Abwanderung
Zwergschulen und Bürgermeister als Babysitter - wie Kommunen sich neu (er-)finden
Spätestens um 20 vor sieben müssen Jannik und Lena an der Straße stehen. Der Bus bringt den 16-Jährigen quer über die Dörfer in die Gesamtschule, sie ist 13 Kilometer entfernt im nordbrandenburgischen Rheinsberg. Ein Gymnasium gibt es dort nicht mehr, deshalb reist seine 14-jährige Schwester allmorgendlich in die 30.000-Einwohnerstadt Neuruppin. Das sind auf kürzestem Weg 35 Kilometer, doch der Bus fährt kreuz und quer fast anderthalb Stunden über holprige Landstraßen durch lichte Kiefernwälder und vorbei an leuchtenden Seen. Er sammelt die Schüler ein, die in den schwindenden Orten der Ruppiner Heide noch warten.
Wo selbst der Bus nicht mehr lohnt, fährt auf dem Land im deutschen Nordosten schon mal das Taxi vor - finanziert von den Schulbehörden, um Schüler in die nächste Kreisstadt zu kutschieren. Gemeinden in der Eifel, in Oberfranken und anderen dünn besiedelten Landstrichen experimentieren mit Fahrgemeinschaften oder ehrenamtlichen Busfahrern.
Der Sog der Städte wirkt in Ostdeutschland seit 20 Jahren: Die 20- bis 30-Jährigen wandern in Scharen nach Hamburg, München oder wenigstens Berlin ab. Und wenn sie im Osten bleiben, zieht es sie auch dort in die Städte. Gerade die Berufswünsche junger, gut ausgebildeter Frauen lassen sich auf dem Land schwer verwirklichen. Dort ist ohnehin jeder Job rar. Und Geld lässt sich im reichen Süden der Republik mehr verdienen. In Orten entlang der polnischen Grenze zeigt sich das Phänomen doppelt: Es gibt mehr Alte als Junge und mehr Männer als Frauen. In einigen Regionen kommen auf 100 Männer nur noch 70 Frauen.
Weil die jungen Erwachsenen, die eine Familie gründen, nicht wiederkommen, werden Kinder mancherorts in Vorpommern oder der Niederlausitz inzwischen selten. Wo vor zehn Jahren noch Grundschüler in drei erste Klassen eingeschult wurden, reicht es nicht einmal mehr für eine Anfänger-Gruppe. In Sachsen-Anhalt schloss in den vergangenen 17 Jahren fast jede zweite Schule, besonders drastisch ist der Schwund auf dem Land. Doch auch Dörfer im Westen bleiben nicht verschont. Die Kultusminister rechnen damit, dass die Zahl der Schüler von heute 11,8 Millionen in zwölf Jahren auf noch 10,1 Millionen sinkt.
Ist erst einmal die Schule weg, fehlt für die Eingesessenen oft auch der Ort, wo Feste gefeiert werden oder wo Vereine sich treffen. Verschwinden die Schulbusse, ist oft auch die letzte Verbindung für jene gekappt, die kein Auto besitzen, aber zum Hausarzt oder zum Einkaufen müssen.
Die Bürgermeister und Dörfler reagieren. Die Zwergschule kommt mancherorts wieder, zum Beispiel die "Kleine Grundschule auf dem Lande" in Leopoldshagen, ganz im Nordosten Deutschlands. Seit einigen Jahren lernen die Kinder der ersten und zweiten sowie der dritten und vierten Klasse in Leopoldshagen gemeinsam. Auch anderswo, auf dem Land im Fränkischen oder im Saarland, fordern Eltern Verhältnisse wie in Bullerbü. Oft bringt die Mini-Schule sogar bessere Leistungen der Schüler, allerdings zu höheren Kosten.
Auch in Baden-Württemberg, dessen Bewohner im Schnitt deutlich jünger sind als jene im deutschen Osten, zeigt sich der Schwund im Hinterland. Bürgermeister und Rektor wollen die Hauptschule im hohenlohischen Dorf Mulfingen wegen Schülermangels privatisieren. Geld soll vom örtlichen Mittelständler und von der wohlhabenden Gemeinde kommen, der Schulbesuch soll kostenlos bleiben. Schon ging die Zahl der Anmeldungen aus dem Umkreis nach oben. Von der Landesregierung fühlen sich die Mulfinger nicht unterstützt. Aber Bürgermeister Robert Böhnel gibt sich unbeirrt: "Die Schule ist ein Standortfaktor."
Dort, wo der Wandel weniger dramatisch verläuft, setzen Dorfobere - trotz aller Prognosen - weiter auf Wachstum. So bietet der Kurort Bad Bellingen im Badischen eine Zuzugsprämie für junge Familien an. Dabei wird Bauwilligen, die sich im Neubaugebiet ansiedeln, 5.000 Euro fürs erste und 2.000 Euro für jedes weitere Kind auf den Grundstückspreis angerechnet. Andere Bürgermeister werben um junge Familien, indem sie sich selbst als Babysitter anbieten oder gar eine Babyprämie für jeden frisch geborenen Dörfler zahlen. Doch meist locken solche Aktionen nur die jungen Einwohner aus Nachbarorten weg.
Längst gibt es Werbeaktionen im großen Stil, um die verlorene Jugend zurückzulotsen. "Sehnsucht?" steht auf einer Werbe-Postkarte, darunter sind Strandkörbe am Ostseestrand zu sehen. Sehnsucht, so stellt es sich die Agentur "mv4you" vor, soll all jene aus Mecklenburg und Vorpommern befallen, die als Fachkräfte anderswo ihr Auskommen gefunden haben. Die Dresdner Regierung ruft "Sachse komm zurück". Die Magdeburger Regierung verschickte "Heimatschachteln": ein Satz Skatkarten, Knäckebrot mit Sesam und Trüffel-Pralinen aus Sachsen-Anhalt sollen Appetit auf die Heimat machen.
Die Bilanz der Aktionen beläuft sich auf mehrere 100 Rückkehrer. Immerhin. Aber umkehren lässt sich der Treck in die Großstädte und die wohlhabenden Regionen so kaum. Deshalb denken manche Bürgermeister gänzlich um. Sie setzen darauf, schrumpfende Dörfer lebenswert zu erhalten statt ungebrochen auf Zuwachs zu setzen. Statt weiter Neubaugebiete auszuweisen, während der Dorfkern verödet, ging etwa Eckelsheim in Rheinland-Pfalz einen anderen Weg: Die Einwohner putzten ihren Dorfkern neu heraus.
Zunächst erfanden sie das "SommerInn". Um Weinfreunde nach Eckelsheim zu locken, begannen die Winzerfamilien vor Jahren, am Wochenende reihum zu kochen und an Biertischen zu bewirten. Inzwischen gibt es sogar Feinschmecker-Gastronomie im Dorf, einige Frauen organisieren Kräuterwanderungen und die Ruine der Beller Kirche am Ortsrand ist Schauplatz für Konzerte und Theater. Die Jugendlichen organisieren Diskos und Osterfeuer. Auf einem neu hergerichteten Platz neben der Kirche wird nun Boule gespielt, die Bewohner bauten nach alter Tradition wieder einen Dorfbackofen. Eckelsheim gewann im Landeswettbewerb "Unser Dorf hat Zukunft" - und ist für Winzernachwuchs und andere "Dorfkinder" wieder attraktiv.
Schwieriger ist, so etwas im sich leerenden Nordosten Deutschlands zu erreichen. Erfolge gibt es aber. Balow in Südwest-Mecklenburg ragt heraus. Es bietet seinen Jugendlichen mehr als einen Treffpunkt an der nahe gelegenen Tankstelle. Ringsum ist strukturschwacher Raum, wie es amtsdeutsch heißt, auch mit Tourismus lässt sich hier kein Geld verdienen. Und doch scheint Balow demografisch gesehen eine gute Zukunft zu haben.
Die Zahl der Einwohner liegt bei etwa 350 recht konstant - trotz günstiger Fluchtwege wie der nahen Autobahn A 24. Mit rund 20 Prozent hat Balow einen Anteil an Kindern und Jugendlichen unter 20 Jahren, der über dem Schnitt in Mecklenburg-Vorpommern liegt. Die Arbeitslosenquote ist etwa halb so hoch wie im Landesmittel - obwohl es im Ort nicht umwerfend viele Arbeitsplätze gibt. Das Geheimnis von Balow ist das Engagement seiner Bürger. Mehr als 200 - fast zwei Drittel aller Einwohner - sind Mitglieder im örtlichen Sportverein Traktor Balow, andere sind beim Sozialverband "Volkssolidarität", etliche betätigen sich bei den "Plattsnackers", einer Laienspielschar, oder im Schützenverein.
Dorf-Forscherin und Soziologin Claudia Neu hat herausgefunden, dass in erfolgreichen Orten Sportvereine und Freiwillige Feuerwehren das Leben prägen. Neu weiß aber auch: "Es braucht dafür Zugpferde." Häufig sind das aktive Bürgermeister und andere Engagierte. Ohne eine solche "Kultur der Eigenverantwortung" gehe wenig in abgelegenen Gebieten. Das scheinen die Balower beherzigt zu haben: Laut Eigenwerbung ist ihr Ort ein "Dorf für Kinder". Davon zeugen neben den Vereinen mit zahlreichen Angeboten für den Nachwuchs fünf Spielplätze, zwei Sportanlagen, eine Kita - und eine Grundschule. All das scheint die Menschen an ihre Heimat zu binden. 90 Prozent der Erwerbstätigen pendeln zur Arbeit auswärts, bleiben aber im Dorf wohnen.
Die Autorin ist Korrespondentin des Magazins "Focus" in Berlin. In ihrem Buch "Das große Schrumpfen" beschreibt sie die Folgen des demografischen Wandels.