Die Wirtschaft ist wieder in Schwung, die Konjunktur läuft, die Ertragslage der Firmen ist gut. Doch noch immer gibt es viel zu viele Arbeitslose. Und Millionen Menschen, die zu Dumpinglöhnen von weit unter fünf Euro pro Stunde arbeiten müssen. Was also ist zu tun auf dem Arbeitsmarkt? Können wir uns eine Reformpause erlauben oder muss neu in die Hände gespuckt werden? Darüber führte BLICKPUNKT BUNDESTAG ein Streitgespräch mit dem Arbeitsmarkt- und Sozialpolitischen Sprecher der Unionsfraktion Ralf Brauksiepe und mit Barbara Höll, der stellvertretenden Vorsitzenden und Arbeitskreisleiterin für Wirtschaft, Arbeit und Finanzen der Fraktion Die Linke.
Blickpunkt Bundestag: Leben wir zunehmend in einer geteilten Arbeitswelt, in der es dem Normalarbeitnehmer leidlich gut geht, im Niedriglohnsektor aber „vorindustrielle Formen der Ausbeutung” herrschen, wie ein SPD-Landeschef gemeint hat?
Ralf Brauksiepe: Das sehe ich überhaupt nicht so. Wir haben im letzten Jahr zweieinhalb Prozent Wirtschaftswachstum gehabt, das ist kein verhaltenes Pflänzchen, sondern ein kräftiger Aufschwung. Wir haben 597.000 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr und 392.000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mehr. Das sind erhebliche Schritte nach vorn; und auf diesem richtigen Weg wollen wir weitergehen.
Barbara Höll: Aber Sie können doch nicht verschweigen, dass wir bei uns zum Teil schon amerikanische Verhältnisse haben! über zwei Millionen Menschen verdienen unter 50 Prozent der Durchschnittslöhne, viele müssen sogar zu einem Stundenlohn von 3,50 Euro arbeiten. Selbst wenn diese Menschen acht Stunden arbeiten, reicht es nicht für den eigenen Lebensunterhalt. Es ist ja richtig, dass wir endlich wieder Wirtschaftswachstum haben. Aber es gibt nach wie vor große Unsicherheitsfaktoren. Die schönen Zahlen können auch wieder rückläufig werden. Deshalb besteht dringender Handlungsbedarf besonders denjenigen gegenüber, die Geringverdiener sind.
Blickpunkt:Sind also nach den Unternehmen, die im letzten Jahr kräftige Gewinne gemacht haben, nun die Arbeitnehmer dran mit höheren Löhnen und einem Einstieg in den Investivlohn, also der Beteiligung am Unternehmensgewinn?
Brauksiepe: Je größer das wirtschaftliche Wachstum ist, desto größer sind natürlich die Spielräume für Lohnerhöhungen. Natürlich gibt es noch soziale Probleme in diesem Land. Aber zugleich ist das Niveau der sozialen Sicherheit bei uns erheblich höher als in vielen anderen Ländern, gerade auch im Vergleich zu den USA. Was den Investivlohn anbelangt, den hat die Union schon lange auf ihre Fahnen geschrieben. Denn er ist genau das Gegenteil von Klassenkampf. Es geht um Teilhabe am Wohlstandszuwachs. Klar dabei ist, dass es immer nur eine bestimmte Verteilungsmasse gibt, die vom wirtschaftlichen Erfolg abhängt und die die Tarifparteien aushandeln und auf verschiedene Komponenten wie Lohnerhöhung oder betriebliche Alterssicherung aufteilen müssen. Da kann durchaus die Komponente Investivlohn hinzukommen. Fest steht: Hätte es in den letzten 25 Jahren schon die Beteiligung der Mitarbeiter am Kapital gegeben, die wir uns nun für die Zukunft wünschen, hätten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heute sicher mehr Geld in der Tasche. Deshalb heißt unsere Devise: Teilhabe statt Klassenkampf!
Höll: Wir sind gegenüber Investivlöhnen sehr skeptisch. Denn der große Nachteil ist, dass sich die Arbeitnehmer beim Investivlohn natürlich auch an allen Risiken des Unternehmens beteiligen müssen. Das ist unzumutbar, schon weil die Arbeitnehmer keine Teilhabe an den Geschäftsdaten haben. Deshalb plädieren wir statt für einen Investivlohn für gesetzliche Mindestlöhne.
Blickpunkt:Auf dem Feld des Niedriglohnsektors überschlagen sich gerade die Vorschläge: Mindestlohn, Kombilohn, negative Einkommenssteuer. Was passt davon zusammen, was ist richtig?
Brauksiepe: Es geht darum, dass für anständige Arbeit auch ein anständiger Lohn gezahlt werden muss. Aber der Unternehmer kann letztlich nur einen Lohn zahlen, der der Produktivität des Arbeitnehmers entspricht. Für den sozialen Ausgleich für diejenigen, die keine Arbeit haben oder zu gering verdienen, muss der Staat mit seiner Sozialpolitik sorgen und hier haben wir ja auch ein hohes Niveau. Ob der Arbeitnehmer von seinem Lohn in jedem Fall leben kann, hängt auch von seiner individuellen Situation ab: Wenn ein Single einen bestimmten Stundenlohn bekommt, kann er davon natürlich eher leben als jemand, der für eine mehrköpfige Familie sorgen muss. Die Union möchte deshalb lieber über einen Kombilohn ein Einkommen, das am Markt erzielt wird, intelligent kombinieren mit einem Transferelement, das vom Staat gestellt wird.
Höll: Wir sind ganz klar für Mindestlöhne. Schauen wir uns doch nur in Europa um: überall gibt es ihn, nur in Deutschland und Zypern nicht. In Großbritannien sind durch Mindestlohnvereinbarungen die Löhne von drei auf fünf Pfund — vergleichbar mit unserer Forderung nach acht Euro Mindestlohn — gestiegen. Klar dabei ist, dass dieser Mindestlohn aus der Wirtschaft erarbeitet werden muss. Beim Kombilohn werden dagegen steuersubventionierte Zulagen gezahlt. Es kann aber nicht Sinn und Zweck sein, dass die Wirtschaft so entlastet wird. Im übrigen, Herr Brauksiepe: Die Kinder haben in der Frage des Mindestlohns nichts zu suchen. Kinder haben das Recht auf eine eigenständige Existenzsicherung. Dafür brauchen wir andere Modelle, wie etwa ein deutlich höheres Kindergeld oder die Kindergrundsicherung.
Brauksiepe: Wenn ich mal darauf hinweisen darf: Wir brauchen auch noch Leute, die bereit sind, morgens aufzustehen und zu arbeiten. Leider gibt es immer noch viele Menschen, die voll arbeiten und die nicht viel mehr in der Lohntüte haben als Menschen, die nicht arbeiten. Also: Wir dürfen hier nicht äpfel mit Birnen vergleichen. So sind zum Beispiel in Großbritannien die sozialen Ansprüche für jemanden, der nicht arbeitet, erheblich geringer als bei uns. Einen Mindestlohn von acht Euro pro Stunde können bei uns viele Betriebe nicht erwirtschaften. Deshalb ist dieser Vorschlag einfach nicht zielführend. Auch der Hinweis auf andere EU-Länder ist mit Vorsicht zu genießen. So liegt in Bulgarien der Mindestlohn bei 53 Cent. Es gibt nur sieben Länder in der EU, die gesetzliche Mindestlöhne über vier Euro haben.
Blickpunkt:Sollte es einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn oder branchenbezogene Mindestlöhne geben, die von den Tarifpartnern vereinbart werden?
Brauksiepe: Die große Koalition möchte das Entsendegesetz, das ja für die Bauwirtschaft gilt, auf die Gebäudereiniger ausdehnen. Aber wir dürfen Ziele und Mittel nicht verwechseln. Das Ziel kann nicht sein, eine bestimmte Branche unter ein bestimmtes Gesetz fallen zu lassen. Das Ziel muss sein, dass anständige Arbeit anständig entlohnt wird. Wo das nur möglich ist über die Aufnahme einer Branche in das Entsendegesetz, werden wir das machen.
Blickpunkt:Kommen wir ohne Mindestlohn zu amerikanischen Verhältnissen, wo oft zwei oder drei Jobs parallel nötig sind, um über die Runden zu kommen?
Höll: Die sind doch heute für viele Menschen schon Realität! Von der Zunahme sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse sind zwei Drittel Zeitarbeitsverhältnisse. Viele Menschen in Deutschland haben zwei, drei Minijobs nebeneinander, sie arbeiten erst in der Kaufhalle, putzen anschließend irgendwo und führen im dritten Job Hunde aus oder verteilen Zeitungen. Dazu kommt der große Bereich der 1-Euro-Jobber, die wirklich für fast nichts früh aufstehen und arbeiten. Und froh sind, dass sie über die Beschäftigung eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben. Dabei tauchen sie nicht einmal mehr in der Arbeitslosenstatistik auf. Insofern finde ich das Menschenbild von Herrn Brauksiepe schon seltsam, wenn er sagt, wir brauchen Menschen, die bereit sind, früh aufzustehen. Nochmals: Unser Ziel ist ein gesetzlicher 8-Euro-Mindestlohn. In der Praxis hieße dies, dass man dafür sorgen muss, dass die Tarifparteien in den Bereichen, wo der Tariflohn noch darunter liegt, die Entlohnung schrittweise an den Mindestlohn heranführen.
Brauksiepe: Wir sollten bitte bei der Wahrheit bleiben. Es ist doch falsch zu sagen, die 1-Euro-Jobber stehen für fast nichts auf. Jeder muss doch, bevor er sich an die Allgemeinheit wenden kann, selbst das tun, was er zur Beseitigung seiner eigenen Hilfebedürftigkeit machen kann. Viele Menschen erhalten Tariflöhne, und dennoch bleibt ihnen am Ende nicht viel mehr übrig als denen, die nicht arbeiten. Auch diese Wahrheit muss man sehen.
Blickpunkt:Werden die heutigen Billigjobs zu einer späteren Altersarmut führen?
Brauksiepe: Wir sind ein Land, das es geschafft hat, Altersarmut weitgehend zu vermeiden. Unser größtes Armutsrisiko ist, viele Kinder zu haben. Ich will deutlich sagen: Das, was wir Kindern geben, die in Bedarfsgemeinschaften leben, ist sicherlich für den Einzelnen nicht viel Geld. Gleichwohl muss es von anderen erwirtschaftet werden. Wir haben ein Rentenversicherungssystem, das Altersarmut weitgehend vermieden hat. Und wir entwickeln es ja weiter, was allerdings voraussetzt, dass wir bei einer deutlich gesteigerten Lebenserwartung eben auch schrittweise das Renteneintrittsalter erhöhen müssen.
Höll: Natürlich ist die Altersarmut ein Problem. Wer lange zu Dumpinglöhnen arbeiten musste, eventuell arbeitslos ist und dann in Hartz IV fällt, hat später selbstverständlich einen immer geringer werdenden Rentenanspruch, denn es werden ja weniger Euro in die Rentenkasse eingezahlt. So ist Altersarmut vorprogrammiert. Deshalb ist es wichtig, dass wir zu neuen Lösungen kommen. Und dazu gehören auch Mindestlöhne.
Das Gespräch führte
Sönke Petersen.
Fotos: Deutscher Bundestag
Erschienen am 22. März 2007
BARBARA HöLL (DIE LINKE.),
Jahrgang 1957, war bereits von 1990 bis 2002 Mitglied des Deutschen
Bundestages und ist seit 2005 wieder Abgeordnete. Die promovierte
Diplom-Philosophin ist ordentliches Mitglied im
Finanzausschuss.
E-Mail:
barbara.hoell@bundestag.de
Webseite:
www.barbara-hoell.de
RALF BRAUKSIEPE (CDU/CSU),
Jahrgang 1967, ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages.
Der promovierte ökonom ist ordentliches Mitglied im Ausschuss
für Arbeit und Soziales.
E-Mail:
ralf.brauksiepe@bundestag.de
Webseite:
www.ralf-brauksiepe.de
Redaktion: blickpunkt@media-consulta.com
Die TV-Aufzeichnung dieses Streitgesprächs kann im Web-TV des Bundestages angesehen werden: www.bundestag.de/live/tv