Herr Harpprecht, Sie haben mal gesagt, der Weg zu Europa sei lang und beschwerlich. Was fällt uns so schwer auf diesem Weg?
Die Schwierigkeiten sind weitgehend Produkte der nationalen Bürokratien. Keiner will Privilegien und Machtzuständigkeiten abgeben. Daher kommt auch das beliebte Spiel, die sogenannte Brüsseler Bürokratie zum Sündenbock für alles zu machen. Aber trotz Aufenthalten und Rückschlägen ist mittlerweile doch ein erstaunliches Stück Europa geschafft worden.
Stellen Sie beim Zusammenwachsen Europas und im Umgang der Menschen miteinander Veränderungen fest?
Ja, aber das Positive bringt zugleich gewisse Schwierigkeiten mit sich. Die Menschen gewöhnen sich sehr schnell an Europa und die europäischen Freiheiten. Die junge Generation betrachtet Europa als selbstverständlich - manchmal als so selbstverständlich, dass zugleich gewisse nationalstaatliche Wünsche und Bedürfnisse wieder zu wachsen scheinen. Die vertragen sich natürlich nicht mit dem institutionellen Zusammenwachsen Europas. Die EU ist eine noch nie da gewesene Mischform aus einem Staatenbund und einem Bundesstaat. Die Entwicklung muss zwangsläufig in Richtung Bundesstaat gehen. Sonst laufen wir Gefahr, dass der Nationalismus wieder erstarkt.
Seit den 1950er Jahren war das politische Ziel die Sicherung des Friedens in Europa. Ist das nach wie vor aktuell?
Dieses Ziel ist erreicht worden. Hier gab es nie eine annähernd so lange Periode des Friedens. Im Bewusstsein der Menschen ist das Element Frieden jedoch zurück getreten, weil man ihn für selbstverständlich hält. Der Gedanke, dass eine junge deutsche Generation gegen die Franzosen in den Krieg marschieren könnte, ist den Deutschen genauso fremd wie den Franzosen. Aber innere Bindungen könnten äußerem Druck und Krisen nicht gewachsen sein. Wenn man sich zu sicher fühlt, ist die Gefahr von Rückschlägen nicht ausgeschlossen. Mitterrand hat in einer seiner letzten Reden gesagt: "Europa, das ist nach wie vor eine Frage von Frieden oder Krieg." Das ist nun schon eine Weile her, aber der Satz bleibt wahr.
Das Selbstverständnis der jungen europäischen Generation hat sich verändert. Gibt es heute eine europäische Identität?
Ich bin mit dem Begriff Identität immer etwas zurückhaltend, aber es gibt ein vages Gefühl der Zusammengehörigkeit. Mir haben Franzosen gesagt, dass sie einen gewissen Stolz empfinden, wenn sie beispielsweise in die USA reisen und als EU-Bürger in einer Schlange stehen. Das ist eine technisch-bürokratische Sache, aber es ist eben nicht unwichtig. Bezahlt wird in derselben Währung. Und es gibt eine gemeinsame Flagge, die nun aus dem verkürzten Verfassungsvertrag gestrichen worden ist. Seither sehe ich mit wachsendem Entsetzen, dass sie nur noch selten im Hintergrund zu sehen ist, wenn sich die Bundeskanzlerin ans Volk wendet. Man sollte nicht darauf verzichten, nur weil sie nicht im Lissabon-Ver
trag steht.
Europäische Identität generiert sich also stark über Symbole?
Das hat Identität immer getan. Auch das Nationale hat sich über Symbole dargestellt. Das weiß man in Deutschland genauer als irgendwo anders. Viel wichtiger für ein Identitätsgefühl als das Symbolische ist aber immer noch die in den Verträgen verankerte Solidarität. Die würde natürlich viel stärker ins Bewusstsein gerückt, wenn wir den Ansatz zu einer europäischen Armee erweitern und zu einer gemeinsamen Verteidigungspolitik kommen würden. Es knüpft sich auch ein gewisses Identitätsgefühl an die Präsenz der Europäischen Union beispielsweise im Kosovo oder in Bosnien, künftig vielleicht im Nahen Osten. Auch wenn von außen auf Europa geschaut wird, wächst langsam das Bewusstsein, dass es sich um etwas Zusammengehöriges handelt. Das berühmte Kissinger-Wort "Europe? What's the phone number?" ist überholt.
Wie kann man dieses Zusammenwachsen voran bringen?
Es braucht starke Entscheidungsträger. Natürlich muss Europa demokratisch konstruiert sein. Natürlich muss das Europäische Parlament die Rechte eines voll gültigen Parlaments gewinnen. Aber wenn wir gemeinsame Märkte von Volksabstimmungen abhängig gemacht hätten, wären diese, glaube ich, gescheitert. Es braucht eben auch das mutige Voranschreiten von Eliten, um die Voraussetzungen für Europa zu schaffen. Wir hatten das große Glück, dass es nach dem Krieg eine Elite von gleich oder ähnlich Gesinnten gab, die genau das getan hat.
Genau das wird der Europäischen Union zugleich oft zum Vorwurf gemacht: Es sei ein Verbund der Eliten. Häufig wird es so wahrgenommen, als ob nur eine kleine Schicht von Europa profitiere.
Alle profitieren von Europa, sei es als Konsumenten oder in der Wahrnehmung bestimmter Rechte. De facto existiert ein Europa der Bürger. Dass das Voranschreiten, das Ausarbeiten von Projekten und Zielen immer Sache einer gewissen Elite ist, hat die Geschichte eines jedes Landes, einer jeden Nation gezeigt. Als Jean Monnet mit klugen Amerikanern zusammen saß und die ersten Pläne für Europa entworfen hat - das war natürlich auch elitär. Aber diese Eliten braucht es.
Dennoch heißt es, Europa bringe ein Demokratiedefizit mit sich. Die Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament sinkt seit Jahren.
Das Defizit hat sich verringert, auch durch die Ausweitung der Rechte des EU-Parlaments. Es ist auch ein bisschen die Schlafmützigkeit unserer Bürger, die Wichtigkeit von europäischen Wahlen nicht zu erkennen. Zum Teil ist es auch der Fehler der Politiker, dass sie jede Europawahl in eine quasi nationale Abstimmung ummünzen. Und es ist sicher ein Mangel an Kommunikation der Regierungen. Die Notwendigkeit des Europäischen Parlaments ist noch nicht im Bewusstsein der Leute verankert.
Müsste man die europäischen Institutionen also auf nationalstaatlicher Ebene stärker kommunizieren?
Ja, und man sollte - und das ist weitgehend Aufgabe der Medien - den Politikern jedes Mal über den Mund fahren, wenn sie irgendeine nationale Schwierigkeit sofort auf die grauen Eurokraten in Brüssel abschieben wollen. Aber trotzdem: Das Europäische Parlament hat an Ansehen gewonnen - und ich merke, es gewinnt auch an Öffentlichkeit. In puncto Kommunikation glaube ich, beobachtet zu haben, dass das Interesse der Öffentlichkeit oder der Medien an der letzten Kommissionsbildung sehr viel stärker war als früher. Die Besetzung bestimmter Posten in Brüssel ist in den Zeitungen zum Teil fast mit derselben Engagiertheit diskutiert worden wie die Besetzung von nationalen Ministerien. Das heißt, es existiert eine Art von europäischer Öffentlichkeit.
Trotz Sprach- und Nationalgrenzen?
Öffentlichkeit entsteht durch Gleichzeitigkeit und Ineinanderverstricktheit der Themen. Ich glaube nicht, dass das Europäische Parlament durch seine Vielsprachigkeit sehr viel unbeweglicher ist. Das ist ein technisches Problem, und ich habe noch keinen Abgeordneten getroffen, der darunter gelitten hat. Ich sage jetzt etwas ganz Drastisches: Wenn Sie Europa durch Schließung der Grenzen auch nur für drei Tage außer Kraft setzten, hätten Sie hier die vollkommene Panik. Europa ist Offenheit, Europa ist Freiheit.
Innerhalb Europas sieht man sich immer mehr als Gemeinschaft. Wie schätzen Sie die Rolle Europas auf globaler Ebene ein?
Von außen wird Europa zum Teil stärker als Einheit wahrgenommen, als es in Wirklichkeit ist. Der Außenbeauftragte der EU, Javier Solana, ist mit einer gewissen Selbstverständlichkeit bei wichtigen Verhandlungen dabei. Trotzdem wäre es ein großer Fortschritt, wenn es mit dem Vertrag von Lissabon den europäischen Präsidenten und den europäischen Außenminister gäbe - denn Politik geht immer über das Personelle. Die menschliche Phantasie braucht Persönlichkeiten, an denen sie politische Vorstellungen festmacht. Auch dann wird es noch schwierig, die Mitglieder der Europäischen Union auf einen Nenner zu bringen, so dass der Außenminister mit seinen Vollmachten etwas anfangen kann. Aber es wäre ein ganz wichtiger Schritt.
Wenn dieser Schritt letztlich zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik führen würde - was wären die Grundpfeiler?
Dazu gehört natürlich die Sicherung der Außengrenzen und sicher auch, dass die Europäische Union - was sie zum Teil auch schon tut - bestimmte Missionen der Vereinten Nationen übernehmen kann. Die Vertretung gemeinsamer Wirtschaftsinteressen wäre ein weiterer Punkt. Und ich halte es für wünschenswert, dass es in den einzelnen Botschaften jemanden gibt, der die europäischen Belange wahrnimmt. Im Lauf der Zeit könnte man gemeinsame Konsulate einrichten. Die konsularischen Aufgaben sind weitgehend dieselben, wenn es um Visa für den Schengen-Bezirk, um wirtschaftliche Dinge oder auch um europäisches Recht geht.
Mit der Ratifizierung von Lissabon würde man den genannten Punkten wesentliche Schritte näher kommen. Würden Sie Lissabon als eine Art Krönung von Europa betrachten?
Die Europäische Union wird auch mit Lissabon nicht vollendet sein, das Ziel der europäischen Integration ist damit nicht erreicht. Der Vertrag ist aber eine wichtige Etappe auf dem Weg dahin. Er nennt sich zwar nicht Verfassung, aber er ist doch der Roh-Entwurf einer Verfassung. Die Deutschen haben das Grundgesetz auch nicht Verfassung genannt, trotzdem ist es eine. Vielleicht wird es irgendwann eine Initiative geben, einige der ursprünglichen Elemente des Verfassungsentwurfs, wie er vom Verfassungskonvent 2002/2003 unter Leitung von Valéry Giscard d'Estaing erarbeitet wurde, wieder aus der Schublade zu holen und eine nächste Etappe zu erreichen.
Was käme dann? Was könnte das Ziel dieser nächsten Etappe sein?
Ich habe das Glück, dass ich die doppelte Staatsbürgerschaft habe, zwischen Frankreich und Deutschland ist das möglich. Es mag ein wenig kindisch sein, aber ich habe das beantragt, weil ich es als winzigen Schritt hin zu einer europäischen Staatsbürgerschaft betrachte. Die müsste das Ziel sein.
Das Interview führte Patricia Hecht.
Patricia Hecht arbeitet als freie Journalistin für Rundfunk und Zeitungen in Berlin.