfernt. Aber deshalb bleibt die Forderung der Naturfreunde doch
richtig.
Es war Willy Brandt, der sich als einer der ersten Politiker
intensiv für die Verbreitung des Nachhaltigkeitsgedankens auch
auf internationaler, auf globaler Ebene eingesetzt hat. Als
Friedensnobelpreisträger fand er weltweit Gehör und war
damit ein idealer Botschafter der Naturfreunde. Denn, fast bin ich
geneigt zu sagen: natürlich war Willy Brandt auch Mitglied der
Naturfreunde. Und er war sogar im wahrsten Sinne des Wortes ein
Kind der Naturfreunde; seine Eltern haben sich nämlich bei den
Naturfreuden kennen gelernt.
Diese gewissermaßen ererbte Naturverbundenheit hat Willy
Brandts Umweltpolitik zeitlebens geprägt. Im Umfeld der
Vereinten Nationen konnte er sich auf prominente politische
Mitstreiter verlassen - auf Bruno Kreisky, der selbst über ein
halbes Jahrhundert den Naturfreunden angehörte, auf Olof Palme
und Gro Harlem Brundtland. Sie alle engagierten sich erfolgreich in
weltweiten Netzwerken für die Nachhaltigkeit als politische
Leitidee. Internationale Anerkennung erfuhr der Grundsatz der
Nachhaltigkeit schließlich auf dem Erdgipfel von Rio in der
Agenda 21. Und der europäische Verbund der Naturfreunde
gehörte zu denen, die den Anstoß dazu gegeben
haben.
Was die Aktivitäten, das Engagement der Naturfreunde so
überzeugend macht, ist ihr alltagspraktischer Ansatz. Die
Naturfreunde mahnen nicht nur oder geben kluge Ratschläge,
vielmehr leben sie ihre Überzeugungen im Alltag vor. Sie
zeigen, dass und wie jeder einzelne etwas beitragen kann zum Klima-
und Umweltschutz: durch sparsamen Energieverbrauch, durch
vorrangige Nutzung des öffentlichen Verkehrs, durch
Abfallvermeidung und Ressourcenschonung, durch Nachfrage nach
regional und biologisch erzeugten Lebensmitteln. Und sie beweisen
seit einem Jahrhundert, dass Tourismus und Umweltschutz kein
Widerspruch sein müssen, sondern gut und sinnvoll vereinbar
sind.
Argumente, warum wir dringend Fortschritte im Klimaschutz, in der
Umweltpolitik, beim Ausbau erneuerbarer Energien brauchen, liefern
uns die Fernsehbilder tagtäglich frei Haus. Die
regelmäßig wiederkehrenden Hochwasserkatastrophen an
unseren Flüssen, die Waldbrände in Westeuropa, die
verheerenden Wirbelstürme an den Küsten der USA - all das
sind eindeutige Hinweise darauf, dass unsere Umwelt immer mehr aus
dem Gleichgewicht gerät - mit schrecklichen Folgen. Ist diese
Entwicklung tatsächlich nicht zu stoppen? Müssen wir uns
an die Zwangsläufigkeit diese Szenarien gewöhnen? Geht
uns das Problembewusstsein für die Gefährlichkeit dieser
Entwicklungen schleichend verloren? Als der Deutsche Bundestag Ende
der 80er Jahre ehrgeizige Klimaziele aufgestellt hatte, war das
eine weltweit beachtete Pionierleistung. Aber anderthalb Jahrzehnte
später gibt es immer noch Staaten, die sich trotz der riesigen
Probleme, die wir alle gemeinsam haben, klimapolitisch kaum
bewegen. Das ist nicht nur unverständlich, es macht auch
wütend!
Aber ich ärgere mich auch über manche Denkansätze im
eigenen Land. Jüngste Forderungen des Deutschen Industrie- und
Handelstages beispielsweise wollen uns wieder einmal glauben
machen, dass der Umweltschutz ein Investitionshemmnis darstellt und
Arbeitsplätze gefährdet. Dabei sieht die Wirklichkeit
ganz anders aus. Alternative Energien, ökologischer Landbau
und sanfter Tourismus haben in den vergangenen Jahren keine
Arbeitsplätze vernichtet, sondern im Gegenteil neue
geschaffen. Die Zahlen sprechen für sich: Mehr als eine
Million Menschen finden heute Beschäftigung im Umweltschutz.
Durch den Ausbau der erneuerbaren Energien sind mittlerweile
über 150.000 zusätzliche Arbeitsplätze entstanden.
Und selbst die Autoindustrie erkennt langsam, dass mit
"Dreckschleudern" mittelfristig kein Geld mehr zu verdienen
ist.
Auf einer Jubiläumsfeier sollte man nicht nur
zurückschauen, sondern auch nach vorne blicken: was wird in
den nächsten 100 Jahren? Was werden voraussichtlich wichtige
Aufgaben, was wird intern zu verbessern sein, wie muss künftig
für die eigenen Ziele geworben werden?
Zunächst einmal: Die Naturfreunde haben in 100 Jahren
bewiesen, dass sie bei den Entwicklungen in Gesellschaft und
Politik bestens mithalten, ja dass sie Vorausdenker sind und
notwendige Veränderungsprozesse anstoßen. Ihr kritisches
und sozialreformerisches Potenzial scheint mir jedenfalls noch
lange nicht verraucht.
Lassen Sie mich hier einen Bereich der Arbeit der Naturfreunde ganz
besonders würdigen und anerkennen, denn dies beschäftigt
mich seit langem und kontinuierlich: Der sich ausbreitende
Rechtsextremismus, insbesondere in Ostdeutschland. Die Naturfreunde
haben sich auch was die demokratische Bildung, die Arbeit gegen
Antisemitismus und Rechtsextremismus und für eine tolerante
Demokratie angeht, hervorgetan. Jüngst war ich in einem Haus
der Naturfreunde im sächsischen Königstein und habe dort
mit Jugendlichen aus der Region über ihre Angst vor Gewalt und
Übergriffen diskutiert, über ihre Ohnmacht, wenn Neonazis
Feste und Veranstaltungen gezielt stören und die Besucher
einschüchtern. Die Naturfreunde dort sind seit Jahren aktiv in
einem Netzwerk für Demokratie und Courage, das
unterstütze und begrüße ich ausdrücklich. Ich
wünsche mir sehr, dass auch dieses Engagement der Naturfreunde
fortdauert.
Denn was vor 100 Jahr auf der Tagesordnung stand, gilt heute nicht
weniger: Wir wollen eine Gesellschaft, die den Wert von
Solidarität herausstreicht und Mitverantwortung, freiwillige
und ehrenamtliche Hilfe fördert. Auf diesem Gebiet haben die
Naturfreunde immer schon viel geleistet. Was in den letzten Jahren
mit der Diskussion über die Zivilgesellschaft scheinbar neu
entdeckt worden ist, war schon immer ihre Sache.
Staat und Gesellschaft sind auf das freiwillige Engagement der
Bürger angewiesen. Das gilt für den Umweltschutz in
besonderer Weise. Auch wenn sich der Umweltschutz heute in den
Programmen aller politischen Parteien findet, bleibt es dabei:
Umweltthemen müssen immer wieder auch von außen an die
Politik herangetragen werden. Die Naturfreude sind in diesem
Prozess ein Akteur, dessen Stimme gehört wird, doch
wünschte ich mir, die Naturfreunde würden ihre Stimme hin
und wieder etwas lauter erheben.
Allerdings weiß ich auch um die Probleme, die Sie haben.
Für die Naturfreunde, so habe ich mir sagen lassen, sei es
schwieriger geworden, neue Mitglieder zu gewinnen, also Menschen,
die sich dauerhaft engagieren wollen. Diese Erfahrung machen alle
großen Organisationen - Gewerkschaften genauso wie Parteien,
aber auch kleinere Vereine. Immer weniger wollen sich lange binden.
Früher war es irgendwie selbstverständlich: Wenn der
Vater bei den Naturfreunden war, dann war es auch der Sohn. Dieser
Automatismus gilt heute nicht mehr.
Es ist müßig, darüber zu klagen. Akzeptieren wir,
dass die Bereitschaft zu freiwilligem Engagement heute eher
kurzfristig angelegt ist. Was aber nicht heißt, dass es keine
Bereitschaft zum Engagement gäbe. So weit ich es beurteilen
kann, stellen sich auch die Naturfreunde darauf bereits ein. Die
vielfältigen Möglichkeiten, bei den Naturfreunden
mitzuarbeiten, ihr breites Angebot an Freizeitaktivitäten,
kommen den neuen Bedürfnissen jedenfalls sehr entgegen.
Insofern glaube ich, dass die Naturfreunde auch in Zukunft
interessierten und engagierten Nachwuchs finden werden.
Zumal freiwilliges Engagement - gerade auch bei den Naturfreunden -
einen persönlichen "Mehrwert" bringt: Ob als Leiter einer
Ferienfreizeit, Betreuer einer Jugendgruppe oder als aktiver
Umweltschützer: Solche Tätigkeiten vermitteln soziale
Fähigkeiten, die zur Entwicklung der eigenen
Persönlichkeit beitragen, die aber auch für den
Arbeitsmarkt eine immer größere Bedeutung haben werden.
Dazu zählen rhetorische Fähigkeiten, die Fähigkeit,
in Konflikten zu vermitteln, in Gruppen zu moderieren oder
Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Immer
stärker rücken dabei auch interkulturelle Kompetenzen in
den Vordergrund. Auch darin liegt eine Chance für die
Naturfreunde, die ja schließlich mit ihrer
Internationalität der Europäischen Union um Jahrzehnte
voraus waren.
Eine hochwichtige Aufgabe für die Naturfreunde sehe ich darin,
gerade junge Menschen aus den Städten an die Natur
heranzuführen. Viele wachsen auf, ohne jemals einen Wald
erlebt zu haben. Sie sind noch nie durch einen Bach gewatet, sie
haben noch nie einen Specht klopfen hören. Aber wer das nicht
erlebt hat, von dem kann man auch nicht erwarten, dass er ein
Gespür für die Verletzlichkeit ökologischer Systeme
entwickelt. Natur mit allen Sinnen zu erfahren ist ein erster
Schritt, um junge Menschen für Fragen des Natur- und
Umweltschutzes zu sensibilisieren. Hier erfüllen die
Naturfreunde eine wichtige Aufgabe, für die Gesellschaft wie
für den Schutz der Natur.
Aktuell bleibt aber vor allem die Idee der Naturfreunde, eine
soziale Heimat für Menschen verschiedener Altersgruppen und
Nationalitäten zu sein. Auch 100 Jahre nach der Gründung
sind Naturfreunde attraktiv für jeden, für den die
ökologische Frage unlösbar mit der sozialen verbunden
ist. Denn "der Wirtschaft soziale und ökologische Leitplanken
(zu) geben", wie es Michael Müller formuliert hat, ist gerade
heute, unter den Bedingungen der Globalisierung, eine
drängende Herausforderung. Sie wird uns in Zukunft dauerhaft
begleiten.
Ich wünsche den Naturfreunden für den Start in ihr
zweites Jahrhundert alles Gute."
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