LISSABON-VERTRAG
Nach dem Ja der Iren steht noch nicht fest, wann der Reformvertrag in Kraft treten kann. Offen
bleiben viele drängende Fragen, wie sich die EU organisieren und wer sie führen soll
Sieger sehen anders aus. Zwar sind 67,1 Prozent Ja-Stimmen im irischen Lissabon-Referendum aus Brüsseler Sicht ein Traumergebnis. Sie machen, da sind sich die meisten Kommentatoren einig, die Schlappe vom vergangenen Juni 2008, als 53,4 Prozent der Wähler mit Nein stimmten, mehr als wett. Doch nach dem ersten Jubel macht sich Ernüchterung breit. Zum einen haftet dem Wiederaufguss der Abstimmung ein schaler Beigeschmack an. Zum anderen ist die unendliche Geschichte des Vertrags von Lissabon mit der Volksabstimmung vom 2. Oktober noch immer nicht zum Abschluss gekommen.
Mit einem knappen Kopfschütteln antwortete EU-Ratspräsident Fredrik Reinfeldt am 7. Oktober auf die Frage, ob es ihm inzwischen gelungen sei, den tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Klaus ans Telefon zu bekommen. Klaus zögert seine Unterschrift unter den von beiden tschechischen Parlamentskammern abgesegneten Vertrag seit Monaten unter allerlei Vorwänden hinaus. Nun ermöglicht ihm die Klage von 17 ihm nahestehenden Senatoren einen weiteren Aufschub auf unbestimmte Zeit.
In einer Videokonferenz mit dem tschechischen Premier Jan Fischer versicherten Reinfeldt und Kommissionspräsident José Manuel Barroso, sie wollten keinesfalls Druck ausüben. "Wir müssen die Verfahrensregeln in Tschechien respektieren", sagte der Schwede, der noch bis Ende des Jahres den Rat der Regierungen leitet. Er habe den außenpolitischen Vertreter des Rates, Javier Solana, zunächst gebeten, kommissarisch bis Ende Oktober im Amt zu bleiben. "Sobald die tschechische Situation klar ist, müssen wir vielleicht erneut mit ihm reden. Mein Ehrgeiz ist aber, dass der neue Vertrag mit dem Ende der schwedischen Präsidentschaft in Kraft tritt."
Reinfeldt setzt darauf, dass der tschechische Verfassungsgerichtshof die neue Klage abweist, da er bereits eine ähnlich formulierte Beschwerde abschlägig beschieden hatte. Sollte das innerhalb der nächsten zwei Wochen geschehen, will der schwedische Premier mit den Mitgliedstaaten über die neu zu besetzenden hochrangigen Posten des EU-Präsidenten und des europäischen Außenministers verhandeln. Auch die neue EU-Kommission soll dann zusammengestellt werden. Ende Oktober beim Gipfel in Brüssel soll das Personalpaket geschnürt sein.
Reinfeldt begibt sich damit juristisch auf äußerst schwieriges Terrain. Der tschechische Premier Jan Fischer glaubt zwar, dass das Verfassungsgericht die neuerliche Klage in einem beschleunigten Verfahren rasch über die Bühne bringen wird. Doch solange Klaus seine Unterschrift verweigert, gilt der Vertrag von Nizza. Klärt sich die Lage in Prag bis Ende Oktober nicht, ist die Frage müßig, ob die Sozialisten mit Tony Blair den Ratspräsidenten stellen oder doch auf den mächtigeren Posten eines EU- Außenministers spekulieren. Reinfeldts diplomatische Mühen, große und kleine Länder ausgewogen zu berücksichtigen und dabei auch die politischen Strömungen in der EU auszutarieren, wären umsonst.
Die ungeklärten Personalfragen ziehen viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und schwächen die EU in den anstehenden internationalen Finanz- und Klimaverhandlungen. Mindestens genauso problematisch ist aber, dass es neue Strukturen braucht, um den Lissabon-Vertrag mit Leben zu füllen.
So sollen die mächtigen Fachausschüsse aus nationalen Beamten, die viele wichtige Entscheidungen im kleinen Zirkel treffen reformiert werden. Ebenso müssen die Kanäle, in die nationale Parlamente ihre Anregungen und Kritik an die Kommission einspeisen können, neu geschaffen werden. Schließlich gibt es noch keine Gebrauchsanweisung für das neue Bürgerbegehren, das mit einer Million Unterschriften die Kommission zu einer Gesetzesinitiative auffordern kann.
Als das EU-Parlament am 7. Oktober in Brüssel die Ergebnisse des irischen Referendums bewertete, erinnerte Barroso die Abgeordneten an die Liste ungelöster Detailfragen, die der neue Vertrag aufwirft. Liberalenchef Guy Verhofstadt forderte den EU-Ratspräsidenten auf, sein Personalpaket ohne Rücksicht auf die Lage in Prag zu schnüren. "Niemand in der EU kann tolerieren, dass die Kommission provisorisch im Amt ist und eine lahme Ente wird. Wir haben keine Zeit zu verschwenden. Stellen Sie die Kommission so schnell wie möglich zusammen. Sobald der Vertrag in Kraft ist, segnen wir das formal ab!", sagte er.
Der Sprecher der Grünen, Daniel Cohn-Bendit, argumentierte ähnlich. Europa habe das Recht auf eine öffentliche Debatte über die Personalien, betonte er. "Es kann nicht sein, dass wir Tony Blair als Ratspräsidenten bekommen, weil Merkel und Sarkozy das untereinander ausgemacht haben. Auch die neuen Kommissare müssen sofort auf den Tisch. Wenn die Tschechen sich nicht entscheiden können, dann gehen sie eben leer aus!" Der grüne Abgeordnete prophezeite, dass die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags nicht das Ende des EU-Reformprozesses sei. "Europa liegt auf Wiedervorlage." Über weitere Reformen müssten Europas Bürger in einem EU-weiten Referendum mit qualifizierter Mehrheit entscheiden. Wenn diese Mehrheit in einem Land nicht erreicht werde, müsse das eben auch Konsequenzen haben. "Demokratie kann nicht unter ständiger Erpressung gedeihen. Wer Nein sagt, muss die Mehrheit respektieren oder die EU verlassen."