Ein west- und ein ostdeutscher Autor spüren der inneren Einheit nach
Es sei die bis in den Alltag hinein spürbare Arroganz der Westdeutschen, die eigentlichen Sieger zu sein, die sie noch heute so verbittere, sagen nicht nur die Verlierer der Einheit, bei denen eine Verbitterung noch verständlich wäre. So argumentieren auch die Gewinner. Sie messen das Erreichte an dem, was im Westen in mehr als vierzig Jahren wirtschaftlicher Blüte mit harter Arbeit erreicht worden ist, statt ihr neues Leben mit den Verhältnissen in den ehemaligen sozialistischen Bruderländern zu vergleichen. Die hatten größere Hürden zu überwinden auf dem Weg zur Marktwirtschaft, weil ihnen keine reiche Schwester bei der Sanierung der Trümmerlandschaft half, die der Sozialismus hinterlassen hatte. Aber die Brudervölker stimmen keine so lauten Jammerchöre an, obwohl ihr Lebensstandard weit unter dem der Ostdeutschen liegt.
Was außerdem zum allgemeinen Frust beiträgt, sind die geplatzten Illusionen von der Warenwunderwelt des Westens, die in der Einheit jedem erschwinglich sein würde. Entpolitisierung gleich Wahlverweigerung als Gegenwelle zur gerade erlebten politischen Bewegung war die Folge oder aber Abtauchen in rechtsradikale und rassistische Umtriebe. Weil sich viele Ossis nicht mehr daran erinnern wollen, welchen finsteren Zeiten sie entronnen sind, werden sie von Westdeutschen daran erinnert.
Es war ja nicht nur die Stasi, die ihr Leben bedrückte. Es war die SED, deren Nachfolgepartei "Die Linke" heute in allen neuen Bundesländern zu einer starken Kraft herangewachsen ist. Die Kleiderordnung hatte sich vor zwanzig Jahren über Nacht geändert, die bisher getragenen Kleider wurden gewendet, doch hineingewachsen sind viele Ostdeutsche bis heute nicht.
Fakt aber ist, dass der real existierende deutsche Sozialismus wirtschaftlich, politisch und moralisch versagt hat, dass es deshalb eines zweiten deutschen Staates nicht mehr bedurfte. "Rückwärts immer häufiger" passt dennoch vielen im Osten als Alternative zur deutschen Neuzeit inzwischen besser ins selbst gemalte Weltbild, in dem eine diffuse allgemeine Angst vor der Zukunft, verstärkt durch die weltweit im September 2008 ausgebrochene Finanzpanepidemie die vorherrschende Grundierung ist: Fast 70 Prozent der Ostdeutschen fürchten gesellschaftliche Veränderungen, fast 60 Prozent empfinden ihr Leben als ständigen Kampf und deshalb als Dauerstress, fast 50 Prozent fühlen sich vom Staat verlassen, der sich früher um sie gekümmert habe.
Ein Psychiater wie Hans-Joachim Maaz deutet die neue Volksbewegung, die von undifferenzierter Ostalgie angetrieben wird, ganz einfach so: "Wenn mir meine Welt immer wieder von Wessis erklärt wird, bin ich automatisch mehr als je zuvor ein überzeugter Ossi." Das Nationalgefühl Ost, das sich in trotzigen, aber nicht immer so komischen Äußerlichkeiten zeigt wie dem scheinbar spielerisch provokanten Outfit junger Paare in Ostdiscos - er in Uniform der Volksarmee, sie im Blauhemd der Freien Deutschen Jugend (FDJ) - gedeiht erst jetzt im geeinten Deutschland.
Was hat das alles zu tun mit dem Selbstbewusstsein vieler Ostdeutscher, das einfach nicht wachsen will, obwohl ihnen jedes Jahr bei den Feiern zur deutschen Einheit Anfang Oktober attestiert wird, besonders motiviert zu sein? Die gelobt werden von wechselnden Festrednern, eine gewaltige Lebensleistung allein dadurch erbracht zu haben, dass sie die Brüche in ihren Biografien während der vergangenen fast zwanzig Jahre tapfer überlebten? War schließlich revolutionär, welche gegensätzlichen Welten und Systeme aufeinander prallten - Zentralismus gegen Föderalismus, Willkür gegen Rechtsstaat, Zensur gegen Meinungsfreiheit, Einheitspartei gegen Parteienwettstreit, Planwirtschaft gegen soziale Marktwirtschaft, Maulkorb gegen Streitkultur, Diktatur gegen Demokratie?
Genau die ist in eigener Regie von denen ertrotzt worden, die nie in Schulen, Universitäten und Betrieben Widerspruch gegen die Obrigkeit hatten lernen können, wie dies spätestens seit den sechziger im Westen selbstverständlich war. Darauf müssten sie doch - Moment mal, wir haben auch was zu sagen! - eigentlich stolz sein.
Dass die Helden der friedlichen Revolution bald vergessen waren, dass die Helden selbst bald vergaßen, wie couragiert sie waren, dass bald die Helden vielleicht sogar lieber vergessen wollten, was sie gewagt hatten, liegt sicher auch daran, dass außer an den üblichen Feiertagen ihrer Heldentaten nicht mehr gedacht wird. Fast zwanzig Jahre danach gibt es noch immer kein Denkmal, das an die wunderbare Revolution erinnert, an den Sturz der Diktatur.
Es wäre eines der Freude, des gemeinsam erlebten Glücks, des berechtigten Stolzes derer, die sie bewirkten. Die Revolution vom Herbst 1989 ist schließlich die einzige gelungene in der deutschen Geschichte. Zur historischen Wahrheit gehört auch, dass es die meisten Ostdeutschen nicht interessierte, ob sie eine neue Verfassung erhalten würden oder ob es genüge, der alten beizutreten. Andere Ziele hatten Vorrang, materielle vor allem.
Die Lage der Nation lässt sich eben nicht nur mit der wirtschaftlichen Situation erklären oder der wohlfeilen Metapher, die Einheit sei zwar gekauft, aber eben nicht gefühlt. Die Verletzungen der einstigen DDR-Bürger, die mutig ihren Staat zu Tode demonstriert haben, ohne dass sie je zuvor Protest hätten üben können, müssen noch andere Ursachen haben. Die tief sitzende Kränkung, sich nicht als gleichwertig behandelt zu sehen, ist entscheidender. Das tief sitzende Gefühl, minderwertig zu sein, zu den armen Verwandten zu gehören, die noch immer belehrt werden, was sie tun sollen.
Die Vergangenheit der Ostdeutschen kümmert Westdeutsche nämlich eher nicht. Viele setzen das verrottete politische und wirtschaftliche System der DDR mit dem Verhalten der Menschen gleich, die da lebten, so als hätten die in dem von oben bestimmten unten kein selbst bestimmtes Leben gekannt - Liebe, Geburten, Freunde, Familie. Als hätte es in Dunkeldeutschland keine Jahreszeiten gegeben, keine Sonnenaufgänge, keine Sternennächte. Einstige Bürger der DDR wiederum fühlen sich persönlich angegriffen, wenn über ihr Staatswesen pauschal geurteilt wird, als hätten sie alle in Käfigen unter Aufsicht der Schergen der Staatssicherheit hausen müssen.
Dass es aber inzwischen sogar in Oberammergau, Gelsenkirchen oder Fallingbostel keine Sensation mehr ist, wenn der Kellner oder die Verkäuferin sächselt, lässt vermuten, dass die Einheit dennoch beim Volk angekommen ist. Dass inzwischen westdeutsche Studenten in auch in Greifswald, Jena oder Leipzig studieren, ohne dabei heimwehkrank durch die Bahnhofhallen zu schleichen, dass die künftigen Eliten der Nation nur danach gehen werden, wo sie am besten ausgebildet werden, erlaubt die These: In den Köpfen der gebildeten Jugend gibt es keine Mauer mehr.
So gesehen wäre es also ein beruhigendes Zeichen von Normalität, wenn die im Westen über die im Osten und die im Osten über die im Westen klagen. Schließlich gehört ja auch das gegenseitige Spötteln von Bayern und Preußen mit dem "Weißwurstäquator" als Trennlinie zu den Ritualen landmannschaftlichen Umgangs. Und Badener und Württemberger zum Beispiel waren sich über Jahrhunderte nicht freundlich gesinnt, und dennoch leben sie heute friedlich zusammen in einem Bundesland Baden-Württemberg.
Die Frage, wie es dem vereinten Deutschland geht, hat sich dann erledigt, wenn die Antwort mal lautet: Es geht so. Mal besser, mal schlechter. Oder, noch besser: Wenn niemand mehr fragt, wie lange es dauert bis zur Einheit.
Der Autor lebt als Publizist in Hamburg.