Elf Abgeordnete des Deutschen Bundestages hatten in den vergangenen 15 Wahlperioden das Amt des Bundestagspräsidenten inne. Neun Männer und zwei Frauen standen seit 1949 an der Spitze des deutschen Parlaments und bekleideten damit die Position des protokollarisch zweithöchsten Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland. Alle Bundestagspräsidenten haben sich dem Amt und der Geschäftsordnung gemäß als Vertreter des gesamten Parlaments betrachtet, obwohl sie während ihrer Amtszeit Parteipolitiker und aktive Mitglieder ihrer Fraktion blieben. Das Wort des Parlamentspräsidenten hatte und hat in der Öffentlichkeit Gewicht, gerade bei Grundfragen der politischen Kultur gaben sie viele wichtige Impulse. Hinter den Kulissen verbesserten und stärkten sie mit Reforminitiativen die parlamentarische Arbeit. Und schließlich prägten alle Präsidenten des Bundestages kraft ihrer Persönlichkeit die Debatten und Ereignisse im und um das Parlament mit ihrem eigenen, ganz unverwechselbaren Stil.
Erich Köhler (CDU/CSU)
7.9.1949 bis 18.10.1950
Erster Präsident des Deutschen Bundestages ist Erich Köhler. Der Plenarsaal des neuen Parlaments in Bonn ist gerade fertiggestellt, als der gebürtige Erfurter und Mitbegründer der CDU in Hessen am 7. September 1949 mit 346 von 402 Stimmen zum Bundestagspräsidenten gewählt wird. Die Präsidentschaft Köhlers, der zuvor Präsident des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes war, wird von Anfang an von seinem Gesundheitszustand überschattet, der ihn schon nach einem Jahr zum Amtsverzicht zwingt. Gegenüber den prägenden Persönlichkeiten der ersten Wahlperiode — Adenauer, Schumacher, Heuss — kann Köhler so nur schwerlich Statur gewinnen. Köhler stirbt 1958 im Alter von 66 Jahren.
Hermann Ehlers (CDU/CSU)
19.10.1950 bis 29.10.1954
Der Sohn eines Berliner Postbeamten war Mitglied der christlichen Jugendbewegung, studierte Jura und trat in der NS-Zeit der Bekennenden Kirche bei. Mit seiner ruhigen, aber straffen Amtsführung gewinnt die Bundestagsarbeit neues Profil, Form und Maß. Ehlers sucht besonders das Gespräch mit jungen Menschen, um ihnen das Wesen der parlamentarischen Demokratie nahezubringen. „Es ist unsere Aufgabe, daran mitzuwirken, dass eine andere innere Verbindung von Volk und Parlament wächst“, sagt er bei seiner Wiederwahl am 6. Oktober 1953. Ein Jahr später stirbt Ehlers 50-jährig völlig überraschend an den Folgen einer Mandelvereiterung.
Eugen Gerstenmaier
(CDU/CSU)
16.11.1954 bis 31.1.1969
Mit seiner 14-jährigen Amtszeit über vier Legislaturperioden ist der evangelische CDU-Politiker und promovierte Theologe der Rekordhalter unter den Bundestagspräsidenten. Der entschiedene Gegner der Nationalsozialisten — nach seiner Beteiligung am Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 wird er zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt — entwickelt sich zu einem äußerst selbstbewussten Bundestagspräsidenten. Mit mehreren Reformvorschlägen erhöht er Wirkung und Eigenständigkeit des Parlaments. Das neue Abgeordnetenhochhaus nennt der Volksmund zu Ehren seines Förderers „Langer Eugen“. Später gerichtlich als haltlos erwiesene Vorwürfe gegen das Verfahren und die Höhe seiner Wiedergutmachungsleistung für die Behinderung seiner Lehrtätigkeit durch die Nationalsozialisten veranlassten ihn 1969 zum Rücktritt. Gerstenmaier stirbt 1986 mit 79 Jahren.
Kai-Uwe von Hassel
(CDU/CSU)
5.2.1969 bis 13.12.1972
Der frühere schleswig-holsteinische Ministerpräsident und Bundesverteidigungsminister — geboren wurde er als Sohn eines Pflanzers im heutigen Tansania — ist Parlamentspräsident in einer Umbruchzeit: Er amtiert im letzten Jahr der Großen Koalition (Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger), danach während der sozial-liberalen Koalition von Kanzler Willy Brandt. Die neue Ostpolitik und das Misstrauensvotum gegen Brandt fallen in seine Amtszeit. Nüchtern und trocken bändigt „Nordlicht“ von Hassel die bisweilen hochschlagenden Wogen. Intern setzt er eine Parlamentsreform durch. Auch die „Verhaltensregeln für Abgeordnete“ werden unter seiner Präsidentschaft erlassen. Von Hassel stirbt 84-jährig 1997.
Annemarie Renger (SPD)
13.12.1972 bis 14.12.1976
Eine doppelte Premiere: Die SPD wird nach dem Wahlsieg 1972 stärkste Fraktion und Annemarie Renger als erste Frau zur Bundestagspräsidentin gewählt. Charmant, aber resolut steuert die Sozialdemokratin vier Jahre lang die Arbeit des Bundestages — für einige Abgeordnete zunächst ungewohnt, aber rasch akzeptiert und anerkannt. Den Weg in die Politik wies der gebürtigen Leipzigerin Kurt Schumacher, erster Vorsitzender der SPD nach dem Krieg. Nach Schumachers Tod, 1952, beginnt mit dem Einzug in den Bundestag 1953 ihre eigene Karriere. An der Spitze des Bundestages widmet sich Annemarie Renger insbesondere einigen längst überfälligen Parlamentsreformen.
Karl Carstens (CDU/CSU)
14.12.1976 bis 31.5.1979
Er ist mit Leib und Seele Professor für Staatsrecht. Aber die eigentliche Karriere macht Karl Carstens in der Politik: Staatssekretär im Auswärtigen Amt und im Bundesverteidigungsministerium, Chef des Kanzleramtes, Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Im 8. Deutschen Bundestag steigt der gebürtige Bremer mit seiner Wahl zum Bundestagspräsidenten zum zweiten Mann im Staate auf. Rasch nimmt der Jurist die Reformbemühungen um die Geschäftsordnung des Bundestages auf. Doch bald ertönt ein neuer Ruf: Am 1. Juni 1979 wird Carstens mit der Wahl zum Bundespräsidenten erster Mann im Staate. Er bleibt es bis 1984. Karl Carstens stirbt 1992 im Alter von 77 Jahren.
Richard Stücklen
(CDU/CSU)
31.5.1979 bis 29.3.1983
Richard Stücklen ist ein Mann der ersten Stunde — er sitzt seit 1949 für die CDU/CSU im Deutschen Bundestag. Ein erfahrener Parlamentarier nimmt also Ende Mai 1979 auf dem Präsidentenstuhl Platz. Die Zeiten sind brisant: Terrorismus, Massenproteste gegen Nachrüstung, Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt und die „Wende“ zu Kanzler Helmut Kohl. Der Franke Richard Stücklen — gelernter Elektrotechniker und begeisterter Skatspieler — amtiert mit Würde und Humor. Nach seiner Zeit als Bundespostminister (dort führt er die Postleitzahlen ein) ist das hohe Amt des Parlamentspräsidenten ganz nach seinem Geschmack. Die CSU stellt mit Stücklen zum ersten Mal den Präsidenten. Stücklen stirbt 86-jährig im Jahr 2002.
Rainer Barzel (CDU/CSU)
29.3.1983 bis 25.10.1984
Rainer Barzel hat bereits eine große politische Karriere hinter sich — Bundesminister, Fraktionsvorsitzender, Parteichef, Kanzlerkandidat —, als er nach der vorgezogenen Bundestagswahl 1983 zum Bundestagspräsidenten gewählt wird. Mit Elan tritt er das Amt an. Dank seiner Initiative debattiert der Bundestag 1984 sechs Stunden lang über das Selbstverständnis der Abgeordneten und über die Arbeitsweise des Bundestages — eine Sternstunde des Parlaments. Doch nach einer Vernehmung vor dem Flick-Untersuchungsausschuss stellt Barzel sein Amt zur Verfügung. Sein Nachfolger Jenninger gibt später eine Ehrenerklärung für Barzel ab: Vorwürfe gegen ihn seien nicht zu erheben. 2006 stirbt Barzel im Alter von 82 Jahren.
Philipp Jenninger (CDU/CSU)
5.11.1984 bis 11.11.1988
Der Mann mit der sonoren Stimme ist ein Weggefährte von Helmut Kohl. Er dient ihm erst als Parlamentarischer Geschäftsführer, ab Oktober 1982 als Staatsminister im Bundeskanzleramt. Als Bundestagspräsident treibt Philipp Jenninger die Parlamentsreform mit dem Ziel voran, die parlamentarische Arbeit lebendiger zu machen. Viel Respekt erhält er 1986 für eine Reise des Bundestagspräsidiums nach Israel. Umso tragischer für Jenninger ist die Wirkung seiner unglücklich vorgetragenen Rede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November 1988 im Bundestag. Mit dem Bedauern, Gefühle verletzt zu haben, tritt Jenninger zurück.
Rita Süssmuth
(CDU/CSU)
25.11.1988 bis 26.10.1998
Zehn Jahre lang prägt Rita Süssmuth das Parlamentsgeschehen maßgeblich mit — nicht immer zur Freude ihres ursprünglichen Förderers Helmut Kohl, der die Erziehungswissenschaftlerin 1985 als Frauen-, Jugend- und Gesundheitsministerin in sein Kabinett geholt hat. Rita Süssmuth versteht den Bundestag als „Werkstatt der Demokratie“, die stetiger Kreativität und Förderung bedarf. In ihre Amtszeit fallen historische Ereignisse und Entscheidungen: der Fall der Mauer und die deutsche Einheit, der Beschluss zum Umzug nach Berlin, die Verhüllung des Reichstagsgebäudes durch Christo und der Neubau des Parlamentsviertels in Berlin. Engagiert begleitet und fördert Rita Süssmuth diesen Umbruchprozess.
Wolfgang Thierse (SPD)
26.10.1998 bis 18.10.2005
Mit Wolfgang Thierse wird zum zweiten Mal ein SPD- und zum ersten Mal ein ostdeutscher Abgeordneter zum Bundestagspräsidenten gewählt. Eine symbolische Wahl, denn in der Person des Berliner Kulturwissenschaftlers verkörpert sich sprachmächtig der Anspruch des Parlaments, nun von Berlin aus für das ganze Deutschland zu wirken. Thierse sagt es in seiner Antrittsrede so: “Die Verlegung des Parlamentssitzes nach Berlin, wo sich das Parlaments- und Regierungsviertel über die ehemalige Sektorengrenze, über die ehemalige Mauer, dieses absurde und tödliche Monument der Teilung, hinweg wie eine Klammer spannen lässt, ist ein Teil der Verwirklichung des Wunsches von Willy Brandt: Dass zusammenwächst, was zusammengehört.“
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Fotos: Deutscher Bundestag
Erschienen am 31. Januar 2007