Seniorendorf
In Meppen entsteht eine Siedlung nur für ältere Menschen
Kapahnkes sind die ersten. Zufrieden gießen sie in ihrem neu angelegten Garten die säuberlich aufgereihten Kakteen. "Wir wollen so selbstständig bleiben wie bisher auch", sagt Renate Kapahnke. Sie trägt eine rote Hose und goldene Ohrringe und wirkt wirklich nicht wie eine Dame, die sich Dinge aus der Hand nehmen lässt. Deswegen ist sie in diesem Frühjahr mit ihrem Mann Ernst nach Meppen ins Emsland gezogen, in das erste Seniorendorf Deutschlands. Dort, wo sich jetzt neben ihren Pflanzen noch Lehmboden und Bauschutt auftürmen, werden sich in den kommenden Monaten noch mehr Senioren in ebenerdigen Bungalowhäusern niederlassen.
Aus 60 Bungalows soll die Siedlung einmal bestehen, wenn sie komplett ist. Und nicht nur das: Alles, was sie brauchen, sollen die Kapahnkes und ihre künftigen Nachbarn hier finden können. Ein kleiner Supermarkt bietet dann die tägliche Zeitung, frische Brötchen und Klopapier. Der Mittagstisch soll mit Hausmannskost locken: Erbsensuppe und Steak, Kartoffelsalat und Bockwurst wird es geben. Und in der Mitte wohnt die "Kümmerin". Auf diese Idee ist Arndt Wulf besonders stolz. Er ist der Erfinder und Bauherr der Meppener Siedlung. "Die Kümmerin ist so etwas wie die gute Fee des Dorfes", sagt er in seinem münsterländischen Dialekt. Sie organisiert Pflegedienste und auch mal eine Geburtstagsfeier, sie bestellt auf Wunsch ein Taxi oder Handwerker. "Sie ist immer ansprechbar, wenn irgendwo der Schuh drückt", sagt Wulf.
Der rundliche 62-Jährige träumt schon seit Jahren von dieser Siedlung. Er hat sich amerikanische und australische Konzepte von Seniorendörfern angeguckt und jahrelang bei der Stadt um Grundstücke geworben, bis sie ihm das passende verkaufte. Es liegt einen Steinwurf von den Flüsschen Ems und Hase entfernt, Spazierwege ziehen sich durch das Gelände. Sie sind absolut flach und reichen bis in die etwa einen Kilometer entfernte Innenstadt. Hier geht es beschaulich zu. Die Bekleidungsläden gehören noch "Inge" oder "Barbara", im Frisörladen stehen rote Ledersessel aus den 1980ern. In den Cafés werden Torten und heiße Schokolade von Kellnerinnen mit Schürzen gebracht. Ein beschaulicher, wohlhabender Fleck.
Auch im Seniorendorf herrscht Ruhe. Viele Interessenten kommen aus Hamburg oder anderen Großstädten und wollen sich hier dem Garten und der Natur widmen. Das einzige direkt benachbarte Gebäude gehört einem Anglerverein. Im angrenzenden Wald will Wulf noch weitere Wege anlegen. Er ist einer von zwei großen Bauherren in dem Dorf nahe der niederländischen Grenze. Wenn er durch die Straßen mit den roten Backsteinhäusern und den sorgfältig gejäteten Gärten fährt, kann er zu jeder zweiten Immobilie eine Geschichte erzählen.
Die neuen Bungalows sind alle behindertengerecht und haben nur eine Etage, können also auch mit einem Rollstuhl oder einer Gehhilfe problemlos benutzt werden. "Das ist eine riesige Hilfe für mich", sagt Ernst Kapahnke. Er bewegt sich seit einigen Jahren nur noch mühsam fort, seine Pantoffeln heben sich bei jedem Schritt nur wenig vom Fußboden. "Ich bin froh, dass ich hier so rumschlurfen kann", sagt der pensionierte Ingenieur für Feinwerktechnik.
Früher hat das Ehepaar in einem Reihenhaus in Kiel gewohnt. "Aber immer die Treppen rauf und runter, das ist doch nichts mehr für uns", sagt Renate Kapahnke.
Nichts für die Kapahnkes und auch nichts für Millionen andere alte Menschen in Deutschland. Unabhängig von der absoluten Bevölkerungszahl wird sich das Verhältnis von jüngeren zu älteren Menschen stark verändern. Die Zahl der Personen im heute üblichen Erwerbsalter zwischen 20 und 60 Jahren wird bis 2050 um mehr als ein Fünftel abnehmen, die der unter 20-Jährigen sogar um 30 Prozent. Gleichzeitig steigt der Anteil der über 60-Jährigen an der Gesamtbevölkerung von heute 25 auf dann 37 Prozent, beschreibt eine Studie von Sozialwissenschaftlern der Technischen Universität Dresden das Szenario.
Bis jetzt sind die deutschen Städte kaum auf diese Veränderung vorbereitet. Strukturschwache Regionen wie beispielsweise der Osten Deutschlands schrumpfen allerdings schon seit Jahren. Und übrig bleiben dort ältere Menschen, die ganz andere Ansprüche an ihr Wohnviertel stellen als junge Familien. Umgekehrt hat gerade das Emsland und das westliche Niedersachsen um Vechta eine besonders junge Bevölkerung. "Den ländlichen Raum an sich gibt es nicht", sagt Horst Becker vom "Institut für ländliche Räume" an der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft in Braunschweig. Aber generell gelte: "Ältere Menschen bleiben am liebsten da wohnen, wo sie schon Zeit ihres Leben gewohnt haben." Becker äußert sich deshalb auch skeptisch über das Meppener Seniorendorf: "Das Leben unter Gleichen läuft dem Gedanken der Mehrgenerationen-Häuser zuwider." Ältere würden so in ihrem Sonderleben eingeschlossen. "Eine gemischte Bevölkerung ist aber durchaus wünschenswert. So kann Alten beim Einkaufen geholfen werden, die sozialen Kontakte bleiben bestehen", führt Becker aus. Und der größte Wunsch von vielen Senioren könne auf diese Weise erfüllt werden: "Die meisten sagen doch: ,Mich tragen sie hier raus'."
Wer es mag, könne sich natürlich ein Haus in einem Dorf wie in Meppen kaufen, sagt der Experte. "Aber das ist kein Konzept für die Mehrheit der Bevölkerung." Schließlich können es sich nur wenige Menschen leisten, mit ihrer Rente ein neues Haus zu finanzieren oder sie wagten es nicht, im höheren Alter noch einmal umzuziehen. "Für die große Mehrheit sind Konzepte vor Ort gefragt", lautet das Resümee Beckers.
Tatsächlich propagiert auch die Bundesregierung das Wohnen von Jungen und Alten unter einem Dach. Aber sowohl Bundespolitiker als auch die Bürgermeister vor Ort müssen dabei Neuland betreten. "Die bevorstehenden demografischen Veränderungen sind ohne historisches Beispiel", sagt Stefan Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Deshalb könnten die Politiker auch nicht aus einem Erfahrungspool schöpfen.
Immerhin gibt es inzwischen in jedem Bundesland Initiativen, auf die Wohnwünsche von alten Menschen auf dem Land einzugehen. Niedersachsen zum Beispiel will Gemeinden anspornen, sich stärker auf die Bedürfnisse älterer Menschen einzustellen. "Seniorenpolitik kann nicht bedeuten, Daseinsvorsorge in Form von Pflegeeinrichtungen und Krankenhausbetten zu schaffen", sagte die niedersächsische Sozialministerin Mechthild Ross-Luttmann (CDU) im Frühjahr. Ziel müsse es vielmehr sein, alte Menschen in die Gesellschaft einzubinden und ihre Selbstständigkeit zu fördern. Die Attraktivität von Kommunen werde künftig entscheidend davon abhängen, ob sie Senioren Lebensqualität bieten und deren Potenziale nutzen könnten.
Das haben die US-Amerikaner schon früh erkannt. Vor allem in den Südstaaten entstanden schon in den 1960er Jahren die berühmten "Sun Cities" für Senioren, die allerdings unvergleichlich größer und aufwändiger konzipiert wurden als das Meppener Pendant. Sun City in Arizona zum Beispiel war als erste Stadt ihrer Art unglaublich erfolgreich: Innerhalb weniger Tage waren die rund 1.300 Häuser verkauft. Theoretisch müssen die Bewohner ihr Areal nicht mehr verlassen: Dort gibt es Kirchen, Supermärkte, Pflegedienste, große Golfanlagen und Hotels. Heute wohnen dort noch 38.000 Menschen - einige tausend mehr, als Meppen Einwohnern hat. Inzwischen haben aber auch die Amerikaner Abstand genommen von den separierten Städten. Einige der später geplanten Siedlungen verkauften sich schlechter, so dass moderne Geister-Städte entstanden.
Der Meppener Bauherr Wulf ist jedoch zuversichtlich. "Im Moment läuft es wegen der Krise etwas schleppend an", sagt er. Trotzdem habe seine Idee eine große Zukunft: Am anderen Ende von Meppen entstünde ein ähnliches Projekt. "Wir werden bald überall kopiert", ist der Baulöwe überzeugt.
Nicht alle Bürger in Meppen waren über das neue Viertel der Alten erfreut. Altenheime und Pflegedienste waren offenbar um ihre Pfründe besorgt. "Ich habe auch ein paar ablehnende Worte gehört", erinnert sich Wulf. Die Stadt hingegen hat sich nach jahrelangen Planungen für das Projekt ausgesprochen. "Es ist ein neues Angebot", sagt Stadtrat Bernhard Ostermann. Bislang habe die Stadt nur seniorengerechte Wohnungen in Mehrfamilienhäusern anbieten können. Die Häuser seien eine attraktive Alternative. "Für Emsländer ist es wichtig, um ihr Haus herum gehen zu können", sagt er lachend. Das gefalle offenbar aber auch Bürgern aus anderen Landstrichen. "Die Siedlung hat Modellcharakter weit über die Region hinaus", sagt Ostermann. Tatsächlich sind inzwischen schon Bauherren und Interessierte aus ganz Deutschland zur Baustelle ins Emsland gereist.
Wenn in ein paar Monaten die nächsten Nachbarn kommen, sind Kapahnkes längst heimisch geworden. Dass sie erst vor wenigen Wochen umgezogen sind, ist ihrem Haus nicht mehr anzusehen. Sie haben wuchtige dunkle Schränke in ihr Wohnzimmer gestellt, auf dem samtgrünen Sofa döst ein Hund. Der Waschmaschinenraum ist ebenfalls ebenerdig und in der Dusche können sich beide auf einem Plastikstuhl ausruhen. "Es sind nur kleine Dinge, die hier anders sind", sagt die 70-Jährige, aber diese würden ihnen das Leben unheimlich erleichtern. "Hauptsache, wir werden nicht wie Babies behandelt", sagt sie und lacht.