ESSAY II
Ein west- und ein ostdeutscher Autor spüren der inneren Einheit nach
Die innere Einheit der Deutschen war nie so groß wie im Jahr ihres unerwarteten Zusammenschlusses, als der Wahnsinn groß war und sich am Horizont blühende Landschaften abbildeten. Seitdem sind wir einen langen Weg gegangen, immer bewusster und immer weiter weg von der unbewussten inneren Einheit des Anfangs. Die eine Seite konnte es nicht gut ertragen, die andere alimentieren zu müssen, während diese andere Seite so paradiesische Vorstellungen vom Leben in der Bundesrepublik hatte, dass sie gar nicht erst auf die Idee kam, Dankbarkeit zu empfinden für die entfesselten Verhältnisse.
Die Westler stellten entsetzt fest, dass die Ostler die Gleichheit mehr liebten als die Freiheit (es gibt ja immer diese Umfragen) und verübelten ihnen, dass ihnen die D-Mark ("Das Beste, was wir haben") gleichsam in den Schoß fiel (Und sie konnten doch nicht damit umgehen!). "Der Spiegel" meinte, sich besonders gut zu verkaufen, wenn er die sich scheinbar ständig wiederholende Titelgeschichte "Milliardengrab Osten" druckte. Zeige mir den Westdeutschen, der nicht glaubt, sein Lebensstandard sei wegen der untüchtigen Ostdeutschen erheblich gesunken und ich sage, wir können die innere Einheit erreichen, aber du zeigst ihn mir nicht.
Ich habe übrigens gar nichts gegen die Euphorie eines Helmut Kohl in der Stunde, da wir nichts voneinander wussten. Ich habe Verständnis für die fehlerhaften Konzepte, schon weniger Verständnis für die Absahner und Schurken, die in den Osten gingen, angeblich um zu helfen, tatsächlich, um sich gesundzustoßen. Ich habe wiederum Verständnis dafür, dass man sich in einer freien Gesellschaft selbst vor eben diesen schützen muss, zumal, wenn man doch eben erst noch für die Befreiung vom vormundschaftlichen Staat auf die Straße gegangen war und für den Anschluss gestimmt hatte.
Auf einen kleinen Nenner heruntergerechnet, steht es um die innere Einheit der Deutschen gar nicht mal schlecht. Da sieht man viele Ostfrauen mit westdeutschen Brokkolifrisuren, todschick auch mit Löckchen und Strähnchen; der ostdeutsche Kleingärtner ist so hochelektrifiziert und lärmintensiv wie sein westdeutscher Spartenbruder; der ostdeutsche Genießer sagt wie der westdeutsche Gourmet bei den ersten Bissen kenntnisreich: sehr lecker!, und die Zahl der "Bild"-Analphabeten wird auch im Osten immer größer.
Sollten wir nicht erst einmal über diese kleinen Annäherungen froh sein? Eher nicht. In Wahrheit bleibt es dabei: Der Igel kann den Hasen nicht wirklich überholen. Die Augen des Hasen sind zwar noch so schlecht wie im Märchen, aber er trägt jetzt eine sehr günstige Gleitsichtbrille vom Fielmann-Optiker, er sieht es, wenn man ihn betrügen will, und ein anderer als der, mit dem zusammen er losgerannt ist, sagt: Ich bin schon hier.
In den Jahren der Trennung haben wir uns stärker, als wir dachten, auseinander- und in den Jahren der (äußeren) Einheit weniger, als wir meinten, zusammengelebt. Meist sind es lächerlich kleine Dinge beim Anderen, an denen wir uns reiben, aber es gibt auch erhebliche. Der Westler ist geld-, der Ostler dagegen beziehungsfixiert. Was kann der Westdeutsche Besseres über eine Sache sagen, als dass sie sich rechne? Wo fühlt sich der Ostdeutsche wohler als im Kreis seiner Lieben, denen das Pech genauso an den Schuhsohlen klebt wie ihm selbst? Er ist im geeinten Deutschland kleinmütig geworden, und gut so, wenn er das hinbekommen hat - sonst könnte er noch Depressionen kriegen.
Les illusions perdues - der Roman, der für den Ostdeutschen noch einmal geschrieben werden müsste, hieße "Verlorene Illusionen". Er steht verloren am Rand, wenn die Schreihälse im Fernsehen die Uschi (Diesl) oder die Anni (Friesinger) bejubelten oder bejubeln. Da kann die Kati (Wilhelm) oder die Claudia (Pechstein) noch so gut sein: Sie haben nicht den richtigen Stallgeruch sind nicht voll akzeptiert, die Claudia (Pechstein) schon gar nicht, ihre Blutwerte sind höchst verdächtig, was man ja eigentlich bei allen Ostlern erwartet.
Das Feuilleton ist da schon liberaler, es schätzt die jungen ostdeutschen Schriftstellerinnen, die sich über Leiden ihrer Eltern an der DDR erheitern können, und als Lieblingsostler des West-Feuilletons hat jetzt der großbürgerliche Panzerfahrer Tellkamp den Weltdichter Grünbein abgelöst. Warum auch nicht.
Erklär mir Sprache. Erklär mir Gesinnung. Wie kann es sein, dass die verächtlichste Beschimpfung, die Westdeutsche gebrauchen, das Wort "Gutmensch" ist? Das kann so sein, weil sie, die Westler, aus der Verachtung und Lächerlichmachung des moralischen, skrupulösen Zeitgenossen die Legitimation für die eigenen kleinen und auch größeren Schuftigkeiten beziehen, ohne die sie nicht auskommen, wenn sie Karriere machen wollen, und das müssen sie, sonst fallen sie irgendwann noch den Sozialämtern zur Last.
Da wir in einer Mediengesellschaft leben, leben wir auch in einer Gesellschaft der Medienopfer. Obgleich der Ruf der Medien höchst zwiespältig ist, glauben die Bürger doch gerne, was sich die Zyniker und Dünnbrettbohrer in den Redaktionsstuben und Großraumbüros landauf, landab ausdenken, um das Sommerloch und manches andere Vakuum zu füllen. Und so litt die innere Einheit der Deutschen natürlich darunter, dass das Porzellan, welches die Politiker sorgsam ins Schaufenster ihres Deutschlandladens stellten, immer wieder von Elefanten zertreten wurde, für die Grobmotoriker von "Bild", für die Empfindsamen von der "FAZ".
Ganz klar. Der Westen in Gestalt seiner Medien beansprucht die Deutungshoheit über die Vergangenheit der Ostdeutschen: Stasi, Doping, Diktatur, das Bad in der Unmündigkeit, die Unfähigkeit, das Leben selbst in die Hand zu nehmen, seines Glückes Schmied zu sein.
Nun ist besonders ärgerlich, dass einerseits attestiert wird, Regierung und Volk in der DDR seien konträre Pole gewesen, auf der andere Seite aber alle staatlichen Sprachregelungen dem DDR-Bewohner untergejubelt werden, als habe er tatsächlich Jahresendflügelfigur statt Engel und Winkelement statt Fahne gesagt. Ganz im Gegenteil. Der Ostdeutsche war gegenüber Einflüsterungen von oben ungemein resistent. Daran sollte sich heutzutage mindestens jeder zweite im Lande ein Beispiel nehmen.
"Es ist keine Utopie mehr, dass die Deutschen in West und Ost dabei sind, ein gemeinsames, die unterschiedlichen Erfahrungen zusammensehendes und respektierendes Geschichtsbewusstsein zu entwickeln. Die Literatur hat an dieser Entwicklung einen entscheidenden Anteil", war in diesem Sommer im Feuilleton einer großen westdeutschen Tageszeitung zu lesen. Das sind so die Ideen, die jemandem, der selten rausgeht, am Schreibtisch zufallen: vielleicht kreativ, aber von der Realität nicht gedeckt.
Bei der inneren Einheit jener Menschen, die sich Deutsche nennen, haben wir es mit einem empfindsamen Wesen zu tun; sie ist wie die verbotene Tür im Märchen. Sobald wir über sie reden, zerfällt sie in Streit und Aversionen, sobald wir die Tür öffnen, sehen wir etwas, das wir nicht sehen wollten. Und dann? Dann reden wir ersatzweise von der inneren Einheit der Ostdeutschen. Die es nicht gibt. Oder der inneren Einheit der Westdeutschen. Die es auch nicht gibt. Und der inneren Einheit der Eisbären im Berliner Zoo. Von der wir wirklich nichts wissen können.
Der Autor lebt als Publizist in Berlin.