SOMMER 1989
Ausreisewelle und Demonstrationen brachten die SED ins Wanken
Fast 38 Jahre nach der Gründung beider deutscher Staaten hat die Bundesrepublik im Herbst 1987 Erich Honecker, den DDR-Staatsratsvorsitzenden, wie ein ausländisches Staatsoberhaupt mit allen protokollarischen Ehren empfangen. Die DDR sah darin ihre Anerkennung als unabhängiger deutscher Staat. Doch de jure hatte sich nichts geändert: Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR und der DDR-Staatsangehörigkeit blieb für Bonn ausgeschlossen.
Honeckers außenpolitischem Prestigegewinn standen zuhause unübersehbare innenpolitische Probleme gegenüber. Nach seinem Bonn-Besuch verschärften sich die Spannungen zwischen Führung und Volk dramatisch. Die Bürger erkannten, dass die Führung ihre Erwartungen hinsichtlich einer besseren Versorgung und politischen Liberalisierung - nicht zuletzt durch Reisefreiheit - nicht erfüllen wollte.
Gorbatschows Reformpolitik führte bis in SED-Kreise hinein zu Diskussionen über Umgestaltungen in der DDR. Die unter Dach und Schutz der evangelischen Kirche agierenden Friedens-, Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen überwanden ihre Isolierung und drängten mit regimekritischen Forderungen in die Öffentlichkeit. Zudem fanden sich erstmals auch Ausreiseantragsteller, deren Anträge immer wieder abgelehnt worden waren, zusammen, um durch gemeinsame Aktionen ihre Übersiedlung in den Westen zu erreichen. Die regimekritischen Gruppen, die in der DDR wirken wollten, versuchten zwar, die Antragsteller von sich fernzuhalten, doch sah sich die SED-Führung nun einer undurchsichtigen Gemengelage gegenüber. Sie befürchtete die Entstehung einer Opposition, die sie mit aller Härte im Keim zu ersticken versuchte.
Als sich Anfang 1988 einige Regimekritiker und Ausreisewillige mit eigenen Plakaten an der traditionellen Demonstration zum Gedenken an die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts beteiligen wollten, glaubte die SED-Führung, dies nutzen zu können, um die aktivsten Oppositionellen in den Westen abzuschieben. Das gelang jedoch nur teilweise, weil einige wie Bärbel Bohley nur beim Behalten ihres DDR-Passes in eine Ausreise einwilligten, was ihnen die Rückkehr nach einer Frist garantierte.
Während Honecker die Schwierigkeiten der DDR nicht sah, wuchs die Bereitschaft der Menschen, öffentlich Reformen zu fordern. Die Kirchen verlangten immer deutlicher eine Umgestaltung der Gesellschaft. Der Ausreisedruck wuchs, der Ruf nach Reisefreiheit wurde lauter. Die Führung reagierte halbherzig und zu spät auf wachsende Enttäuschung und Verzweiflung der Menschen. Als sie sich weigerte, die bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 von Basisgruppen festgestellten Wahlfälschungen auch nur zur Kenntnis zu nehmen, war breite Empörung in der Bevölkerung die Folge.
Derweil ging Ungarn, von Gorbatschows Politik ermuntert, auf Reformkurs - im Gegensatz zur DDR. Im Sommer 1989 kam es zur Krise. Zehntausende DDR-Bürger versuchten über Drittländer in den Westen zu kommen. Bereits im Mai hatte Ungarn mit dem Abbau seiner Sperranlagen gegenüber Österreich begonnen, hielt sich aber zunächst an die Verpflichtung, DDR-Bürger nicht ohne Genehmigung der DDR ausreisen zu lassen. Im August mussten die Bonner Botschaften in Budapest und Prag wegen Überfüllung mit Flüchtlingen geschlossen werden, die auf diese Weise ihre Ausreise in den Westen erzwingen wollten. Gleiches galt für die Ständige Vertretung Bonns in Ost-Berlin. Schließlich vertrauten die Flüchtlinge hier Zusagen, dass ihre Ausreiseanträge genehmigt würden, wenn sie zuerst in ihre Wohnorte zurückkehrten.
Anfang Juli hatte Gorbatschow bei einem Treffen der Warschauer-Pakt-Staaten zur "eigenständigen Lösung nationaler Probleme" aufgerufen und so die "Breschnew-Doktrin" von der begrenzten Souveränität der Mitgliedstaaten außer Kraft gesetzt. Ungarns Reformer wagten den Test: Bei einem "Paneuropäischen Picknick" bei Sopron an der Grenze zu Österreich überquerten am 19. August 661 DDR-Flüchtlinge die zeitweilig offene Grenze. Bald darauf durften 108 Flüchtlinge aus der Bonner Botschaft in Budapest nach Österreich ausreisen.
Ungarn, das sich nun einem Massenansturm von DDR-Flüchtlingen gegenübersah, verhandelte auf verschiedenen Kanälen mit Bonn. Ende August kamen Ministerpräsident Miklos Nemeth und Außenminister Gyula Horn an den Rhein, um bei einem Geheimtreffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) eine Lösung zu erörtern. Ungarn, sagte Nemeth, habe sich "entschieden, den DDR-Bürgern die freie Ausreise zu erlauben". Im Gegenzug wurde Ungarn politische und finanzielle Unterstützung zugesagt, auch wenn Nemeth betonte: "Ungarn verkauft keine Menschen." Mit der Entscheidung, DDR-Bürger in jedes Land ihrer Wahl ausreisen zu lassen, setzte Ungarn sein Reiseabkommen mit der DDR einseitig außer Kraft: Der "Eiserne Vorhang" hatte ein großes Loch.
Im September hatten sich Tausende DDR-Flüchtlinge in Prag, aber auch Hunderte in Warschau in die bundesdeutschen Botschaften begeben, um ihre Ausreise zu erzwingen. In Prag entstanden unhaltbare Zustände. Honecker glaubte, das Problem mit einer einmaligen Aktion lösen zu können. Die DDR-Bürger aus den Botschaften in Prag und Warschau sollten nach Absprachen mit Bonn ohne Aufsehen in Sonderzügen über DDR-Territorium in die Bundesrepublik gebracht werden. Die Sache wurde jedoch publik, als Genscher am 30. September den Flüchtlingen in der Prager Botschaft vor laufenden Kameras verkündete, "dass heute Ihre Ausreise in die Bundesrepublik" stattfinden werde. In Prag strömten in den nächsten Tagen weitere Flüchtlinge in die Botschaft. Erneut wurden Züge eingesetzt. In der DDR kam es zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften, als Menschen versuchten, in die Züge zu gelangen.
Im Sommer und Herbst 1989 gingen regimekritische Gruppen in der DDR mit Reformforderungen an die Öffentlichkeit. Anfang September trat das "Neue Forum" mit dem Ziel einer "Umgestaltung unserer Gesellschaft" an. Es folgte die "Bürgerbewegung Demokratie Jetzt" mit der Forderung nach einer demokratischen Erneuerung der DDR. Anfang Oktober konstituierte sich trotz massiver Behinderungen die Bewegung "Demokratischer Aufbruch". Am 7. Oktober, dem 40. DDR-Geburtstag, gründeten 43 Personen die "Sozialdemokratische Partei in der DDR".
In Leipzig beteiligten sich im Herbst 1989 nach den montäglichen Friedensgebeten in der Nikolaikirche immer mehr Menschen an Demonstrationen. Forderten zunächst Hunderte Reise-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit, demonstrierten bald Tausende für Demokratie und Menschenrechte.
Vor dem Protestmarsch am 9. Oktober fürchteten viele, dass die Demonstration mit Gewalt niedergeschlagen werden könnte. 70.000 Menschen bewegten sich, "Wir sind das Volk" und "Keine Gewalt" skandierend, auf die Sicherheitskräfte zu. Angesichts dieser riesigen Teilnehmerzahl entschied die Bezirkseinsatzleitung, die Demonstration nicht aufzulösen. Spätestens jetzt hatte begonnen, was als "friedliche Revolution" in die Geschichte eingehen sollte.
In einer "Palastrevolution" wurde Honecker am 17./18. Oktober zum Rücktritt gezwungen. An seine Stelle trat Egon Krenz, der viel zu spät die SED als führende Kraft retten wollte. Die immer größer werdenden Demonstrationen in Leipzig und vielen anderen Städten hielten an; die größte fand mit fast einer Million Menschen am 4. November auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin statt. Auch die Massenflucht ebbte nicht ab. So sah sich die Prager Führung am 3. November gezwungen, auf Bonner Druck und mit Einverständnis der DDR die sich im Land aufhaltenden DDR-Flüchtlinge direkt in die Bundesrepublik ausreisen zu lassen. Ein am 6. November veröffentlichter Entwurf für ein DDR-Reisegesetz ließ indes die Proteste nur noch heftiger werden.
Die Riege um Krenz fand kein Rezept, den Druck aus der Bevölkerung abzubauen. Ihr war nur eines klar geworden: Das Verhältnis zur Bundesrepublik war entscheidend für die Existenz der DDR. So versprach Krenz Bonn Reisefreiheit, umfassende Zusammenarbeit und ein Einschwenken auf Gorbatschows Reformkurs. Zur Überwindung der Wirtschafts- und Finanzkrise forderte er unter anderem Kredite in Höhe von acht bis zehn Milliarden D-Mark, doch die Bundesregierung verhielt sich zögerlich bis abweisend. Am 7. November trat der DDR-Ministerrat zurück, am Tag darauf folgte der geschlossene Rücktritt des Politbüros.
Nachdem Prag ultimativ von der DDR verlangt hatte, die Ausreise ihrer Flüchtlinge direkt statt über CSSR-Territorium abzuwickeln, ließ Krenz eine entsprechende Ausreiseregelung ausarbeiten. Bundeskanzleramt und Berliner Senat wurden über die bevorstehende Neuerung allgemein informiert. Dennoch brach Bundeskanzler Kohl zu einem offiziellen Besuch nach Warschau auf. Niemand rechnete mit einer spontanen Öffnung der DDR-Grenze. Doch in Ost-Berlin überschlugen sich am 9. November die Ereignisse, die am Abend zum Fall der Mauer führten.
Der Autor war von 1977 bis 1990
DDR-Korrespondent der "Frankfurter
Allgemeinen Zeitung".