Es gilt das gesprochene Wort
Niemand von Ihnen kann auch nur im Entferntesten ermessen, was es
für mich bedeutet, hier zu stehen. Das von Paul Wallot vor 120
Jahren errichtete Reichstagsgebäude war für mich, dem im
Kaiserreich Geborenen und in der Weimarer Republik Aufgewachsenen,
in meinen jungen Jahren so eine Art Tempel der Nation, ein Dom der
Demokratie, ein Garant der Aufklärung.
In diesem Palast glaubte ich Freiheit, Liberalität, Toleranz,
Menschenwürde und wahres Deutschtum fest verankert.
Ich war betroffen, als sich in diesem Haus in den Tagen von Weimar
Reichstagsabgeordnete der extremen Rechten und der
äußersten Linken darin überboten, die deutsche
Republik schlecht zu machen. Ich war entsetzt, als dieser
ehrwürdige Bau am 27. Februar 1933 von Gegnern eben jenes
Weimarer Staates in Brand gesetzt wurde, was andere Feinde der
ersten deutschen Republik für ihre eigenen, üblen Zwecke
nutzten. All das war ein böses Omen.
Trotz dieser Brandschatzung bestand der Reichstag als Institution
weiter. Allerdings diente dieses Parlament bald nach der
sogenannten Machtergreifung nur noch als Forum der Entgegennahme
und Billigung von Erklärungen der nationalsozialistischen
Reichsregierung.
Diese Schein-Volksvertretung, die in der Kroll-Oper zusammentrat,
hat die allgemeinen Entrechtungen, die sofort nach dem 30. Januar
1933 begannen und stets besonders die deutschen Juden betrafen,
jeweils bedenkenlos gebilligt.
Am 15. September 1935 hat dann der in jenen Tagen nur noch aus
Nationalsozialisten bestehende Reichstag in der Parteitags-Stadt
Nürnberg die nach diesem Ort benannten Gesetze erlassen. Durch
diese wurden allen deutschen Juden, also auch mir, die
Bürgerrechte geraubt. Über Nacht wurden mir und allen
anderen deutschen Juden die Anrechte entrissen, die sich unsere
Vorfahren durch Jahrhunderte langes Leben und Wirken in deutschen
Landen erworben hatten. Ich - und Hunderttausende Andere - hatten
aufgehört, deutsche Bürger zu sein.
Im November 1938 wurde ich in ein Konzentrationslager
verschickt.
Heute nun, ein biblisches Menschenalter später, stehe ich hier
im Reichstag, stehe vor den hohen Organen des nochmals erstandenen
und wiedervereinten, freien Deutschlands und darf an die Untaten
erinnern, die zwischen 1933 und 1945 von Deutschen begangen wurden.
Mit Ihnen allen gemeinsam darf ich um die vielen Millionen Opfer
trauern, die von Deutschen oder auf deutschen Befehl umgebracht
wurden.
Dass diese totale Veränderung möglich wurde, dass
Deutschland als freier, freiheitlicher und zutiefst
verantwortungsbewusster Staat noch einmal erstehen konnte, aber
auch dass wir der vielen Opfer von damals gedenken, dafür
danke ich allen Beteiligten:
Den Soldaten vieler Nationen, die das nationalsozialistische
Deutschland bekämpften und besiegten; den Politikern und
Staatsmännern, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die Fehler
von 1919 wiederholten, sondern einem geläuterten Deutschland
die Chance der Erneuerung gaben; all denen, die halfen, die
staatlichen, geistigen und wirklichen Trümmer zu beseitigen
und das wahre Deutschland neu zu errichten.
Aber ich danke auch den Frauen und Männern - besonders im
Osten dieses Landes -, die den Glauben an ein freies Deutschland
nie aufgaben und durch ihren Mut die Wiedervereinigung möglich
machten. Ich danke dafür, dass dieser Tag der Befreiung von
Auschwitz von Bundespräsident Roman Herzog als Gedenktag
für alle Opfer der nationalsozialistischen Unrechts- und
Gewaltherrschaft festgelegt wurde.
Ich danke dem Bundestag, den in freien Wahlen gekürten
Vertretern aller Deutschen, dass diese Gedenkstunde hier
stattfinden kann. Ich danke den Musikern für die würdige
Umrahmung dieser Feststunde. Von den Komponisten habe ich zwei
persönlich gekannt. Und ich danke dem Herrn
Bundestagspräsidenten für seine freundlichen und
bemerkenswerten Worte und auch dafür, dass er mich eingeladen
hat, hier zu Ihnen zu sprechen.
Aber ich danke ganz besonders Gott, dass Er all dies möglich
gemacht hat. Ich danke Ihm mit einem uralten jüdischen
Lobspruch, der für alle monotheistischen Religionen
Gültigkeit hat, oder zumindest haben sollte: "Boruch
Ha’Schem" - Gelobt sei Sein heil’ger Name.
Wir sind hier versammelt, um am Jahrestag der Befreiung des
Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz aller Opfer des
Nationalsozialismus zu gedenken.
Auf Grund einer Entscheidung der Vollversammlung der Vereinten
Nationen wird der Holokaust-Gedenktag heute auch weltweit
begangen.
Auch in meiner Kindheit und Jugend war der 27. Januar eine Art
Gedenktag. Allerdings ein ganz anderer, ohne die heutige Tragik. Es
war Kaisers Geburtstag.
Obwohl Wilhelm II. schon vor meiner Schulzeit abgedankt hatte,
überboten sich sowohl in der Volksschule als auch später
im Gymnasium meine Lehrer darin, an jedem 27. Januar die Würde
des letzten deutschen Kaisers zu preisen. Sie waren leider alle
keine Sympathisanten der Republik gewesen.
Dass auch Wolfgang Amadeus Mozart an einem 27. Januar geboren
wurde, fand man damals nicht erwähnenswert.
Und ich freue mich, dass heute dank des Komponisten von "Don
Giovanni", "Figaros Hochzeit", "Zauberflöte", der
Haffner-Symphonie und des Requiems - um nur einige Werke zu
erwähnen - dieser Gedenktag an haarsträubende, von
Deutschen begangene und dennoch dem deutschen Wesen nicht
entsprechende, Untaten auch ergänzt wird durch die
jubilierende Erinnerung an das universalste tonschöpferische
Genie, das je in deutschen Landen gelebt und gewirkt hatte, eben an
Wolfgang Amadeus Mozart.
Wir aber sind, ich wiederhole das, heute zusammengekommen, um der
Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.
"Auschwitz steht", das sagte Bundespräsident Roman Herzog in
seiner vor zehn Jahren gehaltenen Gedenkansprache, "symbolhaft
für millionenfachen Mord, vor allem an Juden, aber auch an
anderen Volksgruppen."
Zwar war der Judenhass der Hauptmotor, der die Nationalsozialisten
antrieb, und auch der wichtigste Kitt, der sie immer wieder
zusammenhielt und wie ein Fliegenfänger auch viele andere
Deutsche einfing. Dennoch gedenken wir heute, nicht nur der
jüdischen, sondern auch aller anderen Opfer des
Nationalsozialismus:
- der vielen ermordeten Sinti und Roma, die man damals allgemein
Zigeuner nannte;
- der weiblichen und männlichen Homosexuellen;
- der Behinderten und anderen
Euthanasie-Geschädigten;
- der Verurteilten einer willkürlichen, beziehungsweise auf
Befehl handelnden Militärgerichtsbarkeit;
- der politischen und der angeblich arbeitsscheuen
Häftlinge;
- der hauptsächlich aus dem europäischen Osten
stammenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter;
- der Frauen und Männer des vielgestaltigen
Widerstandes.
Kurz, wir gedenken in Demut, Trauer und dem feierlichen Versprechen
in Zukunft die Freiheit jedes Menschen zu achten und zu
verteidigen, aller, die von den Nationalsozialisten und ihren
Helfershelfern drangsaliert, unterdrückt, verdammt, vertrieben
und ermordet wurden.
Vor einem Jahr nannte der damalige Außenminister Joschka
Fischer vor den Vereinten Nationen Auschwitz "den Tiefpunkt der
deutschen Geschichte".
Dieses Urteil möchte ich nicht nur bekräftigen, sondern
dazu eine Anmerkung wiederholen, die ich schon an anderer Stelle
machte:
- Die Juden waren damals, das kann man nicht oft genug betonen,
nicht die alleinigen Leidtragenden, aber die
Hauptbetroffenen.
- Dieser ruchlose Massenmord, dieser Genozid, war die
größte Katastrophe, welche die Juden je befiel,
schlimmer als die Zerstörung des Tempels durch die Römer
im Jahre 70;
- schlimmer als die Massaker zu Beginn der
Kreuzzüge;
- und schlimmer als die Vertreibungen von der iberischen
Halbinsel im Zusammenhang mit der Inquisition.
Was aber bedeutet der Millionenmord, an den wir uns heute - und
hoffentlich nicht nur heute! - erinnern, für die
Deutschen?
Der Zivilisationsbruch, den die Nationalsozialisten verübten
und an dem viele Deutsche in den verschiedensten Formen mitwirkten,
war auch die größte, wenn auch selbstverschuldete,
Katastrophe und gleichzeitig unbegreiflichste Tragödie in der
deutschen Geschichte. So tief war Deutschland vorher noch nie
gesunken.
Ohne Täter und Opfer durcheinander zu bringen oder gar
gleichzustellen, steht für mich fest: Die grauenhafteste
Heimsuchung in der Geschichte der Juden war auch - spiegel- und
schicksalsverkehrt - das größte Desaster in der
Geschichte der Deutschen: eben der Tiefpunkt.
Ich weiss, wovon ich spreche. Als deutscher Jude, der ich trotz der
vielen Wechselfälle meines Lebens immer geblieben bin,
gehöre ich zu beiden Gruppen, zu den Juden und zu den
Deutschen. Zweifach spüre ich deshalb das Leid und die
Tragik.
Ich sprach von mir als deutschem Juden, der ich geblieben bin,
obwohl ich 1945 als amerikanischer Soldat nach Deutschland
zurückgekommen war.
Erlauben Sie mir deshalb, zur Erklärung jetzt ganz kurz auf
mein Leben zurückzublicken.
Als ich aufwuchs und zur Schule ging, war beides, Judentum und
Deutschtum, etwas Selbstverständliches, etwas scheinbar
Untrennbares. Oft hatte mein Vater Jakob Wassermann zitiert, der in
seinem Essay "Mein Weg als Deutscher und Jude" das aussprach, was
der Großteil der deutschen Juden damals fühlte.
Ich selbst las, was Gabriel Riesser, der Hamburger Jurist und
spätere Vizepräsident der Frankfurter
Nationalversammlung, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
gesagt hatte: "Wir - die deutschen Juden - sind nicht eingewandert.
Wir sind eingeboren."
Und bei anderer Gelegenheit:
"Wer mir den Anspruch auf mein Deutsches Vaterland bestreitet,
bestreitet mir das Recht auf meine Gedanken, meine Gefühle,
auf die Sprache, die ich rede, auf die Luft, die ich atme."
Überhöht sagte das ein Jahrhundert später der auch
aus Deutschland vertriebene Theaterkritiker Julius Bab:
"Durch deutsche Weisheit und deutsche Kunst haben wir den Weg zur
Kulturgemeinschaft der Welt gefunden."
Obwohl es immer wieder auch antisemitische Auswüchse gab,
fühlte ich mich nicht nur als Deutscher. Ich war Deutscher wie
all meine Schulkameraden und anderen Mitbürger neben
mir.
Und meine Heimat, wie die fast aller deutscher Juden, war die
deutsche Sprache, was z.B. Hannah Arendt und Karl Wolfskehl in der
Emigration oft betonten, und was schon Heinrich Heine in seinem
"Wintermärchen" beschrieb: "Und als ich die deutsche Sprache
vernahm,/Da ward mir ganz seltsam zumute./ Ich meinte nicht anders,
als ob/das Herz mir angenehm verblute."
Der Zionismus, der Wunsch zur eigenen jüdischen Heimstatt,
nahm unter den deutschen Juden solange einen zweiten Platz ein, bis
Adolf Hitler an die Macht kam.
Allerdings auch nach 1933 glaubten viele - darunter auch ich - noch
lange, allzu lange, dass es selbst unter dem Nationalsozialismus
für Juden in Deutschland einen modus vivendi, eine
Lebensmöglichkeit gebe.
Aber das änderte sich nach dem Verlust der Bürgerrechte
im September 1935 und nach einem KZ-Aufenthalt im Herbst 1938.
Schließlich konnte ich im Sommer 1939 in die Vereinigten
Staaten einwandern. Dafür werde ich immer dankbar
bleiben.
Als im Dezember 1941 nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor
die damalige deutsche Regierung den USA den Krieg erklärte,
betrieb ich meine sofortige Einberufung in die amerikanische Armee.
Als Soldat wurde ich auch amerikanischer Bürger.
1944 landete ich an der französischen
Ärmelkanalküste und machte den Feldzug durch Frankreich
und Deutschland mit. Durch einen Zufall war ich am 8. Mai 1945, am
Tag des Kriegsendes, in meiner Heimatstadt Augsburg.
Noch bis zuletzt hatte ich gehofft, dort meine Eltern und meinen
jüngeren Bruder lebend anzutreffen. Doch diese Hoffnung
erfüllte sich nicht. Sie waren alle schon in der Passionswoche
des Jahres 1942 in den europäischen Osten deportiert und dann
ermordet worden.
Das war in knappen Worten mein Lebenslauf bis zum Ende des
Krieges.
Auschwitz habe ich also selbst nicht erlebt. Die Gründung
dieses schließlich größten Konzentrations- und
Vernichtungslagers erfolgte ja erst nach meiner Auswanderung; aber
ich weiss natürlich, was für Verbrechen dort begangen
wurden.
Die Vergasungen mit dem hochgiftigen Vertilgungsmittel Zyklon-B
begannen in Auschwitz im September 1941. Die ersten Opfer waren
gefangene sowjetische Soldaten. Die Vergasungen von Juden fingen im
Oktober desselben Jahres an.
Neben Auschwitz gab es noch eine Reihe von anderen
Vernichtungsstätten, z. B. Belzec, Chelmno, Majdanek, Sobibor,
Treblinka. All diese Lager befanden sich im europäischen Osten
und hatten einen Hauptzweck: die heimliche Tötung von
unliebsamen Häftlingen, hauptsächlich von Juden.
Die genaue Gesamtzahl der dort und im ganzen europäischen
Osten Ermordeten, die in die Millionen geht, ist unbekannt.
Immer wenn ich an das Grauen von Auschwitz denke, wo ich selbst
nicht war, lebt in mir wie ein Albtraum die Erinnerung an
Buchenwald auf. Dorthin wurde ich im Verlauf der Novemberpogrome
des Jahres 1938 verbracht.
Ich will nun nicht im Einzelnen schildern, was ich dort alles
erlebte und sah; sonst müssten wir hier noch mehrere Stunden
beisammen bleiben.
Es mag genügen, dass ich sage, es war furchtbar,
unvorstellbar; am schlimmsten natürlich für die Alten und
Kranken.
In ganz Deutschland wurden während dieser Pogrome, bei diesen
angeblich "spontanen" Ausschreitungen, unzählige Synagogen und
Bethäuser demoliert und etwa 8.000 jüdische
Geschäfte geplündert. Mehr als 100 Menschen kamen dabei
ums Leben.
Diese Verwüstungen haben Tausende Nichtjuden gesehen. Aber so
gut wie keiner hat etwas getan.
Natürlich gab es Ausnahmen, wie es während der ganzen
nationalsozialistischen Zeit immer wieder Einzelne gab, die bei der
allgemeinen Verrohung und beim Wegschauen nicht mitmachten.
Nur ein Beispiel will ich nennen:
Es war in Ostpreußen.
Als der Landrat von Schloßberg, Wichard von Bredow,
hörte, dass in seinem Landkreis die Synagoge angezündet
werden sollte, zog er seine alte Uniform an und sagte Frau und
Kindern: "Ich will als Christ und Deutscher ein Verbrechen in
meinem Amtsbereich verhindern."
Dann stellte er sich mit geladener Pistole vor die Synagoge und
schwor, nur über seine Leiche könnte dieses Gotteshaus
entweiht werden.
Die Synagoge blieb dank dieses wackeren Mannes
unberührt.
Doch zurück zu Buchenwald.
Bald schon wurden solche Häftlinge entlassen, die nachweisen
konnten, dass ihre Auswanderung bevorstand.
Damals - 1938 - war es noch nationalsozialistische Politik, die
Juden zum Verlassen ihrer Heimat zu zwingen.
Die Politik des Massenmordens begann erst später.
Auch ich selbst wurde nach einigen Wochen aus Buchenwald
entlassen.
Und auf der Rückreise begegnete ich zwei integer gebliebenen
einfachen Leuten.
Ein Arbeiter steckte mir heimlich ein belegtes Brot in meine
Tasche.
Und eine Klosettfrau in Berlin wollte von mir kein Geld nehmen,
nachdem sie erkannt hatte, dass ich aus einem KZ kam.
Anstand war in Deutschland Mangelware geworden.
Aber man fand ihn noch, und manchmal an den unglaublichsten
Plätzen.
Nicht ganz fünfeinhalb Jahre später war ich übrigens
wieder in Buchenwald, - diesmal als amerikanischer Soldat, quasi
als Befreier.
Aber was ich an jenem 11. April 1945 dort sah, ließ das, was
ich selbst erlebt hatte, zu einem Nichts zusammenschrumpfen.
Die gerade befreiten Häftlinge waren lebendige Skelette.
Sterbende lagen mit glanzlosen Augen am Boden. Tote waren wie
Holzscheite aufeinandergestapelt. Ein Leichengeruch hing in der
Luft, und der Gedanke, dass es in Auschwitz noch schrecklicher
gewesen sein musste, war kaum zu ertragen.
1938 war Buchenwald ein sadistisch geführtes Straflager. 1945
war es ein Todeslager.
Wenn ich zurückblicke, war das Schlimmste in der Anfangzeit
der nationalsozialistischen Diktatur, dass Menschen, mit denen man
bisher normal verkehrte, sich plötzlich rar machten.
Man fühlte sich auf einmal als Außenseiter, als Paria,
als Ausgestoßener.
Und das war nicht nur, wie es nach dem zweiten Weltkrieg oft
verharmlosend hieß, Feigheit oder Angst. Es war für die
meisten ein unverständliches Anpassen an das Böse, das
man aber oft gar nicht mehr als solches erkannte.
Es war ein Gesinnungswandel, ja eine Gesinnungslumperei.
In vielen Menschen hatte der Teufel über Gott gesiegt.
Am meisten hat mich in jener Zeit das weitgehende Verstummen der
christlichen Kirchen bestürzt. Und indem ich das feststelle,
verbeuge ich mich in großer Dankbarkeit vor den wenigen,
leuchtenden Ausnahme-Erscheinungen.
Eine der hehrsten möchte ich kurz zitieren.
Es ist der Widerstandsgeistliche Dietrich Bonhoeffer, der noch am
9. April 1945 auf Befehl Hitlers im KZ Flossenbürg
gehängt wurde und dessen 100. Geburtstag nächste Woche
begangen wird.
Pastor Bonhoeffer stellte fest: "Die Kirche … war stumm, wo
sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen
zum Himmel schrie".
Ich sprach von dem Versagen der christlichen Kirchen, und ich
wiederhole, wie sehr ich die wenigen Einzelnen bewundere, die
damals ihrem Glauben und ihrem Gewissen folgten.
Das Gebot: "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst"
findet sich nicht nur beim Evangelisten Matthäus; es steht
auch schon im dritten Buch Mose.
Aber der Aufruf zur für alle geltenden Liebe wurde sehr bald
das wichtigste Moralgesetz des Christentums. Bereits im ersten
Brief des Apostels Paulus an die Korinther heißt es: "Nun
aber bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei; aber die Liebe
ist die größte unter ihnen."
Und Franz Rosenzweig sagte in seinem philosophischen Hauptwerk "Der
Stern der Erlösung": "Liebe Deinen Nächsten, das ist, so
versichern Jud’ und Christ, der Inbegriff aller
Gebote."
Ich fragte mich damals, und ich frage Sie heute:
Wo blieb in der Zeit zwischen 1933 und 1945 die christliche Liebe
zu den Juden, Sinti und Roma und vielen anderen?
Die Kirchen bewährten sich damals in diesem so wichtigen Punkt
ebenso wenig wie der Großteil der deutschen Bevölkerung;
und das trotz der vorbildlichen Haltung Einzelner.
Unverständlich ist dieses fast allgemeine Versagen der
Deutschen im Hinblick auf das, was sich vor den Augen eines jeden
abspielte.
Gewiss, nur eine Minderheit konnte wissen, was in den
Vernichtungslagern wirklich geschah. Das wurde bewusst geheim
gehalten.
Aber jeder konnte sehen, was zuhause ablief.
Man sah, wie Behinderte schikaniert wurden, wie man Homosexuelle
misshandelte oder Roma und Sinti entrechtete.
Und man sah ganz besonders, wie man den Juden zuerst die
Lebensmöglichkeit nahm; dann ihre Gotteshäuser
schändete, sie später vertrieb, abholte und in eine
ungewisse Zukunft verschickte.
All das konnte man sehen.
Doch allzu viele haben damals weggeschaut. Erst in diesen Tagen
sind ein angesehener Bergsteiger und Tibetforscher und eine
großartige Schriftstellerin gestorben, die beide bekannten
und bedauerten, in ihrer Jugend schuldig geworden zu sein.
Wenn ich an solche Menschen denke, stellt sich mir auch oft die
Frage, wie ich mich wohl verhalten hätte, wenn ich damals ein
nichtjüdischer Deutscher gewesen wäre. Ich hoffe, ich
wäre, der Richtschnur meiner Mutter folgend, ehrenhaft
geblieben. Aber mit Sicherheit kann ich das nicht behaupten.
Und ich warne auch die Nachgeborenen.
Viele davon sprechen nicht nur ihre Väter und
Großväter schuldig, sondern verkünden vollmundig,
so etwas wäre bei ihnen völlig unmöglich
gewesen.
Niemand aber sollte über andere urteilen, der den Verlockungen
nicht selbst ausgesetzt war.
Ich mache jetzt in meinen Gedanken einen großen Sprung; komme
vom Damals zum Heute.
Einerseits leben in Deutschland jetzt so gut wie keine
"eingeborenen" deutschen Juden mehr, andererseits entwickelt sich
hier eine wachsende jüdische Gemeinschaft. Und es gibt -
weitgehend als Folge der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik
- ein Land der Juden, Israel. Zu diesem Staat hat Deutschland seit
40 Jahren diplomatische Beziehungen und gehört seitdem zu
seinen zuverlässigsten internationalen
Fürsprechern.
Es gibt christlich-jüdische Vereinigungen, und in Deutschland
werden mehr Doktorarbeiten über jüdische Themen
geschrieben als in irgendeinem anderen Land.
Im Mai des vergangenen Jahres wurde in der politischen Mitte
Berlins das Mahnmal für die ermordeten Juden eingeweiht. Die
Berliner und ihre Besucher haben es sofort angenommen. (Hoffentlich
folgend nun bald auch die versprochenen Gedenkstätten für
andere Verfolgten-Gruppen.)
Es leben also in Deutschland wieder Juden. Aber es gibt, wie in
anderen Teilen Europas, leider auch wieder einen Antisemitismus.
Dieser ist da, auch wenn sich Judenfeindlichkeit oft weitgehend
versteckt oder als Kritik an Israel tarnt, wobei man manchmal die
sinnwidrige These hören kann, die Israelis seien die Nazis von
heute.
Auch der Antiamerikanismus ist recht oft dem Antisemitismus sehr
nahe. In leichter Abänderung einer Hitlerschen These hört
man oft, die Juden hätten in den USA zuviel Einfluss. Sie
bestimmten vor allem - hauptsächlich wegen Israel - die
amerikanische Außenpolitik. Das ist Humbug, aber es wird
geglaubt.
Neo-Nazis sind in diesem Lande wieder aktiv. Dabei handelt es sich
nicht um alte Parteigenossen von früher, sondern weitgehend um
junge Menschen, bei denen die bekannten Vorurteile wieder einen
Saatboden finden.
Dennoch besteht kein Grund zur Sorge, wenn Sie, wenn wir alle,
wachsam bleiben.
Wenn wir, sobald Antisemitismus irgendwo in der Welt - wie heute
etwa bei der iranischen Staatsführung - virulent wird, das
nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern zu aktivem Tun bereit
sind.
Nun aber habe ich, zum Schluss kommend, noch einen Wunsch.
Ich bitte Sie, nach meinen Worten nicht, wie es üblich ist,
Beifall zu klatschen.
Wir gedenken in dieser Feierstunde am zentralen politischen
Gestaltungsort Deutschlands der Millionen Menschen, denen der
Nationalsozialismus den Tod brachte. Wir gedenken der
jüdischen und aller übrigen Opfer.
Daneben gedenke ich, gedenken viele von Ihnen, auch der anderen
Opfer, die im vergangenen Jahrhundert in vielen Teilen der Welt
getötet wurden, der Zeit, für die der weise Friedrich
Nietzsche den Nihilismus voraussagte, dem Jahrhundert, in dem mehr
Menschen von anderen Menschen umgebracht wurden als je zuvor.
Anstelle irgendeiner Beifallbekundung werde ich Sie um eine Minute
des dem Angedenken gewidmeten Schweigens bitten.
Zunächst zum Gedenken an die sechs Millionen getöteten
Juden, zu denen auch meine Eltern gehören, an die ermordeten
Sinti und Roma und an alle Opfer des Nationalsozialismus. Aber
darüber hinaus an alle, die im zwanzigsten Jahrhundert
irgendwo auf der Erde um ihres Glaubens, Ihrer Rasse, ihrer
Abstammung, ihres Geschlechts oder auch völlig grundlos
ermordet wurden.
Auf diese Weise, durch gemeinsames Schweigen, ehren wir sie
alle.
Ich darf Sie nun um diese eine Minute der absoluten Stille
bitten.
Ich danke Ihnen sehr.