EU-REFORM
Ohne Lissabon-Vertrag steht der Union eine schwierige Legislatur bevor
Rein kalendarisch betrachtet ist 2009 für die Europäische Union ein Jubeljahr. Zehn Jahre Euro, 20 Jahre Mauerfall und 30 Jahre Direktwahlen zum Europäischen Parlament - da gibt es eine Menge Anlässe für schöne Reden und Champagner. Doch die runden Geburtstage können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich immer mehr Bürger ernüchtert abwenden. Dieser Frust hat wesentlich dazu beigetragen, dass in Frankreich, den Niederlanden und Irland die Wähler der EU-Reform eine Absage erteilt haben. Doch ohne Reform wird Europa immer unbeweglicher, politikunfähiger und unattraktiver - ein Teufelskreis.
Viele irische Wähler begründeten ihr Nein zum Vertrag von Lissabon damit, dass sie auch künftig einen irischen Kommissar in Brüssel haben wollen. Niemand hatte ihnen erklärt, dass nach dem gültigen Nizza-Vertrag künftig nicht mehr jedes Land einen eigenen Vertreter in die EU-Kommission entsenden darf. Die neue Kommission, die theoretisch in diesem Herbst die Arbeit aufnehmen soll, müsste nach geltender Vertragslage mindestens einen Kommissar weniger als die Zahl der Mitgliedsländer haben. Alle vier Jahre müssten andere Länder aussetzen, wobei "das demographische und geographische Spektrum", also Größe und Lage der vertretenen Länder, zu berücksichtigen ist.
Tritt der Lissabon-Vertrag in Kraft, sind nur noch zwei Drittel der Mitgliedsländer in der Kommission vertreten. Diese Klausel würde erst 2014 wirksam. Dann könnte ein Rotationssystem eingeführt werden, das diesen Namen auch verdient. Gleichzeitig wäre all denen der Wind aus den Segeln genommen, die den bürokratischen Wasserkopf in Brüssel kritisieren. Allzuoft sind es die gleichen, die auf einen eigenen Kommissar ihres Landes nicht verzichten wollen.
Ihr verflixtes siebtes Jahr hat die Debatte um die Reform der EU-Verträge längst überschritten. Denn eigentlich begann die Überarbeitung des Vertrags von Nizza mit dem Tag seiner Paraphierung, dem 11. Dezember 2000. Schon als die damals 15 Staats- und Regierungschefs in dem französischen Badeort ihre Unterschrift unter das mühsam ausgehandelte Ergebnis des Gipfeltreffens setzten, sahen sie eine neue Serie von Nachtsitzungen auf sich zukommen. Der soeben beschlossene Text, das war allen Beteiligten klar, würde den Anforderungen einer erweiterten EU in der globalen Welt des 21. Jahrhunderts nicht genügen.
Was folgte, ist hinlänglich bekannt: Ein Jahr später beauftragten die Gipfelteilnehmer in der Erklärung von Laeken einen Konvent, mit der Arbeit für eine Verfassung Europas zu beginnen. Die Versammlung aus Europaabgeordneten, nationalen Parlamentariern, Kommissions- und Regierungsvertretern sollte weitgehend unabhängig arbeiten. Zugleich legten die Staats- und Regierungschefs fest, dass der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing den Vorsitz des Konvents übernehmen solle.
Die Versammlung emanzipierte sich bald von ihrem recht autoritär auftretenden Vorsitzenden. In stundenlangen engagierten Debatten im EU-Parlamentsgebäude in Brüssel entwickelten sich die 105 Konventsmitglieder aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern und Funktionen allmählich zu einer verfassungsgebenden Versammlung. Ihren ursprünglichen, eng eingeschränkten Arbeitsauftrag verloren sie aus den Augen. In Laeken hatten die Regierungschefs nicht die Vereinigten Staaten von Europa in Auftrag gegeben. Sie hatten der EU lediglich etwas mehr Bürgernähe und etwas reibungslosere Arbeitsprozesse verordnen wollen.
Die vom Konvent vorgelegte Verfassung ging vielen Regierungen zu weit. Sie hatten den Text zwar durch ihre Vertreter im Konvent selbst mit beschlossen, doch in einer Regierungskonferenz ruderten sie zurück. In einem aber waren sich die damals 15 EU-Regierungschefs bei den Verhandlungen einig: Der Zeitplan sollte um jeden Preis eingehalten werden. Wenn am 1. Mai 2004 auf einen Schlag zehn neue Länder der EU beitreten würden, müssten die vertraglichen Grundlagen geschaffen sein. "Keine Erweiterung ohne Vertragsreform" - ein guter Vorsatz, der sich leider nicht in die Tat umsetzen ließ. Mehr als vier Jahre später steckt die Europäische Union in genau der Lähmung fest, die Beobachter des Vertragsgezerres immer prophezeit haben. Nach zwei gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und Holland, nach weiteren Abstrichen am ursprünglichen Konventstext haben nun die Iren in einem Referendum Nein gesagt. Inzwischen gibt es keinen Zweifel mehr, dass auch das nächste Ultimatum im EU-Kalender verstreichen wird. Spätestens zur Europawahl 2009 müsse der neue Vertrag in Kraft sein, hatten Politiker aller Parteien gewarnt. Wie soll man schließlich der Europamüdigkeit der Bürger entgegentreten, wenn sich die Union als völlig handlungs- und reformunfähig erweist?
Doch für die Europawahl bringt das neben diesem Imageproblem auch praktische Komplikationen mit sich. Der Vertrag von Nizza legt fest, dass maximal 732 Abgeordnete ins EU-Parlament gewählt werden dürfen. Nur wenn während der Legislaturperiode neue Länder beitreten, kommen zusätzliche Sitze hinzu. Deshalb umfasst das EU-Parlament derzeit 785 Mitglieder. In den Verhandlungen zur Verfassung und später zum Lissabon-Vertrag wurde heftig über die Frage gestritten, wie viele Sitze im Parlament künftig jedem Mitgliedsland zustehen sollen. Zwar waren sich theoretisch alle Regierungen einig, dass die Volksvertretung genau wie die Kommission viel zu groß geworden ist. Andererseits wollte kein Land auf Einfluss im Parlament verzichten. Man einigte sich schließlich auf eine Obergrenze von 750 Abgeordneten, bei denen der Parlamentspräsident nicht mitgezählt wird. Die Sitze werden anteilig nach Bevölkerungszahl verteilt, wobei es eine Obergrenze von maximal 96 Abgeordneten für das einwohnerreichste Land - derzeit Deutschland - gibt.
Nach dem Nizza-Vertrag stehen Deutschland 99 Sitze zu. Die kleinen Länder würden nach den neuen Regeln mindestens sechs Abgeordnete entsenden. Das betrifft Staaten wie Luxemburg, Zypern und Malta. Doch der neue Vertrag ist noch immer nicht in Kraft. Das bedeutet, dass Deutschland vorläufig seine 99 Sitze behält, Malta aber nur 5 Abgeordnete schicken darf.
Was aber geschieht, wenn der Lissabon-Vertrag doch noch Rechtskraft erlangt? Müssen dann drei deutsche Abgeordnete nach Hause geschickt werden? Natürlich nicht, sagt der juristische Dienst des Europaparlaments. Schließlich sind sie für die ganze Legislaturperiode gewählt worden. Doch Länder, die sich nach dem neuen Vertrag günstiger stellen, dürfen zusätzliche Abgeordnete nachrücken lassen. Es wird also wieder nichts mit der Obergrenze von 750 Parlamentariern.
Noch schwieriger wird die Sache für die EU-Kommission. Ein Sprecher gab Anfang Januar bekannt, die alte Kommission werde kommissarisch im Amt bleiben, bis - hoffentlich - im Spätherbst die Iren in einem weiteren Referendum der Reform ihren Segen erteilt haben. Dann könnte der neue Kommissionspräsident, wie im Lissabon-Vertrag vorgesehen, auf Vorschlag des Rates von der Mehrheit des EU-Parlaments gewählt werden. Doch diese Mehrheit ist ja auf Grundlage des vorherigen Vertrags zustande gekommen. Eine Konstellation, die nicht nur Rechtsexperten Sorgen bereitet.
Wesentlich einfacher lassen sich die anderen Neuerungen nachträglich umsetzen. Der Rat wählt mit qualifizierter Mehrheit einen Präsidenten, der die Ratsgeschäfte auf die Dauer von zweieinhalb Jahren koordiniert und leitet. Seine Amtszeit kann einmal verlängert werden. Die halbjährlich wechselnde Ratspräsidentschaft wird abgeschafft. Der Rat ernennt einen Hohen Vertreter für Außenpolitik, der gleichzeitig dem Kreis der Außenminister und der Kommission angehört und deshalb vom Parlament bestätigt werden muss. Ihm wird ein diplomatischer Dienst aus Kommissionsbeamten und Diplomaten der Mitgliedstaaten zur Seite gestellt.
Das EU-Parlament wird noch stärker in die Mitentscheidung einbezogen. Parallel entfällt im Rat die Hürde der Einstimmigkeit und es wird nur noch eine qualifizierte Mehrheit gebraucht. Das betrifft vor allem die Gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik und die zunehmend bedeutsamere Einwanderungspolitik. Fragen, die den Arbeitsmarkt betreffen, sind ausdrücklich ausgenommen.
Die Rechte der nationalen Parlamente werden gestärkt. Sie können prüfen lassen, ob ein von der EU-Kommission vorgeschlagenes Gesetz wirklich unter europäische Zuständigkeit fällt. In einem Bürgerbegehren, das EU-weit mindestens eine Million Befürworter findet, können die Wähler durchsetzen, dass die EU-Kommission tätig werden und ein Gesetz für ein bestimmtes Problem vorschlagen muss.
Das Gewirr an Kompetenzen und Prozeduren wird damit nicht aus der Welt geschafft. Immerhin aber könnte die Reform die EU wieder handlungsfähig machen. In der Außenpolitik, Fragen der Energiesicherheit, der gemeinsamen Grenzkontrolle und der Einwanderung könnte sie bei den Wählern punkten.
Bei ihren Nachbarn punktet sie jetzt schon. Die Türkei und Kroatien klopfen ungeduldig an die Tür. Andere Balkanstaaten und die Ukraine machen sich ebenfalls Hoffnungen auf eine Mitgliedschaft. Eine Chance hat ihr Anliegen nur, wenn es der Union gelingt, ihre interne Organisation in Ordnung zu bringen.