WAHLRECHT
Für die Europawahlen gelten in jedem EU-Land andere Regeln. Nicht alle finden das gerecht
Als die an der CSU-Basis nicht unumstrittene Monika Hohlmeier im Januar bei der Kampfabstimmung um den sechsten Listenplatz der CSU gegen Gabriele Stauner aus Wolfratshausen gewann, war klar: Wenn die Tochter des früheren bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß bei den Europawahlen scheitert, dann ist die ganze CSU gescheitert. Wenn aber die CSU den erneuten Einzug ins EP schafft, dann ist die Favoritin des Parteivorsitzenden Horst Seehofer dabei. Sechs oder keiner, darum geht es für die CSU bei den Europawahlen am 7. Juni.
Der Grund liegt im komplizierten Wahlrecht für die Europawahlen - kompliziert vor allem, weil die Regeln in jedem EU-Land unterschiedlich sind. So dürfen in Österreich zum Beispiel auch 16-Jährige schon ihre Stimme abgeben, in Belgien herrscht Wahlpflicht, in Frankreich müssen Kandidaten mindestens 23 Jahre alt sein, in Italien sogar 25. Das vor Jahren diskutierte Ziel einer einheitlichen Wahlordnung für die gesamte EU ist inzwischen aufgegeben worden. Die nationalen Traditionen sind zu tief verwurzelt.
Das fängt damit an, dass deutsche Wähler daran gewöhnt sind, sonntags zu wählen, Briten und Niederländer dagegen wochentags abstimmen und Letten am liebsten am Samstag. Deshalb dauern die Europawahlen von 4. bis 7. Juni.
Für die Wähler sind die Wahlen außerdem leichter zu verstehen, wenn die Regeln weitgehend dem nationalen Wahlrecht entsprechen, das sie gewohnt sind. Für Deutschland bedeutet das: Die 99 deutschen Sitze in Straßburg werden in gleicher, geheimer, freier und allgemeiner Wahl besetzt: Jede Stimme zählt gleich viel, niemand muss sagen, wen er gewählt hat, niemand muss wählen, aber jeder, der mindestens 18 Jahre alt ist und deutscher Staatsbürger, darf nicht nur wählen, er kann sich von einer Partei auch als Kandidat aufstellen lassen.
Anders als bei der Bundestagswahl dürfen in der Bundesrepublik auch Nicht-Deutsche wählen und gewählt werden, sofern sie Bürger eines EU-Staates sind. Dafür können Deutsche, die im EU-Ausland wohnen, dort ihre Stimme abgeben und sich auch aufstellen lassen. Sie müssen sich dann allerdings in die örtlichen Wahllisten eintragen lassen, was in Belgien zum Beispiel bedeutet, dass sie von diesem Moment an auch bei künftigen Wahlen mitstimmen müssen und bei Nichterscheinen an der Wahlurne eine Geldstrafe riskieren. Im Gegensatz zur Bundestagswahl gibt es bei den Europawahlen keine Direktmandate, denn sie sind Verhältniswahlen, jeder hat nur eine Stimme. Selbst in Großbritannien, dem Kernland des Mehrheitswahlrechtes, stehen nur Parteien zur Auswahl, keine Köpfe. Darauf hat man sich vor fünf Jahren geeinigt, weil es im EP nicht darum geht, klare Mehrheiten für eine Regierung zu finden, sondern in erster Linie darum, die politischen Verhältnisse in den Mitgliedstaaten widerzuspiegeln.
Die Wähler können ihr Kreuzchen also nur einer Partei und nicht einem Kandidaten geben. Das macht die Entscheidungsfindung in der Wahlkabine einerseits leichter, weil Europapolitiker den meisten Bürgern in aller Regel unbekannt sind. Auf der anderen Seite trägt das Listensystem dazu bei, dass die allermeisten Europaabgeordneten den Bürgern auch niemals bekannt werden.
In einigen Ländern wie Österreich können die Bürger ihre Wunschkandidaten zumindest innerhalb der Partei-Listen nach vorne wählen. Das bayerische Kommunalwahlrecht kennt das auch: "Häufeln" nennt man das man dort. Wäre das in Bayern auch bei den Europawahlen möglich, könnten die bayerischen CSU-Wähler Kandidaten von den hinteren Listenplätzen nach vorne häufeln - die bei der Kandidatenauswahl unterlegene Gabriele Stauner aus Wolfratshausen zum Beispiel. Die CSU würde dann möglicherweise ohne Frau Hohlmeier in Straßburg einziehen. Mit dem österreichischen Wahlrecht wäre der Einzug zudem viel leichter, weil dort die Sperrklausel bei nur vier Prozent liegt. Griechische Parteien kommen sogar schon mit drei Prozent der griechischen Wählerstimmen ins Europaparlament, zypriotische sogar schon mit 1,79 Prozent.
Weil aber in Deutschland die Fünf-Prozent-Hürde gilt, muss die CSU mindestens 40 Prozent der bayerischen Wähler überzeugen. Rund 40 Prozent in Bayern macht auf ganz Deutschland umgerechnet fünf Prozent. Ob es ein bisschen mehr sein muss, hängt von der Wahlbeteiligung ab. Wenn sehr viele Bayern die Pfingstferien am Gardasee verbringen und es gleichzeitig die Nordrhein-Westfalen massenweise zur Wahlurne drängt, dann könnten auch 42 bayerische Prozent zu wenig sein für die CSU.
Während die Sozialdemokraten ihre 99 Kandidaten für die Europawahl auf einer Bundesliste aufgestellt haben, sind die Christdemokraten auf Landeslisten nominiert. Das Wahlgesetz erlaubt beides, auf die Zahl der Abgeordneten hat das ohnehin keinen Einfluss. Bundeslisten haben aus Sicht der Parteiführung den Vorteil, dass man die künftige Abgeordnetenmannschaft besser nach regionalem Proporz, nach Geschlecht oder sonstigen Kriterien zusammenstellen kann. Kleinere Parteien bevorzugen ohnehin bundesweite Listen, weil sie sonst zu viele Landeslisten hätten, von denen kein einziger Kandidat den Einzug ins Europaparlament schafft.
Bei großen Parteien dagegen regen Landeslisten den Wettbewerb der Landesverbände an. Wenn die Christdemokraten in Rheinland-Pfalz ein besseres Ergebnis als beispielsweise die Sachsen erzielen, bringen sie auch mehr Abgeordnete als das etwa gleich große Sachsen ins Europaparlament. Wenn sich allerdings alle CDU-Landesverbände Erfolg haben, könnten sie versehentlich die CSU rauswerfen.
Aus Sicht der CSU-Kandidaten ist das Europawahlsystem daher ziemlich ungerecht und zwar nicht nur wegen der unterschiedlichen Sperrklauseln. Fünf Prozent in Deutschland sind bei 43 Prozent Wahlbeteiligung - soviel waren es 2004 - rund 1,3 Millionen Stimmen. Damit kämen die Christsozialen gerade noch ins Europaparlament und hätten dort sechs Abgeordnete.
Im Inselstaat Zypern reichen einer Partei bereits 8.000 Wähler, um die Sperrklausel zu überspringen - theoretisch. Praktisch braucht man auch in Zypern 30.000 bis 40.000 Stimmen, um einen der sechs zypriotischen Sitze im Eruopaparlament zu bekommen.
Doch diese 40.000 Stimmen sind immer noch weit weniger, als jede deutsche Partei braucht, um einen Abgeordneten nach Straßburg zu schicken. Dieses Ungleichgewicht spielt derzeit auch bei der Verfassungsklage gegen den Vertrag von Lissabon eine wichtige Rolle. Die Stimme eines maltesischen Bürgers habe zwöf Mal soviel Gewicht wie die eines deutschen Wählers, rechnet Professor Karl Albrecht Schachtschneider vor, der für den CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler die Klageschrift verfasst hat. Das verstoße gegen das Grundgesetzgebot, dass Wahlen gleich zu sein hätten. Das Problem ist nur, dass es kaum anders geht: Um die politischen Kräfteverhältnisse eines Landes auch nur ansatzweise im Europäischen Parlament zur Geltung zu bringen, sind mindestens fünf Abgeordnete pro Land nötig. Bei strikter Proportionalität müsste Deutschland bei fünf maltesischen Abgeordneten ziemlich genau 1.000 Sitze in Straßburg bekommen. Das ganze EU-Parlament hätte dann mehr als 5.000 Abgeordnete. Damit wäre es fast zweimal so groß wie der chinesische Volkskongress.
Alois Berger arbeitet als freier Korrespondent in Brüssel.