Chinas Gesellschaft
Liao Yiwu erzählt Lebensgeschichten der Außenseiter
Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu ist ein Sammler von Lebensgeschichten. Sie erzählen von Menschen, die es im offiziellen China eigentlich nicht geben sollte. Und deshalb darf sein eindrucksvolles Werk "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von Unten" in der Heimat nicht gelesen werden. Die chinesische Ausgabe wurde sofort nach Erscheinen verboten. In China gilt der Autor als "Persona non grata" und lebt selbst am Rande der Gesellschaft. Seit er 1989 das epische Gedicht "Massaker" publizierte, in dem er das Blutbad auf dem Platz des Himmlischen Friedens anprangerte, saß er vier Jahre in Haft und wurde schwer misshandelt. Seither wird er von den Behörden weiter drangsaliert, die Ausreise wurde ihm wiederholt verweigert. Auch zum Erscheinen der deutschen Ausgabe seines Buches will die Pekinger Führung Liao nicht zur Frankfurter Buchmesse fahren lassen und weckt damit umso größeres Interesse an dieser 600-seitigen Sammlung von Gesprächsprotokollen, denen offenbar solche politische Sprengkraft innewohnt.
Liao hat über viele Jahre entlegene Provinzen bereist, mit Obdachlosen, Prostituierten und Gefängnisinsassen gesprochen, so dass sein Buch dem deutscher Leser einen tiefen Einblick in die Lebenswirklichkeit Chinas eröffnet. Es ist auch ein Blick in die Abgründe einer Gesellschaft, deren rasanter Modernisierungswandel viele Menschen auf der Strecke bleiben lässt. Gleich am Anfang des Buches kommt der 70-jährige Trauermusiker Li Changgeng zu Wort, dessen Erzählung den Verlust von Tradition so schmerzlich spüren lässt. "Auch bei einer Leiche geht es hoch her, früher musste man noch einen Mönch hinzu bitten, der die Sutren las und die Riten vollzog, während die Musiker die Söhne oder den Sohn bei seiner Ehrbezeugung begleiteten. Heute veranstaltet man einen musikalischen Abend, da werden Lieder gegrölt, die gerade in Mode sind, und Verwandte und Freunde singen für den Verstorbenen um die Wette", erzählt der alte Mann und beeindruckt durch sein Beharren auf die alten Traditionen.
Es sind Gesprächsnotizen wie diese, die das Buch so lebendig und lesenswert machen. Da wird ein China sichtbar, dass kaum jemand kennt, vermutlich auch viele Bewohner des eigenen Landes nicht. Einige Passagen, wie die Erzählung eines abtrünnigen Funktionärs, sind sehr erschütternd, erinnern sie doch eindringlich an die verdrängten Schrecken der Vergangenheit. Der Mann vertraute Liao an, wie er während des Großen Hungers 1960 Menschen begegnete, die ihr eigenes Kind aßen, und erinnert sich selbst daran, dass seine Abscheu bei der Verhaftung damals eigentlich kaum geringer war als das eigene Hungergefühl. Auch das Gespräch mit dem Menschenhändler Qian Guibao in einem Untersuchungsgefängnis macht die Besonderheit dieser Interviews deutlich, die Liao meist aus dem Gedächtnis niederschrieb. Nie erhebt er sich über seine Gesprächspartner, sondern lässt ihnen Raum für ihre Erzählung, sodass sie sich öffnen und vieles preisgeben, über dass sie sonst vermutlich nur schweigen würden. Die Komplexität dieses riesigen Landes lässt sich bei der Lektüre ebenso erahnen, wie der wachsende Kontrast zwischen der städtischen Hypermoderne und den teilweise völlig verarmten, in Traditionen gefangenen ländlichen Gegenden.
Zu Recht wird das Buch im Vorwort "als großes Erbe der Weltliteratur" gewürdigt. Dessen ungewöhnliche Entstehungsgeschichte - viele Interviews konnten zunächst nur auf chinesischen Websites im Ausland erscheinen - wird in einer hochinteressanten Einführung geschildert, die der Übersetzer der amerikanischen Ausgabe, der Autor und Journalist Wen Huang, geschrieben hat. Nach der Lektüre von "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" kann es keinen Zweifel daran geben, dass diese herausragende Chronik auch in China eines Tages die Anerkennung finden wird, die ihr bislang nur im Ausland zuteil wird.
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2009; 22,95 ¤