VOLKSKAMMER II
Im SED-Staat waren die Abgeordneten nur Erfüllungsgehilfen der »führenden Partei«
"Gelächter" verzeichnet das Protokoll der Volkskammertagung vom 13. November 1989 an dieser Stelle. "Ich liebe doch alle Menschen", hatte der einst so mächtige Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, gerade haspelnd auf "Missfallensäußerungen" reagiert, die er mit seiner Anrede der Abgeordneten als "Genossen" ausgelöst hatte.
Zum ersten Mal verlangten Mitglieder der Volkskammer in dieser turbulenten Sitzung Rechenschaft von der Regierung: zur desolaten wirtschaftlichen Situation, zu Amtsmissbrauch, zur politischen Krise in der DDR. Bei der Wahl des neuen Volkskammerpräsidenten war eine Stichwahl nötig. Schon in der vorangegangenen Tagung hatte es bis dahin Undenkbares gegeben: 26 Gegenstimmen und 26 Enthaltungen bei der Wahl von Egon Krenz zum Honecker-Nachfolger als Staatsratsvorsitzender. Am 1. Dezember strich die Volkskammer den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung: Nach fast vier Jahrzehnten eines politischen Schattendaseins regte sich - noch etwas ungelenk - parlamentarisches Bewusstsein.
Formal war die alte Volkskammer "das oberste staatliche Machtorgan", das über die "Grundfragen der Staatspolitik" entschied, wie es Artikel 48 Absatz 1 der DDR-Verfassung festlegte. Doch die Praxis wurde durch die "Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei" (Artikel 1) bestimmt. Knapp 40 Jahre lang war die Volkskammer parlamentarisches Dekor, Erfüllungsgehilfe der SED. Erst als der "führenden Partei" die Kontrolle entglitt, als die Erosion staatlicher Macht eingesetzt hatte, wurde zaghaft parlamentarische Mitsprache verlangt.
Die geringe Bedeutung der Volkskammer spiegelte sich schon in den seltenen Sitzungen wider, deren Zahl in den insgesamt neun Wahlperioden immer weiter abnahm. In den 1970er und 1980er Jahren wurde das "oberste Machtorgan" nur noch zwei- bis dreimal pro Jahr einberufen. Eine dieser Tagungen diente weitgehend der Bestätigung der Finanz- und Wirtschaftspläne.
Von der ersten Volkskammerwahl 1950 bis zur neunten 1986 präsentierte die "Nationale Front" der Parteien und Massenorganisationen "Einheitslisten". Die Zusammensetzung der Volkskammer mit anfangs 466, seit 1963 mit 500 Abgeordneten stand schon vor der Wahl fest. Zuletzt verteilten sich die Mandate auf zehn Fraktionen: Die SED als Fraktion hielt mit 127 Abgeordneten zwar nur rund ein Viertel der Sitze, während die vier "Blockparteien" CDU, Bauernpartei, Liberal- und Nationaldemokraten jeweils 52 Vertreter entsandten. Tatsächlich stellte die SED, gestützt auf die von ihr kontrollierten Massenorganisationen, insgesamt aber stets mehr als die Hälfte der Mandate. 1986 kamen 168 Vertreter der Gewerkschaften (FDGB), der staatlichen Jugendorganisation (FDJ), des Frauendbundes (DFD), des Kulturbundes und der Bauernhilfe (VdgB) in die Volkskammer. 152 von ihnen waren SED-Mitglieder.
Debatten in freier Rede oder inhaltliche Kontroversen gab es nicht. Einstimmigkeit war angesagt. Ob Mitglieder der Regierung oder Abgeordnete sprachen: Es wurde Wort für Wort vom Manuskript abgelesen, weder durch Zwischenfragen noch Zwischenrufe abgelenkt. Im Plenarsaal im Palast der Republik, in dem die Volkskammer seit 1976 tagte, waren die nussbaumfarbenen Sitze mit ihrer sandfarbenen Polsterung stets belegt.
Zum Ritual gehörte bei der Verabschiedung von Vorlagen die Bitte des Präsidenten um das Handzeichen bei Zustimmung, ergänzt um die Frage: "Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Das Gesetz ist einstimmig angenommen." Ein prüfender Blick in das Plenum war nicht nötig, bis weit in den Herbst 1989.
Mit einer Ausnahme, 1972 bei der Abstimmung über die Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch: 14 CDU-Abgeordnete votierten gegen das Gesetz, 8 weitere enthielten sich der Stimme. So konnte die CDU in der DDR Bedenken von Christen Rechnung tragen. Dieses Beispiel diente später als vermeintlicher Beleg dafür, dass die ansonsten durchgehaltene Einstimmigkeit dem freien Willen der Abgeordneten entsprochen habe.
Die waren keine Berufspolitiker. Sie erhielten 500 Mark Aufwandsentschädigung pro Monat und Freifahrten in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Einen eigenen Mitarbeiterstab hatten sie nicht, eine parlamentarische Kontrolle der Exekutive war nicht vorgesehen. Die Volkskammer war eines der Instrumente zur Umsetzung des SED-Willens.
Diese politische Repräsentanz sollte dem "bürgerlichen Parlamentarismus" überlegen sein. Dennoch hielt die Volkskammer an manchen überkommenen Formen fest, ging es doch auch um die Reputation nach außen. Es gab Ausschüsse, zumeist etwa 15, die aber nur selten einberufen wurden.
Dem Ansehen der Volkskammer sollte mit einigen populären und renommierten Künstlern, Sportlern, Wissenschaftlern aufgeholfen werden. Der beliebte Gustav-Adolf "Täve" Schur, zweimaliger Straßenweltmeister der Rad-Amateure und Mitglied der gesamtdeutschen Olympiamannschaften von 1956 in Rom (Bronze) und Melbourne 1960 (Silber), war von 1958 bis 1990 SED-Abgeordneter. Dem Bundestag gehörte er von 1998 bis 2002 für die PDS an. Die Leichtathletin Heike Drechsler, 1983 erstmals Weitsprungweltmeisterin, kam drei Jahre später in die Volkskammer. Willi Sitte, über die DDR hinaus bekannter Maler, war Mitglied der Kulturbund-Fraktion, ebenso der Physiker Manfred Baron von Ardenne, der in Dresden das von ihm begründete Forschungsinstitut führte.
Selbst als der Drang nach Veränderungen offenkundig war und die SED nach den Kommunalwahlen vom Mai 1989 von DDR-Bürgern öffentlich der Manipulation beschuldigt wurde, blieb die Volkskammer davon unberührt. Noch am 8. Juni billigte sie per Akklamation eine von der SED vorgelegte Erklärung zur Niederschlagung der Demonstrationen in Peking. Mit Blick auf die protestierenden Studenten ist darin die Rede von "gewaltsamen, blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Elemente", die eine politische Lösung verhindert hätten.
So blieb die Volkskammer in den Zeiten der vermeintlich unangefochtenen SED-Herrschaft eine unscheinbare, einflusslose Institution. Das Scheinparlament wurde von der Dynamik der Entwicklung überrollt. Erst nach dem Fall der Berliner Mauer wurde sie gebraucht, unter anderem, um die gesetzgeberischen Voraussetzungen für die ersten freien DDR-Wahlen am 18. März 1990 zu schaffen. Doch die Grundentscheidungen wurden in dieser Phase schon am "Runden Tisch" getroffen.
Der Autor war von 1980
bis 1988 dpa-Korrespondent in Ost-Berlin.