MIGRATION
Die spanische Exklave Ceuta an der marrokanischen Mittelmeerküste gilt vielen Afrikanern als das Tor zur Hoffung. Doch nur für wenige ist sie das
Es war eine kühle Nacht im Spätherbst 2007 als Samia (Name geändert) ins Wasser sprang. Die Gischt des marokkanischen Mittelmeers umschloss sie, Samia trug einen Taucheranzug und eine Schwimmweste. Neben ihr glitt ein weiterer Schatten ins Meer. Es war ein Einheimischer, ein so genannter "menschlicher Motor".
Die 21-Jährige aus Uganda wusste, dass sie sich nun in Lebensgefahr befand. Der Weg durchs nachtschwarze Meer war mehrere Kilometer lang. Alles hing vom "Motor" ab, einem kräftigen jungen Mann mit Schwimmflossen. Und von dem Seil, an dem Samia hing, und das sich jetzt straffte.
Die Guardia Civil, die die See- und Landgrenzen zu Spanien bewacht, durfte die beiden auf keinen Fall entdecken. Dem Schlepper drohte eine drastische Gefängnisstrafe. Nicht wenige hatten ihren "Passagier" in einer solchen Situation losgebunden und ihn allein auf See zurückgelassen. Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass allein 2007 rund 3.500 Menschen bei dem Versuch, von Afrika nach Europa zu gelangen, im Meer ertranken. Auch Samia schwamm keuchend durch das eiskalte Wasser. Eine knappe Stunde sollte das Unternehmen dauern - wenn alles gut ging. Vier Jahre war sie schon unterwegs. Das gelobte Europa war denkbar nah. Geografisch jedenfalls.
Sieben Monate später sitzen im Ceti, dem Übergangslager für Flüchtlinge in der spanischen Stadt Ceuta, 15 junge Leute in einem Klassenzimmer. Sie haben Spanischunterricht. In der letzten Reihe eine hübsche Frau mit aufgesteckten Locken: Samia.
Sie hat es geschafft. Sie ist angekommen in einer der berühmten Exklaven, die auf dem afrikanischen Kontinent liegen, politisch aber zu Spanien gehören. "Nur die Stärksten, die Ausdauerndsten schaffen es bis hierhin", sagt der Arzt, der sie und die anderen Ceti-Insassen betreut, und presst die Lippen zusammen.
Die Dimensionen sind unvorstellbar: 17 Millionen Afrikaner haben in der Hoffnung auf Frieden und ein besseres Leben ihre Heimat verlassen, schätzen die Vereinten Nationen. Im Lager von Ceuta befinden sich gerade einmal 300 Menschen. Nicht wenige Flüchtlinge gelangen über Marokko, Westafrika oder Libyen nach Europa, die allermeisten aber bleiben in afrikanischen Durchgangsländern. Sie erleben die kleine Illusion von Europa nicht, die das Lager schafft: eine Unterkunft, etwas zu essen, Kleidung. Ärzte behandeln die physischen Begleiterscheinungen der Flucht: Hautekzeme, Darmparasiten, Dehydrierung. Zumindest körperlich sind die meisten Flüchtlinge relativ schnell wieder hergestellt. Und dann beginnt das Warten.
Ceuta, dieses 76.000-Einwohner-Städtchen mit dem kastilisch-mediterranen Flair, ist durch und durch geprägt von der Migration. Das belegt allein schon die Landgrenze zu Marokko: acht Kilometer schwer bewachter Stacheldrahtzaun. Wie ein silbergrauer Bandwurm schlängelt er sich zwischen den sonnenverbrannten Hügeln vor der Stadt hindurch. Bis in die frühen 1990er Jahre gab es hier keine nennenswerten Zäune. Doch Spaniens Wirtschaft strebte aufwärts, nachdem das Land 1986 der EU beigetreten war. Die Fördergelder aus Brüssel zeigten Wirkung, das Land wurde für Einwanderer immer interessanter. Dann machten die EU-Staaten Ernst mit dem so genannten Schengen-Raum. Von 1995 an fielen die Kontrollen an den europäischen Binnengrenzen weg -weswegen die Länder zunehmend an Abschottung nach außen interessiert waren. Also wurde der Zaun gebaut und nach und nach verstärkt.
Schließlich kam der Spätsommer 2005. "Avalancha", Lawine, sagen Flüchtlingshelfer in Ceuta heute noch, wenn sie sich an diese Wochen erinnern. Sie sehen sie immer noch vor sich: Tausende Menschen aus Schwarz- und Nordafrika, die gegen die Zäune anstürmen, die mit selbstgebauten Leitern die Zäune hochklettern, mit Gärtnerhandschuhen in den Stacheldraht greifen, mit Zangen Löcher ins Metall reißen.
Mehrere hundert schafften es auf die andere Seite. Für Dutzende Menschen endete der Fluchtversuch aber tragisch: Sie wurden totgetrampelt, vom Draht zerfetzt oder erschossen. Sowohl spanische als auch marokkanische Grenzer hätten Schüsse abgegeben, sagen Menschenrechtsorganisationen. Ceuta und Melilla - die zweite spanische Exklave -, von denen zuvor kaum ein Europäer gehört hatte, standen im Licht der Weltöffentlichkeit.
Spanien entschied sich dennoch dafür, bei der Strategie der Abschottung zu bleiben. Mit Hilfe von EU-Geldern erhöhten die Behörden den Zaun von 3,50 Meter auf 6 Meter. Die Überwachung wurde verstärkt, Personal aufgestockt. "Seitdem hat es nur noch eine Hand voll Menschen über den Zaun geschafft, was ein Wunder ist", sagt Schwester Paula, eine resolute spanische Nonne, die in Ceuta in der Flüchtlingshilfe arbeitet.
Der für Ceuta zuständige Polizeidirektor dagegen ist vorerst zufrieden. Der Kampf gegen illegale Arbeitsmigration sei nur eine der Herausforderungen, erklärt er. Eine andere sei die Bedrohung durch den islamischen Terrorismus; die Exklaven gelten als Einfallstore nach Europa.
Im Ceti ist der Spanischkurs inzwischen zu Ende. Samia und ihre Mitschüler überlegen, wie sie den Rest des Nachmittags verbringen können. Einen Film auf der hauseigenen Leinwand ansehen? Fußball spielen? "Die Zeit hier im Lager ist quälend lang", sagt Samia, während sie ihre Schreibhefte einpackt. "Wir warten und warten auf unsere Papiere. Wochen-, monatelang, manche noch länger."
Denn dass ein Flüchtling Ceuta erreicht, heißt noch lange nicht, dass ihm eine Perspektive in Europa sicher ist. Er muss versuchen, einen Aufenthaltstitel zu bekommen, etwa über ein Asylverfahren. Die Chancen sind je nach Herkunftsland unterschiedlich. Scheitert der Weg über die Behörden, wird der Flüchtling abgeschoben - es sei denn, er taucht vorher in die Illegalität ab.
Joao (Name geändert) aus Guinea-Bissau weiß nicht, welche Chancen er vor den europäischen Behörden hat. "Ich möchte arbeiten, wie zu Hause auch, ich bin Klempner", sagt er. Obwohl er erst seit ein paar Wochen im Ceti lebt, ist sein Spanisch ganz passabel - seine Muttersprache ist portugiesisch. Ein Riesenvorteil gegenüber vielen anderen Einwanderern. Barcelona heißt sein Traumziel.
Noch vor vier Jahren hätte sich Joao gute Hoffnungen machen können: Damals hatte die Regierung unter dem Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero 600.000 illegalen Arbeitsmigranten ein formelles Bleiberecht verschafft. Inzwischen hat sich die Politik gedreht, auch wegen des Drucks anderen EU-Partner. Zapatero will bis zu eine Million Einwanderer mittels wirtschaftlicher Anreize ermuntern, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie sollen ihre Ansprüche auf Arbeitslosenhilfe ausbezahlt bekommen und günstige Mikrokredite erhalten.
Noch härter trifft es allerdings diejenigen, die gar nicht erst ein Bleiberecht bekommen. Denn gerade hat die EU ihre Vorschriften gegen illegale Einwanderer verschärft. Ausgewiesene Migranten können nun unter anderem bis zu 18 Monate in Abschiebehaft genommen werden (siehe rechts oben).
Für das unter Hochspannung stehende Ceuta hat niemand eine schnelle Lösung parat. "Wer aus Not auswandern will, wird sich nicht davon abbringen lassen, auch wenn er dabei sein Leben riskiert", sagt Schwester Paula. Die Zahl der Toten und Verletzten an den EU-Außengrenzen werde weiter steigen, ob in Ceuta oder anderswo. Nach neun Jahren Arbeit in Ceuta ist die Schwester überzeugt, dass nur eine fairere und ehrlichere Nord-Süd-Politik Abhilfe schaffen könnte. "Die Europäer verkaufen den Afrikanern Waffen, und während diese sich streiten, plündern sie sie aus", erklärt sie zornig. "Die EU muss endlich die Augen öffnen. Im Moment wird Afrika totgeschwiegen, im wahrsten Sinne des Wortes!"