Doris Schmied
Der ländliche Raum darf nicht länger nur als Anhängsel einer Stadt betrachtet werden, sagt die Professorin
Frau Schmied, der ländliche Raum gilt als Problemzone. Höfesterben und Abwanderung, Überalterung und Verarmung sind die Schlagwörter. Wie schlecht steht es um unsere Dörfer?
Es ist schwer, eine allgemeine Aussage zu machen. Da gibt es Gemeinden, die sehr aktiv sind und Unglaubliches zustande bringen, und Dörfer gleich nebenan, die wie gelähmt wirken. Wie es den Dörfern geht, hängt nicht nur von der Wirtschaftskraft einer Region ab. Ganz wichtig sind engagierte Einwohner, die das Dorfleben mitgestalten, und ein Bürgermeister, der Ideen hat und etwas auf die Beine stellt.
Aber ist der Trend weg vom Land nicht unaufhaltsam? Gibt es nicht immer mehr Dörfer, in denen das letzte Gasthaus geschlossen ist und der Bus nicht mehr vorbeikommt?
Dass es leerer wird auf dem Land ist unübersehbar. Geburtenrückgang, Überalterung und Abwanderung werden in einigen Gebieten schmerzhafte Veränderungen auslösen. Aber es gibt auch das wachsende Bedürfnis der Städter nach mehr Lebensqualität, nach mehr sozialer Gemeinschaft und nach Erholung in einer intakten Umwelt. Urlaub im eigenen Land liegt im Trend.
So richtig spürbar ist der Aufbruch in eine bessere Zukunft aber noch nicht.
Ein großes Problem ist das schlechte Image, das der ländliche Raum bei uns hat. Er wird oft nur als Anhängsel zur Stadt gesehen, die Politik fördert vor allem bevölkerungsstarke Gebiete, das zeigt sich auch bei den gerade neu geschaffenen Metropolregionen. Dadurch wächst die Gefahr, dass dünn besiedelte ländliche Räume noch weiter abgehängt werden.
Ist das nicht eine zwangsläufige Entwicklung, die mit dem Rückgang der Landwirtschaft einhergeht?
Nicht unbedingt. In Großbritannien etwa hat der ländliche Raum eine starke Lobby und erfährt eine hohe Wertschätzung. Die britische Mittelklasse findet es schick, auf dem Dorf zu leben. Das Häuschen auf dem Land gilt als Zeichen für Aufstieg. Anders als in Deutschland werden dort die Belange des ländlichen Raums auch nicht primär von der Agrarwirtschaft vertreten.
Sondern?
Bei allen politischen Initiativen müssen die Auswirkungen auf die ländlichen Räume bedacht werden. Dieses "rural proofing" gibt es seit fast zehn Jahren. Es funktioniert ähnlich wie das "gender mainstreaming", das in der Europäischen Union die Gleichstellung der Geschlechter auf allen gesellschaftlichen Ebenen durchsetzen soll.
Und was wurde ganz konkret getan?
Viel früher als bei uns wurden die Dörfer ans schnelle Internet angeschlossen. Zum Beispiel sitzen da Leute auf einer schottischen Insel und organisieren von dort aus weltweit Ausstellungen. Es gab in den 1980er Jahren eine richtige Welle, in der sich viele Leute selbstständig machten und Betriebe auf dem Land gründeten. Außerdem ziehen viele Briten im Alter aufs Land.
Gibt es auch bei uns Ansätze für eine Gegenbewegung von der Stadt aufs Land?
Die Hoffnung, dass Wissensarbeiter und die neuen Berufe in Scharen aufs Land ziehen, hat sich nicht erfüllt, weil Deutschland bei der Breitbanderschließung viel zu spät gestartet ist. Aber einige Hidden Champions, also relativ unbekannte Firmen, die auf ihrem Gebiet Marktführer sind, haben sich ganz bewusst auf dem Land angesiedelt. Auch ältere Menschen entdecken zunehmend die Dörfer. Das Angebot an betreuten Wohnanlagen wächst, auch werden leerstehende Höfe saniert und für Senioren-WGs genutzt.
Ist das denn die Lösung, der ländliche Raum als großes Altersheim?
Rentnersiedlungen wie in den USA oder auf Mallorca halte ich nicht für erstrebenswert. Aber der ländliche Raum kann davon profitieren, wenn er sich mehr auf ältere Menschen einstellt. Wenn zum Beispiel die ärztliche Versorgung besser wird, profitieren ja alle davon, die auf dem Land leben. Es ist aber wichtig, dass Dörfer generationsübergreifend sind.
Und wie können die jungen Leute in den Dörfern gehalten werden?
Wenn Gemeinden es schaffen, Kinder und Jugendliche früh im Dorfleben zu verankern, kommen sie als Erwachsene eher wieder zurück. Ein gutes Beispiel ist die Gemeinde Ummendorf in Sachsen-Anhalt. Dort gibt es mehr als 20 Vereine, jeder der 1.000 Einwohner wirkt irgendwo mit. Der Kontakt reißt auch nicht ab, wenn die jungen Leute für die Ausbildung weggehen.
Viele Menschen haben ja genug damit zu tun, den eigenen Alltag zu bewältigen. Wie können sie zur aktiven Mitarbeit im Dorf bewegt werden?
In den Schulen für Dorf- und Landentwicklung in Bayern etwa überlegen die Bürger gemeinsam: Wohin wollen wir mit unserem Dorf? Die Gemeinde Weyarn hat kürzlich eine "Mitmach-Satzung" beschlossen und so die Beteiligung der Bürger auf lange Zeit festgeschrieben. Allerdings ist es auch so, dass gerade in Problemregionen, etwa in Gegenden mit starkem Bevölkerungsrückgang in Ostdeutschland, aktive Bürgerbeteiligung sehr schwer umzusetzen ist.
Und wie sieht die Zukunft der Landwirtschaft aus?
Nach einer Zeit des kontinuierlichen Rückgangs gibt es jetzt einen leichten Aufwärtstrend, manche sprechen sogar von einer Wiederentdeckung der Landwirtschaft. Auf stillgelegten Flächen wird wieder produziert, es gab neue Anreize durch die Bioenergie und es gibt ein neues Bewusstsein, regionale Produkte zu kaufen. Die Agrarproduktion wird weiter ein wichtiges Thema bleiben, aber die Lebenssituation gerade kleinerer Bauern ist wegen der niedrigen Preise sehr, sehr schwierig.
Davon zeugen ja auch die vielen aufgegebenen kleinen Höfe in den Dörfern.
Ja, der Leerstand im ländlichen Raum ist ein großes Problem. Sein genaues Ausmaß ist nicht bekannt, die Datenlage dazu ist sehr dürftig. Den Leerstand mitverursacht hat die Bautätigkeit der vergangenen Jahrzehnte. Um Bürger anzulocken, haben Gemeinden neues Bauland am Ortsrand ausgewiesen. Im Dorfkern wurde es immer leerer. Erst sehr spät reifte die Erkenntnis, dass es sinnvoller ist, die gewachsene Struktur zu erhalten.
Wird das Problem der "leeren Mitte" jetzt konsequent angegangen?
In Baden-Württemberg beteiligten sich 13 Gemeinden an einem Modellprojekt mit dem Ziel, den Flächenverbrauch einzudämmen und innerörtliche Potenziale zu nutzen. Gemeinsam mit den Bürger entstanden Konzepte für leerstehende Gebäude und Baulücken. In der Gemeinde Schefflenz etwa wurden alte Scheunen in attraktive Wohnhäuser verwandelt. Im Saarland gibt es ähnliche Ansätze.
Ist es aber nicht unumgänglich, einige Dörfer ganz aufzugeben?
Das ist eine provokante Frage, ob wir alle Dörfer brauchen. Die demografischen Zahlen sprechen dafür, dass es zu einem Rückbau kommen wird. Dieser muss aber behutsam sein. Wenn Dörfer sterben und die Landschaft drumherum verkommt, fährt auch niemand mehr zur Erholung dahin. Dörfer sind auch für den Erhalt der Landschaft wichtig. Unsere Bauern sind nicht nur Nahrungsmittelproduzenten, sondern zugleich Landschaftsschützer und -pfleger. Wenn das wegfallen würde, bekämen wir große Probleme. Die Diskussion, ob die Wölfe dann bis zur Stadtgrenze Berlins kämen, wäre nur ein Aspekt davon.
Wie kann sich die Politik mehr für die Zukunft der Dörfer engagieren?
Ich würde mir ein "rural proofing" auch für Deutschland wünschen. Und mehr Kontakt zwischen Bürgern und Politikern auf kommunaler Ebene. Wo die Menschen mitbestimmen können, bringen sie sich auch ein und bleiben eher dort.
Das Interview führte Claudia Haas. Sie ist Redakteurin der Nachrichtenagentur AFP.
Doris Schmied erforscht an der Universität Bayreuth Entwicklungsprozesse im ländlichen Raum. Im Herbst erscheint ihr Buch "Was Dörfer stark und lebendig macht".