Kultur
Zollbrücke im Oderbruch hat nur 19 Einwohner - und das »Theater am Rand« für 400 Besucher
Das kleine Dorf heißt Zollbrücke: 18 Häuser an der Oder, keine Brücke, kein Zoll. Es gehört zur Ortschaft Zäckericker Loose, benannt nach den verstreut in den Feldern liegenden Gehöften des Ortes Zäckerick, der wiederum jenseits der Oder liegt und heute polnisch Siekierki heißt. Wer das Oderbruch verstehen will, muss auf die Ortsnamen hören. Sie erzählen von Kolonisation und Vertreibung, von Neubeginn und Verfall, von Kommen und Gehen.
Tobias Morgenstern, Musiker und Komponist, kam 1986 nach Zollbrücke. Auf der Suche nach einem stillen Ort zum Arbeiten verschlug es ihn hierher ans östliche Ende der damaligen DDR. Einem vielbeschäftigten Arztehepaar kaufte er ein 100 Jahre altes Fachwerkhaus ab, in dem es weder Strom noch fließend Wasser gab. "Zollbrücke war damals ein Ort wie zur Kaiserzeit. Es gab Reitwege statt befestigter Straßen", erzählt Tobias Morgenstern, dessen Haus wenige Meter hinter dem Oderdeich an der Hauptstraße liegt. Jene Straße, die einst eine wichtige Verbindungsstrecke war und die heute als Sackgasse am Deich endet. Dahinter liegt die Oder als eine natürliche Barriere. Hier steht man mitten in Europa und ist doch am Rand der Welt.
An einem der Deichhäuser hängt ein ausgeblichenes Blatt Papier, auf das ein Melancholiker mit Sinn für Symbolik ein Montaigne-Zitat geschrieben hat: "Beim Abschied wird die Zuneigung zu den Sachen, die uns lieb sind, immer ein wenig wärmer." Ein beredter Spruch für diese Landschaft der wechselvollen Geschichte. Die große Oderflut liegt zwölf Jahre zurück. Hier hielten die Deiche. Doch gab es Stimmen, die sagten, man solle die Gegend nicht weiter besiedeln. Morgenstern hat trotzdem hier gebaut. Zusammen mit dem Schauspieler Thomas Rühmann errichtete er auf unsicherem Terrain ein unsicheres Unternehmen: ein Theater, dem sie den einzig passenden Namen gaben: "Theater am Rand". Das Signet ihrer Spielstätte ist ein wegrutschender Schriftzug. So als könne alles wieder im sumpfigen Boden oder im Flusswasser verschwinden. Geschäftstüchtige Theatermanager hätten wohl zu einem grundfesteren Logo geraten, aber hier am Rand der Bühnenlandschaft spielen weder Geschäfte noch Manager eine Rolle.
Hier kann ein Künstler wie Morgenstern sein - wie er es ausdrückt - "Lasso in die Fantasie" werfen und schauen, was er mit seinem Wurf an Land zieht. So wie an einem Wintertag vor sieben Jahren, als Morgenstern in feuchter Oderbruchkälte neben seinem Haus auf der Wiese stand und davon träumte, an dieser Stelle einen Bühnenraum zu errichten, der die Zuschauer zwar schützend umfangen, sie aber dennoch die Jahreszeiten und die Natur spüren lassen sollte. Aus dem Traum ist Wirklichkeit geworden. Eine "Wunderbarkeit", sagt Morgenstern. "Ein Glücksfall", nennt es Rühmann.
An manchen Wochenenden kommen heute bis zu 400 Menschen in den 19-Seelen-Ort Zollbrücke. Auf dem Parkplatz erzählen die Nummernschilder vom Reiseweg der Gäste: viele Berliner, viele Uckermärker, viele Märkisch-Oderländer, Barnimer und einige Exoten. Aus Belgien kommt regelmäßig ein Ehepaar zu Besuch. Häufig stehen auch Reisebusse vor dem Theater. Thomas Rühmanns Rolle als Chefarzt Dr. Roland Heilmann in der MDR-Serie "In aller Freundschaft" zieht die Fernsehgucker an. Staunend stehen sie dann vor dem hölzernen Theaterrund: Was, so etwas hier? Hätten wir nicht gedacht!
Am wenigsten hätten es Morgenstern und Rühmann selbst gedacht, als sie sich Anfang der 1990er Jahre in der Kantine des Berliner Maxim-Gorki-Theaters kennenlernten. Thomas Rühmann spielte damals im Ensemble, Tobias Morgenstern war als Akkordeon-Virtuose zeitweise engagiert. Der Schauspieler sprach den Musiker an, ob er Lust hätte, Sten Nadolnys Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" für die Bühne zu adaptieren. Morgensterns Akkordeon sollte als dramaturgisches Element das gesprochene Wort ergänzen. Umgekehrt empfand Morgenstern später Rühmanns Texte als Ergänzung zu seinem Spiel.
Zusammen sind sie "ein Ganzes", in dem jeder seinen Platz wahren kann. Rühmann spricht, singt, spielt Gitarre. Musikalität und Rhythmus kommen von Morgenstern, der den Kollegen auf dem Akkordeon, dem Klavier oder mit einem Sampler begleitet. Gemeinsam haben sie nicht nur "Die Entdeckung der Langsamkeit" auf die Bühne gebracht, sondern auch "Das grüne Akkordeon" von E. Annie Proulx oder "Im Spinnhaus" von Kerstin Hensel. Doch welche Bühne eigentlich?
Gelesen, geschrieben und geprobt wurde anfangs in Morgensterns guter Stube im Zollbrücker Fachwerkhaus. Dort bauten die beiden vor elf Jahren die ersten Theaterbänke auf. 32 Plätze in einem Wohnzimmer, mehr brauchte es für die Geburt des "Theaters am Rand" nicht. Schwarze Zahlen musste die Stube nicht schreiben, denn Morgenstern lebt von seiner Arbeit als Musiker und Produzent. Das Theater finanziert sich selbst. Rühmann arbeitet in der Leipziger Serienwelt. Fragt man die beiden, ob das nicht ein Luxus sei, ein Bühne in absoluter Freiheit zu betreiben, werden sie sehr bestimmt: "Luxus?", fragt Tobias Morgenstern fast ungläubig. "Ich verstehe nicht, was daran Luxus sein soll, wenn man einem tiefen, inneren Bedürfnis folgt", sagt er in seinem leisen, bedächtigen Dresdner Singsang. Ein ruhiger Mensch, denkt, wer ihn noch nicht auf der Bühne als leidenschaftlichen Musiker gesehen und erlebt hat, wie er zarte Melodie-Rinnsale zu mächtigen Akkordströmen anschwellen lässt.
Ob man mit dem 49-jährigen Musiker über bauliche Erweiterungen am Theater, die Zukunft des Oderbruchs oder ein neues Stück spricht, die Gedankenkreise enden dort, wo Morgensterns Talent beginnt: bei der künstlerischen Eingebung. "Ich genieße es, mein Instrument zu nehmen, auf die Bühne zu gehen und dort vor dem Publikum genau so zu spielen, wie ich es will. Genauso ist es in anderen Bereichen: Ich sehe die Apfelbäume in meinem Garten und denke, hier wäre ein gute Platz für eine Windmühle. Wäre es nicht wunderbar, mit deren Windenergie das Theater zu betreiben", träumt er.
Das Zauberwort heißt Freiheit. Grenzen setzt ihm hier, in dieser geraden, von Menschenhand geschaffenen und dennoch geheimnisvollen Landschaft, eigentlich nur die Natur. Doch was, wenn der Fluss eines Tages wieder über den Rand tritt? "Dann ist das so gewollt", sagt Morgenstern. Seiner Natur entgeht man nicht.
Als trockengelegter Flusspolder verdankt das Oderbruch seine Existenz dem preußischen Willen, aus sumpfigem Boden urbares Land zu gewinnen. Aber was geschieht mit einer Landschaft, die ihren volkswirtschaftlichen Nutzen einbüßt? Landflucht ist auch in dieser Region eines der größten Probleme. Mit den Menschen geht dieser Landschaft ihr Zweck verloren. Wozu sollen 20 Pumpstationen den Grundwasserspiegel niedrig halten, wenn nur noch wenige Felder bestellt werden? Aber darf bei denen, die bleiben, deshalb der Keller vollaufen?
"Selber anpacken und nicht auf die Politik warten", antwortet Tobias Morgenstern. Improvisation heißt nicht, planlos zu träumen, sondern zu tun, was der Moment gebietet. Dazu gehören Mut und Selbstvertrauen. Noch heute, da sich auf Morgensterns Grundstück ein hölzernes Theaterrund mit 200 Plätzen und eine Freiluft-Tribüne für weitere 200 Zuschauer erheben, fragen Gäste staunend: Na, da hatten Sie bestimmt Probleme mit der Bauaufsicht? "Überhaupt nicht", gibt Morgenstern gern zurück. Hier am Rand der Bürokratie sind die Behörden auf seiner Seite.
"Wir machen einfach", sagt er mit seinem Dresdner Singsang, der eine gewisse Sturheit sanft ummantelt. Improvisieren heißt nicht, führerlos zu sein. Morgenstern gibt den Ton an. Auch auf der Baustelle. "Die Leute, die hier bauen, müssen ein Instrument spielen oder eine künstlerische Neigung haben, sonst begreifen sie mich nicht", sagt er. Seine Baumeister, Veit Templin aus Neulietzegöricke, ein vollbärtiger Kraftmensch, der die starken Eichengelenke im Theater errichten ließ und anschließend das Dach setzte, und Holger Rüdrich aus Wilhelmsaue, der ohne Zeichnung und ohne Fundament zu bauen vermag, nennt Morgenstern zwei "Schöpfer", die verstünden, dass ein Gebäude sich allmählich entwickle wie ein Kind und wie ein solches nie perfekt sein müsse. Schon gar nicht, wenn es sich um ein Naturkind wie das "Theater am Rand" handelt. Unter seinem Dach dürfen Schwalben nisten, die sommers über die Köpfe der Zuschauer hinwegsegeln. Seine Seitenwände kann es flugs hoch- oder runterklappen, je nach Witterung.
Eintritt gleich Austritt heißt es in diesem Theater. Jeder gibt, was ihm der Liederabend "Jazz Lyrik Prosa", ein Programm der skurrilen Winnie Böwe oder das Zweimann-Stück "Seide" mit Rühmann und Morgenstern am Ende wert war. Frei von finanziellem Druck, wie die beiden Theaterbetreiber betonen, können sie sich ein Eintrittsmodel leisten, das Arm und Reich auf einer Bank nebeneinander sitzen lässt. Deshalb kann dieses Theater mehr sein als eine Bühne. Es ist ein ökologisches und ein soziales Modell. Ein Feldversuch im besten Sinne, der erfolgreich viele Menschen in den kleinen Ort zieht und den Bewohnern eine andere, neue Perspektive gibt. Einst war Tobias Morgenstern auf der Suche nach Ruhe hierher gekommen. Richtig verlassen und still liegt Zollbrücke jetzt nur noch im Januar. Dann sind Theaterferien.
Die Autorin arbeitet als freie Kultur- journalistin in Berlin und Brandenburg.