EU-WAHLKAMPF
Die Parteien ringen um ihr Profil und setzen eigene Schwerpunkte
Noch zwölf Wochen sind es bis zur Abstimmung über das neue EU-Parlament, langsam beginnt die heiße Phase des Wahlkampfs. Politiker aller Parteien wollen den 7. Juni auch als einen Auftakt für die Bundestagswahl nutzen, bei der es zu Hause ums Eingemachte geht. Schon jetzt liefert sich die Union erste Gefechte. So geht die CDU mit dem klaren Bekenntnis zu Europa in die Kampagne. Sie will die Finanzmärkte reformieren, um die aktuelle Krise zu bewältigen, und setzt sich für einen stabilen Euro und eine gemeinsame Stimme nach Außen ein. Außerdem befürwortet sie den nach wie vor in der Luft hängenden Vertrag von Lissabon.
Der Schwesterpartei CSU indes ist das zu wenig EU-kritisch. Sie tritt mit einem eigenen EU-Wahlprogramm an, in dem alles steht, was sie nicht will, zum Beispiel Brüssel die Oberhoheit über die Verträge belassen, oder beibehalten, dass Englisch und Französisch nach wie vor die einzigen Amtssprachen sind, während Deutsch immer noch nicht den Status einer europäischen Lingua Franca hat. Die CSU will auch keine weiteren Beitrittsverhandlungen mit der Türkei oder eine Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts durch krisengeschüttelte Mitglieder. Vor allem aber sorgt für Zündstoff, dass sich die CSU explizit für Volksabstimmungen ausspricht.
EU-Parlamentspräsident und CDU-Spitzenkandidat Hans-Gert Pöttering erteilt dieser Forderung eine kategorische Absage: Europa sei zu komplex, meint er. Würde man die EU-Bürger jedes Mal nach ihrer Meinung fragen, sei an der jetzt schon schädlichen Reformunfähigkeit der EU gar nichts mehr zu machen (dazu auch: Interview Seite 2). Der Brüssler CSU-Frontmann Markus Ferber ist jedoch überzeugt, dass genau diese Linie vom Wähler geschätzt wird: "Wir sind die einzigen Europarealisten. Alle anderen Wahlprogramme sind weit weg von der Wahrnehmung der Bürger."
In der CSU kommt beim Profilierungskampf mit der großen Schwester allerdings hinzu, dass sie um den Einzug ins EU-Parlament bangen muss. Fällt das Ergebnis so schlecht aus wie bei der Bayernwahl im Herbst 2008, könnten die Christsozialen an der bundesweiten Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Die bisher nur landesweite Konkurrenz durch die Freien Wähler besteht jetzt auch auf europäischer Ebene. Anfang Februar nahm die Partei die formalen Hürden. Angeführt von der Ex-CSU-Rebellin Gabriele Pauli als Spitzenkandidatin drohen sie, der bayerischen Traditionspartei zusätzlich Wasser abzugraben.
Die Anhänger von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, den beiden Fraktionsorsitzenden der Linkspartei im Bundestag, haben bereits ein - parteiinternes -Massaker hinter sich: Zwei langjährige Europaparlamentarier der Partei wurden beim Europaparteitag in Essen im März nicht aufgestellt: Sylvia-Yvonne Kaufmann, Vize-Vorsitzende der linken Fraktion, und André Brie, der wie Kaufmann seit zehn Jahren in Straßburg saß. Diese beiden werden nicht dabei sein, wenn die Linkspartei mit ihrem Slogan "Solidarität, Demokratie, Frieden - Gemeinsam für den Wechsel in Europa!" in die Europawahl zieht. Zwar geben die Linken ein klares Bekenntnis ab: Ja zur europäischen Integration. Ja zu den Zielen der EU im Kampf gegen die Klimakatastrophe. Ja zur sozialen Gerechtigkeit. Doch ganz oben auf der Agenda steht auch die Ablehnung des Lissabon-Vertrags, gegen den die Bundestagsfraktion vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe klagt. Zwar stimmt auch die Linke zu, dass Europa eine neue vertragliche Grundlage brauche. Doch im Lissabon-Vertrag bestimmten "erneut Aufrüstung und eine gescheiterte Wirtschaftspolitik die Grundrichtung". Die Linkspartei will auch keinerlei Verteidigungsfunktion der EU. Die Nato soll aufgelöst werden, genauso wie alle bestehenden Militärformationen der Union. Außerdem will sie Europa nicht zur Festung werden lassen, sondern Flüchtlingen "Schutz und Aufnahme" und "faire Asylverfahren" gewähren.
Konkurrenten sind diese Forderungen offenbar ein Dorn im Auge: "Linkspartei taugt nicht für Europa", heißt es auf der sozialdemokratischen Europawahl-Website. Der SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz beschwört, im Gegensatz zur Linkspartei interessierten die Sozialdemokraten nicht Ressentiments, sondern Realität.
Die Sozialdemokraten haben sich in ihrem bereits im Dezember verabschiedeten Wahlmanifest zugleich einen weiteren Gegner auserkoren: den Koalitionspartner in Berlin. Sie wollen die "Vorherrschaft der Konservativen" im Europaparlament brechen und ein "sozialdemokratisches Jahrzehnt" eröffnen. "Unser oberstes Ziel ist ein sozial gerechtes Europa und die Kontrolle der Finanzmärkte." Schulz weiß: Wenn am 7. Juni die Wahllokale öffnen, wird die Finanz- und Wirtschaftskrise weiter die größte Sorge in den EU-Staaten sein.
Ein gerechtes Europa mit sozialer Marktwirtschaft wollen auch die Liberalen. "Aber dafür darf es in der Krise keinen Protektionismus geben", sagt der Europa-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff, Nummer zwei auf der Liste hinter Frontfrau Silvana Koch-Mehrin. Den Binnenmarkt mit seinem freien Wettbewerb zu verteidigen, hat sich die Fraktion im EP auf die Fahnen geschrieben - "schließlich gingen 2008 deutsche Exporte für 700 Milliarden Euro in die EU-Länder", sagt Lambsdorff. Die Liberalen wähnen sich mit dieser Haltung nah am EU-Bürger. Denn genau für diese Politik fährt die Bundes-FDP seit Wochen Rekordwerte in den Umfragen ein. Die Parteikollegen in Brüssel hoffen, von dieser Stimmung bei der Europawahl zu profitieren.
Die Stammwähler der Grünen orientieren sich dagegen bei ihrer Wahlentscheidung wenig an dem, was in Deutschland passiert. Das Wahlprogramm der Partei hat deshalb so klar wie kein anderes die globale Krise ganz oben auf die Agenda gehoben. Sie sei "eine große Chance für den grünen New Deal", sagt Reinhard Bütikofer, früherer Bundesvorsitzende und neuer Spitzenkandidat. Dem Neuling zur Seite steht Rebecca Harms, die für ihre zweite Legislatur ins Parlament will.
Nach Meinung der Grünen schreit die Krise geradezu nach einer neuen Wirtschaftspolitik, nach einem "neuen grünen Weg". Statt veraltete Konjunkturprogramme wieder aufzulegen, sei die Chance zur Restrukturierung, zu einem umweltgerechten und damit nachhaltigen Wirtschaften, gekommen. Dass die Grünen neu denken wollen, zeigt auch ihr Personaltableau: Der Mitbegründer der Anti-Globalisierungs-Bewegung attac, Sven Giegold, steht genauso auf der Liste wie Barbara Lochbihler, die scheidende Generalsekretärin der Menschenrechtsorganisation Amnesty International.
Stefanie Bolzen ist Korrespondentin für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" in Brüssel.