Grundgesetz
Gehört eine Schuldenbremse in die Verfassung? Experten streiten über zusätzliche Paragrafen und die Kompetenzen von Bund und Ländern
So langsam erreichen die Feierlichkeiten zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes am 23. Mai ihren Höhenpunkt. Am Donnerstag dieser Woche würdigt der Bundestag in einer dreistündigen Debatte das Ereignis, bevor der Geburtstag selbst dann mit einem großen Bürgerfest rund um das Brandenburger Tor in Berlin gefeiert wird. Da scheint es in die Zeit zu passen, dass gerade im Umfeld dieses Jubiläums eine Diskussion über den Charakter des Grundgesetzes entbrannt ist, an der sich in den vergangenen Wochen zahlreiche Politiker, Verfassungsrechtler und Politologen beteiligt haben. Der Grund ist die von der Großen Koalition geplante Grundgesetzänderung, die es den Bundesländern von 2020 an unmöglich machen soll, neue Schulden aufzunehmen. Von einer Bedrohung des Föderalismus ist in diesem Zusammenhang gar die Rede. Und Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) erklärte in einem Schreiben an den Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Andreas Schmidt (CDU), der Gesetzentwurf der Koalition habe ihn "in seinem Ehrgeiz und seinen Dimensionen erschreckt". Das Volumen der vorgeschlagenen Verfassungsergänzungen erscheine ihm "unmaßstäblich". SPD-Fraktionschef Peter Struck, einer der Vorsitzenden der Föderalismuskommission II, hatte bereits während der ersten Lesung des Gesetzentwurfes im März eingeräumt, dass es nicht dem Normalfall entspreche, in eine Verfassung sogar Eurobeträge hineinzuschreiben.
Am 4. Mai nun hörten der Rechtsausschuss des Bundestages und der Finanzausschuss der Länderkammer in einer gemeinsamen Anhörung mehr als zwei Dutzend Sachverständige zur geplanten Grundgesetzänderung. Auch diese Befragung offenbarte, dass die großkoalitionäre Einigung über die Föderalismusreform den Streit keinesfalls beendet hat: Reicht die Kreditbegrenzung für einen Stopp der massiven Verschuldung der öffentlichen Hand aus oder gefährden die Restriktionen eine konjunktursteuernde Politik des Staats? Bürdet das geplante Null-Schulden-Regime strukturschwachen Ländern unlösbare Finanzierungs- probleme auf?
Überwiegend stieß das Projekt jedoch auf Zustimmung, einige Sachverständige bekundeten gar Begeisterung. Allen voran Clemens Fuest: Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Finanzministerium wertete die Grundgesetzänderungen als "beeindruckenden Schritt" wie aus dem "wissenschaftlichen Lehrbuch". Der Heidelberger Ökonom Lars Feld sah die Finanzpolitik auf dem Weg hin zu mehr Nachhaltigkeit. Mit eher politischen Erwägungen begründete der Magdeburger Politologe Wolfgang Renzsch seinen Optimismus: Die durch die Tilgungspflichten erzeugte Transparenz und der damit einhergehende "Rechtfertigungszwang" würden eine "schuldendämpfende Wirkung" entfalten.
Der Speyerer Verwaltungsrechtler Joachim Wieland, der viel Distanz zu dem Reformvorhaben erkennen ließ, äußerte ohnehin Zweifel an der Wirkung von Paragraphen: Verschuldung sei eine Sache "politischer Entscheidungen, nicht des Verfassungsrechts". Aus Sicht von Thomas Lenk greift das Kreditlimit zu kurz. Der Leipziger Finanzwissenschaftler zeigte sich enttäuscht, weil von den neuen Grundgesetzartikeln im Vergleich zur heutigen Lage "keine stärker disziplinierende Wirkung" ausgehen werde. Die Inanspruchnahme der Ausnahmeregelungen werde der "Normalfall" sein. Hans Meyer von der Berliner Humboldt-Universität forderte, Tilgungsauflagen strikter zu formulieren, dem Bund blieben noch zu viele Möglichkeiten bei der Verschuldung. Mehreren Experten missfiel, "dass der Stabilitätsrat zu wenig Zähne hat", wie der Münchner Verwaltungsrechtler Peter Huber formulierte.
Kritik aus einer ganz anderen Richtung äußerte eine Minderheit der Sachverständigen. Gustav Horn fürchtete, dass das neue Regelwerk bei einem Konjunkturabschwung die staatlichen Spielräume für ein Gegensteuern zu sehr verengt. Der Düsseldorfer Ökonom will die ausufernde Staatsverschuldung durchaus begrenzen. In der Kreditbremse sah er jedoch einen untauglichen "mechanischen Versuch": Hätte man diese Politik schon 2001 bis 2004 praktiziert, dann wären damals bei einem um 2,5 Prozent niedrigeren Wachstum rund 500.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Horn plädierte dafür, in Zeiten eines Konjunkturaufschwungs Staatsausgaben stärker einzuschränken. Der Münchner Verwaltungsrechtler Stefan Korioth warnte, dass wegen der Kreditbremse eine in bestimmten Situationen sinnvolle Schuldenaufnahme möglicherweise verhindert werde.
Nun werden finanzpolitische Konflikte letztlich vom Bundestag mit Mehrheit entschieden. Doch der schleswig-holsteinische Landtag hat eine Verfassungsklage beschlossen: Mit einem via Grundgesetz auferlegten Schuldenverbot greife der Bund auf unzulässige Weise in das Budgetrecht der Landesparlamente ein.
Mehrere Experten wie etwa Huber oder der Verwaltungsrechtler Ulrich Häde (Frankfurt/Oder) widersprachen den Kieler Rebellen: Durch die Kreditrestriktionen werde die Eigenstaatlichkeit der Länder nicht berührt. Diese werde "zumindest gefährdet", meinte hingegen der Verwaltungsrechtler Wieland. Korioth konstatierte eine "gewaltige Gewichtsverschiebung" hin zum Bund.
Einigkeit herrschte indes über die Folgen der Verfassungsänderung: Vor allem finanzschwache Länder geraten noch stärker unter Druck, wenn eine Schuldenaufnahme untersagt wird. Einen Ausweg sahen einige Wissenschaftler wie etwa Feld oder Renzsch in der Möglichkeit, Ländern eine begrenzte Steuerautonomie zuzugestehen - was aber in der Föderalismuskommission verworfen wurde. Die Alternative formulierte Wieland: Ärmere Länder werden wohl noch mehr als bisher schon auf Zuschüsse aus Berlin angewiesen sein - wobei der Bund dann aber stärker in deren Etatpolitik hineinregieren dürfte.
Die Koalition hat unterdessen ihr Anliegen bekräftigt, die Grundgesetzänderung wie geplant umzusetzen. Den Gesetzentwurf zu entschlacken, lehnten beide Fraktionen ab.