DEUTSCHLANDPOLITIK
Aus zwei Staaten wird eine Republik
Die Öffnung der Berliner Mauer am Abend des 9. November 1989 stürzte Beteiligte und Betroffene der politischen Klasse in Nah und Fern zunächst in tiefe Ratlosigkeit. Die Kontrolle über den Gang der Geschichte war ihnen offenkundig entglitten. Erst in der zweiten Novemberhälfte nahm die politische Debatte wieder Fahrt auf. In Ost-Berlin brachte der neue, als Hoffnungsträger und Perestrojka-Freund apostrophierte Ministerpräsident Hans Modrow die Idee einer deutsch-deutschen Vertragsgemeinschaft ins Spiel. Neues Denken in Bonn löste der sowjetische Deutschlandspezialist und Gorbatschow-Vertraute Nikolai Portugalow bei seinem Besuch im Bundeskanzleramt aus. Nur wenige Tage danach jedenfalls, am 28. November, präsentierte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) jene zehn Punkte der Öffentlichkeit, die "Freund und Feind" gleichermaßen überraschten, teils heftig verärgerten.
Dabei war dieser "Plan zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas" eher zurückhaltend formuliert. Er nahm Modrows "Vertragsgemeinschaft" auf, plädierte für konföderative Strukturen in Deutschland und blieb mit der Forderung nach freier "Selbstbestimmung für das deutsche Volk zur Erlangung seiner Einheit" im Rahmen bisheriger Bonner Wiedervereinigungsrhetorik. Dennoch hatte Kohl mit seinem "nationalen Alleingang" einen Stein ins Wasser geworfen, der weite Kreise zog. Zwischen Kap Arkona und Fichtelberg breiteten sich schwarz-rot-goldene Deutschland-Fahnen aus. Der Ruf "Wir sind das Volk" wandelte sich in "Wir sind ein Volk". Die Menschen wollten nicht mehr und nicht weniger als "Einheit jetzt und sofort" - ein Schlüsselerlebnis auch für Kohl bei seinem Besuch in Dresden am 19. Dezember.
Eine andere Stimmung herrschte in Ost-Berlin. Hier hatte sich - nach polnischem Vorbild - am 7. Dezember der Zentrale Runde Tisch konstituiert, von den Volkskammer-Parteien und den Bürgerbewegungen paritätisch besetzt. Er verstand sich als öffentliches Initiativ- und Kontrollinstrument gegenüber Parlament und Regierung. "In tiefer Sorge um unser in eine Krise geratenes Land, seine Eigenständigkeit und seine dauerhafte Entwicklung" hatten sich seine Teilnehmer zum Ziel gesetzt, den Übergang von der Diktatur zu freien und demokratischen Wahlen geordnet zu gestalten, eine neue Verfassung auszuarbeiten und die Stasi aufzulösen.
Erstmals zeigte sich die SED bereit, ihre Macht mit den Bürgerrechtlern zu teilen. Kampflos aber gab sie die Staatssicherheitsorgane, ihre eigentliche Machtbastion, nicht preis. Neue Massendemonstrationen und politische Streiks erst zwangen Modrow zum Rückzug. Am 15. Januar 1990 öffnete die Mielke-Zentrale in Berlin-Lichtenberg der andrängenden Menge die Tore - die Stasi hatte die Herrschaft endgültig verloren.
Zugleich traten acht Bürgerrechtler in Modrows neue "Regierung der nationalen Verantwortung" als Minister ohne Geschäftsbereich ein und begleiteten ihn bei seinem Bonn-Besuch am 13. Februar, fühlten sich dort aber wie "der kleine Michel" behandelt. Brüsk hatte Kohl Modrows Bitte um 10 bis 15 Milliarden D-Mark Soforthilfe zurückgewiesen.
Die Bundesregierung hatte längst eine andere Rechnung aufgemacht. Die DDR-Wirtschaft, so offenbarten die nackten Zahlen ihrer Schlussbilanz, war nicht zu sanieren. Die Menschen würden weiter und stärker noch nach Westen strömen, fürchtete Kohl und nahm deshalb Kurs auf eine Wirtschafts- und Währungsunion, die das Gesetz des Handelns so schnell wie möglich in die eigenen Hände verlagerte. Diese Kurskorrektur beschleunigte die Entwicklung aufs Neue - und entschied die Wahl zwischen den zwei möglichen Vereinigungswegen: zügiger Beitritt nach Grundgesetz-Artikel 23 oder erst nach vorherigem Verfassungsentscheid und Wahl eines gesamtdeutschen Souveräns gemäß Artikel 146. Das Votum für Artikel 23 bestimmte auch das Schicksal des am Runden Tisch erarbeiteten Verfassungsentwurfs. Der Text konnte dort nicht mehr verabschiedet werden, die Wiedervorlage in der neu gewählten Volkskammer blieb erfolglos. Die Akteure der friedlichen Revolution hatten ihren Einfluss verloren.
Die auf den 18. März vorgezogene freie Volkskammerwahl stürzte die westdeutschen Parteien in hektische Betriebsamkeit. Sie mussten in der DDR Partner finden, auch mit Blick auf die Bundestagswahl am 2. Dezember. Am leichtesten taten sich die Sozialdemokraten. Sie hatten in der 1989 aus der Opposition gegründeten SDP natürliche Verbündete. Ein Zusammengehen mit der PDS lehnten sie ab. Schwieriger war die Lage für Union und Freidemokraten. Ihre "natürlichen" Partner CDU und LDPD hatten das System mitgetragen und waren deshalb politisch belastet, verfügten aber über Ressourcen, die die Oppositionskräfte nicht hatten: jeweils 100.000 Mitglieder, Immobilien, flächendeckende Parteistrukturen und Zeitungen. Schließlich gelang es Emissären beider Bonner Regierungsparteien, mit kräftiger personeller und finanzieller "Nachhilfe" aus Blockparteien und Bürgerbewegungen Bündnisse zu schmieden: die "Allianz für Deutschland" der CDU sowie den "Bund Freier Demokraten" der FDP.
Bonner Personen und Positionen gaben denn auch den Ausschlag für das Wahlergebnis. "Einheitskanzler" Kohl mit seinen Prognosen von "blühenden Landschaften" und seinem Versprechen, keinem werde es schlechter, vielen aber besser gehen, bescherte der CDU triumphale 40,8 Prozent. Kanzlerkandidat und Einheitskritiker Oskar Lafontaine brachte es für seine Sozialdemokraten nur auf 21,9 Prozent.
Die erste frei gewählte DDR-Regierung bildete der CDU-Vorsitzende Lothar de Maizière in Koalition mit SPD und Liberalen. Auf dieser breiten Basis, die freilich im August zerbrach, meinte der Ost-Berliner Rechtsanwalt die Einheits-Verhandlungen auf Augenhöhe führen zu können. Mit dem Appell, die Teilung durch Teilen zu überwinden, suchte er das Optimum für die DDR-Bürger herauszuholen.
Die Probe aufs Exempel lieferte der erste Einigungsvertrag, der zum 1. Juli 1990 die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft setzte. Er dehnte die Wirtschafts- und Rechtsordnung der Bundesrepublik in weiten Teilen auf das "Beitrittsgebiet" aus. Endlich hielten die Menschen in der DDR die begehrte D-Mark in Händen. Für sie war der ökonomisch völlig unrealistische Umtauschkurs zum Alu-Chip von eins zu eins respektive zwei zu eins ein großer Erfolg.
Im Westen hingegen war der Vertrag wegen seiner finanziellen und ökonomischen Konsequenzen heftig umstritten. Bundesbankchef Karl Otto Pöhl trat aus Protest zurück. Experten wie der Sachverständigenrat warnten - zu Recht, wie sich später zeigte - vor schweren Belastungen für die öffentlichen Haushalte und Sozialsysteme und sagten den Zusammenbruch der meisten DDR-Betriebe voraus.
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und der Parlamentarische Staatssekretär beim Ost-Berliner Ministerpräsidenten, Günther Krause (beide CDU), führten die Anfang Juli begonnenen Verhandlung über den deutsch-deutschen Einigungsvertrag: ein hunderte Seiten umfassendes Werk, das die Anpassung des DDR-Rechts an die bundesdeutsche Ordnung mitunter bis in letzte Details regelte. Eine Reihe von Punkten blieb bis kurz vor der Unterzeichnung am 31. August und darüber hinaus umstritten. Im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs waren für zwei Jahre unterschiedliche Rechtsgebiete vorgesehen mit Fristenlösung im Osten und Indikationslösung im Westen. Der Volkskammer-Beschluss zum Umgang mit den Stasi-Akten fand keine Aufnahme in den Vertrag - der künftige Gesetzgeber sollte ihn lediglich "berücksichtigen".
Geregelt waren hingegen zwei Probleme, die im Vollzug der staatlichen Vereinigung für erheblichen gesellschaftlichen Zündstoff und Investitionshemmnisse sorgten. Unrechtmäßige Enteignungen von Grund und Boden sollten nach dem Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" wieder gut gemacht werden. Das von der Volkskammer beschlossene Treuhandgesetz führte zu einer Privatisierungspraxis, die - im Verein mit den Folgen der Währungsunion - zur Abwicklung auch konkurrenzfähiger Ost-Betriebe führte, kleine Existenzgründer benachteiligte und so flächendeckende Arbeitslosigkeit erzeugte.
Am 23. August 1990 beschloss die Volkskammer ihren (sic!) Beitritt zur Bundesrepublik gemäß Grundgesetz-Artikel 23. "Den Fehler berichtigen wir im Protokoll", verständigten sich hernach der aufmerksame PDS-Fraktionschef Gregor Gysi und der amtierende Parlamentspräsident Reinhard Höppner (SPD) augenzwinkernd. Als "Tag der deutschen Einheit" wurde der 3. Oktober festgeschrieben - kurz nach den letzten 2-plus-4-Verhandlungen und vor dem 41. Staatsgründungstag der DDR.
Viele Volkskammer-Abgeordnete kandidierten für die ersten Landesparlamente, die am 14. Oktober gewählt wurden. In den "neuen" Ländern fanden die Bürger ihre politische Identität und gesellschaftliche Orientierung.
Der Autor war bis 2007 Mitglied der Chef-
redaktion von "Deutschlandradio Kultur".