60 jahre nato
Die Ära »Bush jr.« hat das Bündnis gezeichnet - beim Jubiläumsgipfel geht es nun um eine neue Ausrichtung
Sechzig Jahre wird die Nato in diesem Jahr. Das ist für ein politisches Bündnis mit einem militärischen Kern eine noch längere Zeit, als für einen Menschen. Sie sind an der alten Dame Nato nicht spurlos vorübergegangen. Vor allem die letzten zehn Jahre haben tiefe Spuren an ihr hinterlassen. Fünf Jahrzehnte, ein halbes Jahrhundert war sie Dreh- und Angelpunkt westlicher Politik und Sicherheit. Ihre Armeen schützten die Bundesrepublik und erwiesen sich als Garanten des Friedens. 1990 hatte sie ihren Auftrag erfüllt und durfte sich sowohl als Sieger wie auch als Friedensfürst fühlen.
Aber auch der Erfolg schafft Probleme: Hatte sich die Nato bisher gegenüber der sowjetischen Militärmacht zu bewähren gehabt, so bereitete ihr die Sowjetunion 1991 ein ganz anderes Problem: Sie löste sich auf und stellte der Nato damit die heikle Frage nach ihrer weiteren Daseinsberechtigung. Die ersten, die ihr aus dieser Verlegenheit halfen, waren die Staaten, die bis 1991 Zwangsmitglieder des Warschauer Pakts oder gar Teilrepubliken der Sowjetunion gewesen waren und nun alles daran setzten, möglichst schnell selbst Nato-Mitglieder zu werden; als Absicherung vor künftigen Unwägbarkeiten.
Als der neu geschaffene Nato-Kooperationsrat am 20. Dezember 1991 in Brüssel zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkam, verlas der Moskauer Botschafter Afanassievsky eine Grußbotschaft, in der Präsident Boris Jelzin Russlands positive Haltung zur Nato hervorhob und versicherte: "Heute stellen wir die Frage der Nato-Mitgliedschaft Russlands, auch wenn wir sie als ein langfristiges Ziel betrachten."
Das Drängen der befreiten mittel- und osteuropäischen Staaten in die Nato war so groß, dass die Allianz schließlich ihr Zögern überwandt und sich den Bewerbern schrittweise öffnete. Nie war die Nato in Europa so attraktiv wie in jenen Tagen. Daneben sprach alsbald ein weiterer Grund für den Erhalt der Nato als Ordnungsinstrument in Europa: der Zerfallsprozess Jugoslawiens und die 1992 beginnenden Kämpfe zwischen Serben, Kroaten, Bosniern und Kosovo-Albanern. Es war die Nato, die 1999 mit ihrem Eingreifen im Kosovo Mord und Vertreibung unterband.
Insbesondere die Kämpfe im einstigen Jugoslawien und die Erfahrung, dass nur der massive Druck des Westens ihnen ein vorläufiges Ende setzen konnte, machten deutlich, dass sich die Nato ihre neue Aufgabe nicht suchen musste: Nur sie konnte auch außerhalb ihres Bündnisgebietes Kriege unterbinden und Stabilität schaffen. So wurde die Nato von einem Verteidigungsbündnis zu einer Garantiemacht des Friedens und des territorialen Status quo in Europa.
Diese veränderte Aufgabenstellung spiegelt sich in dem strategischen Konzept wider, das die Allianz im April 1999 in Washington verabschiedete, als sie ihren 50. Jahrestag beging. Es bestätigt zwar die Fortdauer der bisherigen Verpflichtung zur gemeinsamen Verteidigung, schiebt aber die neu gewählte Aufgabe der Kriegsverhütung außerhalb des eigenen Bündnisgebietes stark in den Vordergrund.
Seither sind zehn Jahre verstrichen. Sie waren die bislang schwierigste Dekade des Bündnisses. Mit dem 11. September 2001 betrat der internationale Terrorismus die Bühne der internationalen Politik. Die eurozentrische Aufgabenstellung und das dazu gehörende Selbstverständnis der Allianz waren damit überholt. Seit 2001 kämpft Amerika gegen Taliban und Al-Quaida; seit 2003 führt die Nato die ISAF-Operation, die der Befriedung und Stabilisierung Afghanistans dienen soll. Von einem Erfolg ist die Nato freilich weit entfernt und je länger der Krieg währt, um so höher werden die Verluste.
Der ausbleibende Erfolg in Afghanistan ist aber nicht das einzige Problem, das der Nato in den vergangenen zehn Jahren zu schaffen gemacht hat. Nicht weniger schwerwiegend war eine andere Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001: Das Verhalten Amerikas unter seinem damaligen Präsidenten Bush junior. Er ließ die Nato links liegen und handelte nach der Devise, der Starke ist allein am stärksten, was sich als Irrtum erwies. Bush beantragte zwar die Feststellung des Bündnisfalles nach Artikel 5 des Nato-Vertrags, aber nicht um die aktive Mitwirkung der Allianz zu erreichen, sondern nur um ihre Mitglieder zur Loyalität mit ihm zu verpflichten. Eine Beteiligung der Allianz an der Operation gegen Afghanistan hätte zunächst einmal Beratungen im Nato-Rat bedeutet. Dies hätte Amerika von der Zustimmung seiner Verbündeten abhängig gemacht. Bush aber wollte eine "coalition of the willing", Staaten, die bereit waren, Washington ohne Mitspracherecht zu unterstützen. So wurden aus Verbündeten Hilfswillige. Öffentlich Kritik unterblieb. Die Nato aber war auf das schwerste in ihrem Selbstverständnis getroffen.
Das war der Zustand, in dem sich die Nato bis zum Ende der Ära Bush befand. Worum es nun geht, ist der Versuch eines Neuanfangs. Die Hoffnung darauf ist seit Obamas Amtsantritt gewachsen. Vizepräsident Joe Biden stärkte sie im Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit dem Satz: " We need to press the reset-botton", frei übersetzt: Wir müssen neu beginnen.
Zur Generalprobe dieses Neubeginns versammeln sich die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten am 3. und 4. April in Baden-Baden und in Straßburg. Der Nato-Gipfel wird zwei überragende Themen haben: Ein neues Strategiekonzept für das Bündnis und die Lage in Afghanistan. Die Verbündeten warten auf das von Obama angekündigte neue Konzept, das die zivile Unterstützung neben dem militärischen Einsatz stärken soll. Während Amerika seine Truppen um 17.000 Mann verstärken wird, hat die Bundesregierung deutlich gemacht, dass es beim bisherigen Umfang von 4.200 deutschen Soldaten bleibt. Auch in Bezug auf einen deutschen Einsatz in den Kampfgebieten im Süden Afghanistan will Berlin nicht auf die Wünsche seiner Verbündeten eingehen. Die Bundeswehr bleibt im friedlicheren Norden. Neben Afghanistan dürfte die Erörterung der Frage, wie sich die Nato weiterentwickeln soll, das wichtigste Thema des Gipfeltreffens werden. Die Diskussion darüber ergibt sich aus der Absicht, ein neues Sicherheitskonzept für die Allianz in Auftrag zu geben und erste Weichenstellungen dafür vorzunehmen. So wird zu klären sein, wer das Konzept erarbeiten und damit Einfluss auf seinen Inhalt gewinnen soll.
Kenner der Verhältnisse bewerten den Zustand der Allianz als schwierig, weil sie an Homogenität verloren hat und auf nunmehr 28 Mitglieder angewachsen ist, die untereinander unterschiedliche Interessen haben. Dies gilt beispielsweise in Bezug auf die Haltung der Nato zu Russland, zur Aufnahme von Georgien, zur Veränderung des Nato-Zuständigkeitsbereichs hin zu einer globalen Rolle, aber auch in Bezug auf eine weiter gehende Verlagerung des Nato-Aufgabenbereichs zur Konfliktprävention und - als Folge - die Übertragung der dafür benötigten finanziellen, wirtschaftlichen und sonstigen Mittel in die Verfügungsgewalt der Nato. Letzteres würde die Nato stärken - und damit ihre Führungsmacht - während die Gestaltungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten eher geringer würde.
Mit der Zahl der Mitglieder ist die Interessenvielfalt gestiegen. Die Nato-Staaten, die sich bis 1991 Moskau unterordnen mussten, sind nach wie vor von Argwohn und Angst vor Russland beeinflusst. Das gilt verstärkt nach der russischen Intervention in Georgien im August 2008. Sie treten für eine klare Abgrenzung von Russland ein. Argwohn hat Moskau aber auch bei "alten" Nato-Mitgliedern wie Norwegen und Kanada geweckt. Sie schließen die Möglichkeit eines regionalen Konflikts mit Russland angesichts eines fordernden Auftretens Moskaus in den nördlichen Regionen nicht aus. Anlass dazu schafft der Klimawandel, der die Polarregion sowohl für die Schifffahrt als auch zum Abbau von Rohstoffen reizvoll machen dürfte. In Norwegen wie in Kanada verfolgt man diesbezügliche territoriale Ansprüche Russlands ebenso wie seine wieder aufgenommenen Patrouillenflüge zur Kontrolle des Luftraums argwöhnisch. Sie sind ebenso wie Polen, Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, Bulgarien und Rumänien daran interessiert, die Bedeutung des Artikels 5 des Washingtoner Vertrags, der die Beistandsverpflichtung enthält, im neuen Nato-Konzept hervorzuheben. Ihnen geht es darum, dass die Wiederherstellung der Fähigkeit der Allianz, jedes seiner Mitglieder zu schützen und notfalls zu verteidigen höhere Priorität erhält. Die Fähigkeit dazu wurde mit dem Ende des Kalten Krieges stark abgebaut.
Diesen Ländern steht in der Allianz eine Gruppe von vornehmlich westeuropäischen Mitgliedern gegenüber, die auf eine Politik dringen, die eine engere Kooperation der Nato mit Russland wollen. Zu ihnen zählen Deutschland, Frankreich und Italien. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) unterstrich dies in ihrer Regierungserklärung am 26. März im Bundestag mit den Sätzen: "Wir sind seit 20 Jahren keine Gegner mehr. Die Zeit des Kalten Krieges ist unwiderruflich vorbei." Washington hat unter Obama begonnen, sich auch in seiner Haltung zu Russland von der seines Vorgängers Bush abzusetzen und der Reaktivierung der Zusammenarbeit im Nato-Russland-Rat zugestimmt. Von Obama erwarten die Partner nun eine Haltung, die Amerikas angeschlagener Führungsrolle im Bündnis aufhilft. Dazu dürfte er darauf zielen, Einvernehmen in Grundfragen herzustellen. Das gilt für die Gewährleistung der Bündnisverteidigung ebenso wie für die Befähigung der Nato zu Stabilitätstransfer und Krisenbewältigung. Ob ihm dies gelingt, wird auf die Stabilität Europas und auf die Stärke Amerikas gleichermaßen zurückwirken.