Während in Moskau Michail Gorbatschow ab Mitte der 1980er-Jahre mit Glasnost und Perestroika von sich Reden macht, soll in der DDR alles beim Alten bleiben. Nur weil der Nachbar tapeziere, müsse man das nicht auch tun – das ist die Haltung der SED-Führung. Doch im Land beginnen Menschen ihren Unmut zu äußern, sie diskutieren in Kirchen, demonstrieren und halten Mahnwachen. Es ist der Probelauf für das, was 1989 folgt.
Als Jurastudent an der Moskauer Lomonossow-Universität erhält Michail Gorbatschow eine Postkarte seines Prager Freundes Zdenek Mlynar. Der Polizeichef persönlich, nicht der Briefträger, bringt ihm die verdächtige Karte aufs Feld zum Mähdrescher, wo Gorbatschow bei der Ernte hilft. „Alles aus dem Ausland erhält man nur über die Miliz”, erzählt er lachend seinem tschechischen Freund. Viele Jahre später publiziert Mlynar, der 1968 ein führender Kopf im „Prager Frühling” war, diese Anekdote. Es ist das Jahr 1985, Gorbatschow ist mit 54 Jahren nach der Altherrenriege der Vorgänger KPdSU-Generalsekretär geworden. Zur neuen Nummer eins der Sowjetunion heißt es, er halte sich an Hegel: Die Wahrheit ist immer konkret.
Zwischen Weimar und Wladiwostok können das allerdings nur Privilegierte lesen. Ahnen sie, dass die Politik des Neuen in Moskau ihre Macht beenden wird? Nicht die DDR, andere greifen vorsichtig Gorbatschows Reformkurs auf: Ungarn, für DDR-Menschen „fröhlichste Baracke des sozialistischen Lagers”, Polen, das 1981/82 mit der Gewerkschaft „Solidarność” Schritte Richtung Freiheit machte, die das Militär beendete, die Tschechoslowakei, die im „Prager Frühling” 1968 einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz” unter Alexander Dubček probte und in der sich nun Václav Havel, Petr Uhl und andere von der Charta 77 kräftiger regen. Bulgarien, Rumänien und die DDR lassen alles beim Alten.
Gorbatschow macht mit Glasnost und Perestroika von sich Reden und meint es offenkundig ernst. Er sagt unerhörte Sätze: „Wir brauchen Demokratie wie die Luft zum Atmen.” Er geht zur Breschnew-Doktrin auf Distanz und erlaubt so jedem Land den eigenen Weg. Die Probleme der DDR mit Gorbatschow offenbart SED-Chefideologe Kurt Hager im „stern”-Interview, Nachdruck in der DDR-Presse: „Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?” Da spottet der Volksmund: „Tapetenkutte”.
Im Spätsommer 1987 will der erste Mann der DDR, Erich Honecker, an den Rhein fahren. Das deutsch-deutsche Netzwerk ist mit dem Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, der 1973 in Kraft trat, immer enger geworden. Als Morgengabe erlaubt die DDR erstmals einen Friedensmarsch, vorbereitet von offiziellen Stellen; Leute kirchlicher Gruppen können mit eigenen Plakaten mitmachen. Das ist neu, überall sieht man fröhliche Gesichter. Zwischen mehreren Kirchen in Berlin organisieren Gruppen Schweigemärsche; Kerzen in der Hand gehen die Menschen von Kirche zu Kirche, leise singend „Die Gedanken sind frei”.
Angesichts des Ringens der DDR um staatliche Anerkennung ist Honeckers Besuch im deutschen Westen ein Höhepunkt seiner Laufbahn. Mit Kanzler Helmut Kohl schreitet er eine Ehrenformation der Bundeswehr ab. Im Saarland, seiner Heimat, überrascht er mit den Worten, er könne sich die Grenze durch Deutschland so vorstellen wie die zwischen der DDR und Polen: ein Hoffnungsschimmer, denn dort wird nicht geschossen. Schüsse auf Flüchtlinge werden mehr und mehr zur schweren Hypothek der DDR im KSZE-Prozess, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Sie zeigen immer wieder das hässliche Gesicht der Diktatur.
Nach Honeckers Westvisite stürmen im November Stasileute die Umweltbibliothek, einen Treffpunkt Oppositioneller in der Berliner Zionskirche. Sie haben Hinweise, dort werde die Untergrundzeitung „Grenzfall” gedruckt. Doch der Druck verzögert sich. Die Aktion „Falle” der Staatssicherheit wird ein Schlag ins Wasser. Tausende Teilnehmer an Mahnwachen in Ostberlins Kirchen erzwingen die Freilassung der Verhafteten.
Zu Zusammenstößen zwischen Opposition und Staatsmacht kommt es im Januar 1988 in Berlin. Oppositionelle gedenken mit dem Zitat „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden” der 1919 ermordeten Kommunistin Rosa Luxemburg. Als sie sich in den offiziellen Marsch aus Anlass ihres Todestages einreihen wollen – vorneweg die Führung der DDR –, werden mehrere Akteure festgenommen. Mahnwachen in Kirchen nützen kaum. Einige Inhaftierte lassen sich unter Drohung jahrelanger Freiheitsstrafen in den deutschen Westen oder nach England abschieben. Bärbel Bohley und andere bestehen auf Rückkehr. In den Gruppen bricht Streit aus: Hätten die Weggegangenen nicht im Gefängnis ausharren müssen? Für DDR-Normalbürger sieht die Sache anders aus. Da tun die Oppositionellen Verbotenes und dürfen zur Belohnung in den verbotenen Westen.
Immer wichtiger wird die Rolle der evangelischen Kirche. Zu Beginn der 80er-Jahre überlässt sie das Thema Frieden nicht länger der staatlichen Propaganda. Im Jahreszyklus entstehen Veranstaltungen dazu: in Dresden im Februar ein Gedenkgottesdienst zur Erinnerung an die Bombennacht 1945, in Berlin im Juni die „Friedenswerkstatt” und in der ganzen DDR im November die „Friedensdekade” – Treffen, bei denen das Symbol „Schwerter zu Pflugscharen” im Mittelpunkt steht und Andersdenkende Freiheit und Demokratie einüben – in der einzigen Institution, die nach parlamentarischen Regeln handelt. Die „Friedenswerkstatt”, von Friedens- und Umweltgruppen organisiert, kann man zu Recht „Freiheitswerkstatt” nennen.
Im sächsischen Görlitz diskutiert das Kirchenparlament die „Absage an das Prinzip der Abgrenzung”. Erfurts Propst Heino Falcke: „Die Mauer macht die Menschen krank.” Derweil nehmen die Gruppen Moskauer Signale auf und trauen sich allmählich, den Schutzraum Kirche zu verlassen, wie die „Initiative Frieden und Menschenrecht”. Die Verhaftungen im Januar ärgern die Vikare Stephan Bickhardt und Reinhard Lampe so sehr, dass sie mit dem Aufruf „Neues Handeln” dazu auffordern, bei den Kommunalwahlen 1989 unabhängige Kandidaten aufzustellen und die Wahlergebnisse zu kontrollieren. Im Februar beginnt die Ökumenische Versammlung „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung” der christlichen Kirchen, die Missstände aufzeigt, vom im Verborgenen blühenden Rassismus bis zu Ärgernissen und Drangsalierungen der Diktatur.
Die DDR-Mächtigen gehen währenddessen immer mehr auf Distanz zu Gorbatschow und seinem Reformkurs; aus Entfremdung wird Ablehnung. Die gelenkte DDR-Presse druckt gern abweichende Meinungen zu ihm. Der „Sputnik”, eine sowjetische Zeitschrift mit Kritik am Stalinismus, wird in der DDR verboten. Das sowjetische Kulturhaus im Ostteil Berlins zeigt den stalinkritischen Film „Die Reue” – die DDR kontrolliert Besucher. Jahrelange Litaneien wie „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen” sind im Herbst 1988 überholt. Die SED stürzt sich in den verbalen Zweifrontenkrieg: gegen den Klassenfeind im Westen und gegen die sowjetische Vormacht, das verschreckt Anhänger und Sympathisanten.
Demonstrationen und Mahnwachen sind der Probelauf für das, was 1989 folgt. Immer mehr beteiligen sich die Kirchen an der politischen Diskussion. Der Boden ist bereitet. Die einen kommen mit Kerzen, versammeln sich in Kirchen, die anderen zeigen die Muskeln. Dass Kerzen der DDR das Ende bereiten werden, kann sich Ende 1988 kaum jemand vorstellen.
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Chronik
„Der Anfang vom Ende der DDR: Die Jahre 1985-1990”
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Text: Karl-Heinz Baum
Erschienen am 2. Oktober
2009