EU-ERWEITERUNG
Die Beitrittsfrage wird ein zentrales Thema der kommenden Legislaturperiode sein. Mit Kroatien, Mazedonien und der Türkei stehen die nächsten Kandidaten vor der Tür. Ist die EU bereit für neue Mitglieder?
Im Erweiterungsprozess bin ich der Schiedsrichter", sagt Olli Rehn, und bei ihm ist so ein Satz keine Phrase: Der finnische EU-Erweiterungskommissar hat seinen ersten Fußball geschenkt bekommen, da konnte er kaum laufen. Seitdem dribbelt er regelmäßig über den Rasen. Da weiß der 46-Jährige also mittlerweile ziemlich genau, was ein Schiedsrichter tun muss. Objektiv sein zum Beispiel. Eine Tugend, die Rehn und seine Mitarbeiter für die jährlichen Fortschrittsberichte brauchen.
In den Berichten fasst die EU-Kommission zusammen, wie die drei Kandidatenländer Kroatien, Türkei und Mazedonien auf ihrem Weg Richtung EU vorankommen. "Im Augenblick ist Kroatien das Land, das der EU-Mitgliedschaft am nächsten ist", sagt Rehn. Die Verhandlungen seien fortgeschritten und könnten noch 2009 abgeschlossen werden. Rehns Bedingung: Justiz und Verwaltung brauchen weitere Reformen, und die Korruption muss besser bekämpft werden. Auch ein jahrelanger Konflikt Kroatiens mit dem EU-Mitglied Slowenien ist ein Problem: Seit 1991 streiten sie sich um die gemeinsame Seegrenze und den Zugang zu internationalen Gewässern. Weil Slowenien im Dezember ein Veto gegen weitere Beitrittsverhandlungen eingelegt hat, setzt Rehn auf die Vermittlung des Friedensnobelpreisträgers Martti Ahtisaari: "Ich sehe keinen anderen gangbaren Weg mehr." Doch selbst wenn Kroatien und die EU letztlich einen Beitrittsvertrag aushandelten, müssten alle 27 derzeitigen Mitglieder ihm noch zustimmen - und es ist momentan fraglich, ob sie das täten. Denn die EU hat im Zusammenhang mit jeder möglichen Erweiterung derzeit ein Problem: ihre eigene Aufnahmefähigkeit. "Der Vertrag von Nizza sieht 27 Mitglieder vor und da sind wir jetzt", sagt der EU-Parlamentarier Alexander Graf Lambsdorff (FDP). "Kroatien aufzunehmen, würde vielleicht gerade noch gehen. Aber darüber hinaus nichts mehr." Sein Kollege Elmar Brok (CDU) sieht das ähnlich: "Eigentlich ist die EU schon heute mit 27 Staaten überfordert." Selbst ein Beitritt Kroatiens, betont Brok, sei nur mit "zusammengebissenen Zähnen" möglich.
Lösen sollte das Problem der mangelnden Aufnahmefähigkeit eigentlich der Vertrag von Lissabon. "Er würde die EU handlungsfähiger machen", sagt Piotr Kaczynski, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Brüsseler Forschungsinstitut "Centre for European Policy Studies" (CEPS). Doch die Ratifizierung des Vertrags stockt. Kaczynski ist überzeugt: "Wenn es bei der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages Probleme gibt, könnte das bedeuten, dass der gesamte Erweiterungsprozess gestoppt wird. Und ohne Lissabon wird es die Türkei in der EU ganz sicher nicht geben." Die Frage des kontrovers diskutierten Türkei-Beitritts wird aber ohnehin sicherlich nicht in naher Zukunft beantwortet. Denn in ihrem letzten Fortschrittsbericht hat die EU-Kommission sehr deutlich gemacht, dass Ankara die Anforderungen an neue Mitglieder längst noch nicht erfüllt. Im Moment verhandelt die EU mit der Türkei in lediglich zehn von 35 Bereichen darüber, wann und unter welchen Bedingungen das Land die EU-Vorschriften übernehmen und durchsetzen könnte - darunter Unternehmenspolitik, Finanzkontrolle und Verbraucherschutz. Die übrigen Verhandlungskapitel wurden bislang nicht einmal eröffnet.
Auch bei der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, dem dritten offiziellen Kandidaten, stellt sich die Beitrittsfrage im Augenblick noch nicht konkret. Zwar hat die EU dem Land bereits im Dezember 2005 den Kandidatenstatus zugesprochen, doch dabei spielten auch sicherheitspolitische Gründe eine Rolle: "Mazedonien hat den Status damals auch bekommen, um die demokratisch-stabilitätsorientierten Kräfte vor Ort zu stützen", erläutert Mathias Jopp, Direktor des Instituts für Europäische Politik (IEP) in Berlin. Mittlerweile hat Mazedonien zahlreiche Reformen verwirklicht und eine Beitrittspartnerschaft mit der EU abgeschlossen. Beitrittsverhandlungen wurden bislang aber nicht aufgenommen. Weil der Urnengang im vergangenen Jahr nach Ansicht einer OSZE-Beobachtermission internationale Standards nicht erfüllte, gilt die Präsidentschaftswahl Ende März nun als großer Prüfstein für den kleinen Balkanstaat auf dem Weg zu einer weiteren Annäherung an die EU.
Ohnehin warnen viele davor, den Erweiterungsprozess nach dem Beitritt der zehn osteuropäischen Staaten im Jahr 2004 und der Aufnahme Rumäniens und Bulgariens im Jahr 2007 zu überstürzen. "Es ist sinnvoll, die Erweiterungsagenda erst einmal auf die drei Kandidatenländer Kroatien, Türkei und Mazedonien zu beschränken. Die EU sollte jetzt keinem weiteren Staat Versprechungen machen, vielmehr sollten sobald wie möglich die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien abgeschlossen werden", sagt IEP-Direktor Jopp. "Wir brauchen jetzt ganz eindeutig erstmal eine Phase der Konsolidierung. Die politischen und ökonomischen Abläufe im Europa der 27 Staaten müssen sich weiter einspielen und festigen, bevor über eine neue größere Erweiterung nachgedacht werden kann." Das sei auch die Ansicht der breiten Öffentlichkeit, zumindest in den 15 alten EU-Staaten, so Jopp. "Bei den Bürgern hier gibt es eine große Erweiterungsmüdigkeit, das sieht man regelmäßig in Umfragen."
Dennoch wird die Erweiterung auch in der kommenden Legislaturperiode immer wieder Diskussionsthema sein, meint Piotr Kaczynski. "Die Stimme des EU-Parlaments wird diese Debatte lebendig halten." Der Europa-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff sieht das ähnlich: "Die Erweiterungsfrage wird auch in der nächsten Legislaturperiode sehr wichtig werden. Sie ist eines der bedeutendsten Themen schlechthin, denn an ihr entscheidet sich, welche Vision der EU man hat: die einer politischen Union oder die eines geopolitischen Stabilisierungsinstruments." Tatsächlich stehen mit Albanien, Montenegro, Bosnien und Herzegovina, Serbien und dem Kosovo bereits die nächsten Interessenten vor der Tür: Ihnen hat die EU eine Mitgliedschaft zwar in Aussicht gestellt, diese jedoch wie bei allen früheren Erweiterungen an die sogenannten Kopenhagen-Kriterien geknüpft. Dazu gehören institutionelle Stabilität, die Wahrung der Menschenrechte und eine funktionierende Marktwirtschaft.
Es wird jedoch viele Reformen brauchen und wohl noch Jahre dauern, bis die fünf Balkanstaaten den offiziellen Kandidatenstatus erhalten. So lange unterstützt die EU die Länder im sogenannten Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess bei ihren Demokratisierungsbestrebungen und fördert beispielsweise Projekte zur Reform von Polizei, Justiz und Verwaltung. Insgesamt rund 2,6 Milliarden Euro an EU-Hilfen werden zwischen 2008 bis 2012 fließen.
Der Sport begeisterte Erweiterungskommissar Rehn hält an der mittel- und langfristigen Idee fest, das Team Europa weiter zu vergrößern. "Fußball hat eine wichtige Rolle gespielt bei der europäischen Integration - als vereinender Faktor." Und zumindest bei der Euro 2008 waren Kroatien und die Türkei schon dabei.
Mirjam Stöckel ist freie Journalistin in Brüssel.