VON HELMUT STOLTENBERG
"Waaahnsinn" war das meistbenutzte Wort in jener Nacht 1989, in der plötzlich nichts mehr war wie zuvor . Mehr als 28 Jahre hatte die Mauer Berlin geteilt, 17 Millionen Ostdeutschen den Weg nach Westen verwehrt, Jahr um Jahr Menschenleben gekostet. Nun war sie offen, lang getrennte Familien konnten sich in die Arme schließen und Menschen sich begegnen, die bei anderem Lauf der Geschichte aufeinander hätten schießen sollen.
20 Jahre ist es her, in denen aus dem "Waaahnsinn" Normalität geworden ist: die Hälfte der Zeit, die beide deutsche Staaten in Abgrenzung zueinander existierten. Auch wenn deren Überwindung manchem so normal doch nicht scheint, wirkt die Teilung längst nicht nur auf die Jüngeren so abnorm, wie sie war.
Mit ihnen allen will diese Themenausgabe einen Blick auf die Zeitenwende von 1989 werfen - etwa, wenn das Geschehen des 9. November wieder lebendig wird oder der Mitinitiator der Montagsdemonstrationen, Christian Führer, über Mut und Motivation der Teilnehmer reflektiert. Dem Grauen des Todesstreifens und seinen Opfern gehen die Autoren ebenso nach wie den Kräften, die die Mauer zum Einsturz brachten. Und neben dem Weg beider deutschen Staaten zur Einheit wird der außenpolitischen Begleitung dieser Entwicklung nachgespürt, die sich nur in ihrer Einbettung in den europäischen Einigungsprozess verstehen lässt.
Ohnedies wäre es verkürzt, nur die friedliche Revolution in der DDR zu sehen - handelte es sich doch 1989 um eine mittelosteuropäische Revolution mit tiefgreifenden Folgen für den gesamten Kontinent. Diese europäische Einbettung spiegelt der Blick auf die Umwälzungen bei unseren Nachbarn in Polen, Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei wider - Umwälzungen, die sich wohl in keiner Einzelperson mehr fokussieren als in Michail Gorbatschow, dessen Perestroika-Politik den Raum für Emanzipierung und Demokratisierung der sowjetischen Satellitenstaaten öffnete. "Die Veränderungen haben den Sehnsüchten der Menschen entsprochen", bilanziert er im Interview.
Auch dem wirtschaftlichen Erbe der DDR und ihrer Stasi-Hinterlassenschaft widmet sich "Das Parlament" in dieser Ausgabe und fragt nach, wie sich der Umgang mit diesem Nachlass ausgewirkt hat und auswirkt. Das gilt nicht zuletzt für den zum gesamtdeutschen Parlament gewordenen Bundestag. So, wie engagierte Bürger 1989 in die Politik kamen, so haben die Volksvertreter in harter Arbeit um die Gestaltung der Einheit gerungen - im Bundestag wie 1990 in der frei gewählten Volkskammer.
Vor welchen Herausforderungen sich Politiker vor Ort gestellt sahen, beleuchtet unsere Fotostrecke, die Abgeordnete in ihrem Wahlkreis am einstigen deutsch-deutschen Grenzstreifen zeigt und die sich der Hauptprobleme nach dem Mauerfall erinnern. Und auf die Frage nach der inneren Einheit finden sich zwei ganz subjektive Antworten aus Ost und West - schließlich erlebt ein jeder seine eigene Normalität des Zusammenlebens.