Am 23. Dezember 2008 feierte der Sozialdemokrat und ehemalige Kanzler Helmut Schmidt – nach wiederholten Umfragen der mit Abstand populärste Politiker der Republik – seinen 90. Geburtstag. Noch immer macht der Elder Statesman und nimmermüde Publizist mit bemerkenswerten Berichten zur Lage des Landes und der Welt von sich reden. Der Deutsche Bundestag verdankt dem Hanseaten zahlreiche Sternstunden.
Unter den Geschichten, an die sich der Altkanzler Hel mut Schmidt gern erinnert, wenn er auf seine Anfänge als Volksvertreter zurückblickt, scheint ihm eine besonders zu gefallen: Sie handelt davon, wie der 1953 ins Parlament eingerückte junge Volkswirt seinen klapprigen VW durch ein einigermaßen standesgemäßes Gefährt ersetzt. Er finanziert das Traumauto – einen gebrauchten Mercedes Diesel 170 –, indem er sich ein für seine damaligen Verhältnisse „furchterregend hohes Darlehen” von 5.000 Mark besorgt.
Dass es ihm anschließend locker gelingt, den Personalkredit über die gewährten Kilometergelder abzustottern, hält der später gerühmte „Weltökonom” noch mehr als ein halbes Jahrhundert danach für ziemlich clever – aber das ist nicht der Kern der Story. In der Hauptsache geht es dem in acht Legislaturperioden dem Deutschen Bundestag angehörenden Sozialdemokraten darum, seinem Ein stieg als Parlamentarier einen möglichst unpathetischen Anstrich zu verpassen. Er sei da „im Grunde nur reingerutscht”, beharrt er ein um das andere Mal demonstrativ lapidar, und habe das erste Mandat „praktisch probehalber” übernommen.
Doch das ändert sich seinerzeit rasch. „Der res publica zu dienen”, packt den Sohn eines Hamburger Schulleiters und ehemaligen Oberleutnant schon bald „mit Haut und Haaren” – und bereits in den von Konrad Adenauer und der Union dominierten Fünfzigern können ihm bloß wenige Kollegen das Wasser reichen. „Schmidt-Schnauze”, wie ihn bürgerlich-liberale Abgeordnete seines manch mal ungestümen Temperaments wegen taufen, erweist sich in ungezählten Redeschlachten als Vollblutpolitiker. Seine Duelle mit Franz Josef Strauß um eine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik gelten im Plenum als Sternstunden.
In seinen eigenen Reihen, in denen bis in die 60er-Jahre hinein noch Granden den Ton angeben, die wie Kurt Schumacher oder Erich Ollenhauer in der Weimarer Republik sozialisiert worden sind, gehört der Verkehrs-, Militär- und Wirtschaftsexperte von Anfang an zu den Modernisierern. Er schreibt am Godesberger Programm mit und stützt neben Herbert Wehner sowohl sein Vorbild Fritz Erler als auch den neuen Hoffnungsträger Willy Brandt. Mit dem Aufkommen der außerparlamentarischen Opposition allerdings bilden sich in der zunächst sorgsam gepflegten Beziehung zwischen den beiden späteren SPD-Kanzlern nie mehr ganz zu kittende Risse.
Während es dem Vorsitzenden in erster Linie um die Einheit der Sozialdemokratie geht, sieht der im Gefolge der Großen Koalition zum Chef der Fraktion aufgestiegene Schmidt in den Revoluzzern und akademischen Neomarxisten „potenziell diktaturverdächtige” Systemveränderer. Dass Brandt solchen gefährlichen Querköpfen angeblich Tor und Tür öffnet – und der spätere Linksrutsch die SPD schließlich die Macht kostet –, mag er ihm nicht verzeihen. „Auch Demokratie braucht Führer”, ruft er dem Parteifreund wütend hinterher.
Dass er in der heißen Umbruchphase der Bonner Republik im Bündnis mit den christlichen Parteien die „parlamentarische Klammerfunktion” übernehmen darf, bezeichnet der ehrgeizige Workaholic aus Hamburg gleichwohl als die „schönste Zeit” seines politischen Lebens. Der von ihm ursprünglich verfolgte Plan, nach angelsächsischem Muster das Mehrheitswahlrecht zu beschließen, verflüchtigt sich zwar. Aber mit seinem Pendant Rainer Barzel paukt er die heftig umstrittenen Notstandsgesetze durch, und die erstaunlich gut aufeinander abgestimmten „coalition brothers” halten auch sonst allen Anfeindungen zum Trotz „den Laden” zusammen.
Kann es da verwundern, wenn sich schon auf dieser Etappe der Schmidt’schen Karriere eine Sichtweise einzuschleichen beginnt, die sich dann in den achteinhalb Jahren seiner Kanzlerschaft fast zum geflügelten Wort auswächst? Er sei „der richtige Mann in der falschen Partei”, urteilt ein nicht geringer Teil vornehmlich konservativ-liberal gesonnener Bürger – und der für Schmeicheleien empfängliche Regierungschef korrigiert diesen Spruch nur verhalten. Das Lob sei „ein büsch’n vergiftet”, grantelt er leise im typischen hanseatischen Tonfall, doch darüber zu klagen, kommt ihm nicht in den Sinn. Zumindest fühlt er sich von jenen verstanden, die ihm eine „überparteiliche Vernunft” attestieren.
Denn natürlich will Schmidt „nie nur ein Kanzler der SPD, sondern immer aller Deutschen sein” – eine Maxime, die sich von Anbeginn aus seiner philosophischen „Hausapotheke” ergibt. Das Etikett des reinen „Machers” empfindet der schneidige Krisenmanager, der seinen Sozialismus laut Herbert Wehner „im Offizierskasino” erlernt und sich unkonventionell einer verheerenden Sturmflut wie danach der Ölkrise und dem Terrorismus widersetzt hat, stets als kränkend. Im Spannungsfeld von Gesinnungs- und Verantwortungsethik baut er deshalb wie einst Max Weber auf einen an Rechten und Pflichten orientierten Wertekatalog. Bereits in der Zeit seines Zwischenspiels als Hamburger Innensenator erläutert der „preußische Hanseat” vor Studenten, „dass die Geschichte ein dialektischer Prozess sein mag”, aber letztlich von Menschen bestimmt wird. Und in einem Essay unter dem Titel „Sozialdemokratie und kritischer Rationalismus” präzisiert er diesen Ansatz: „Politik”, predigt Schmidt den Marxisten, die ihn immer wieder der schnöden „Durchwurstelei” bezichtigen, „ist pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken.”
Ein Leben lang reicht ihm dazu im Wesentlichen die Verfassung der Republik – und in diesem Rahmen nicht zuletzt das Prinzip der Gewaltenteilung. Als er die Fraktion übernimmt (die er während der Ära Brandts gern weiter geführt hätte, statt als Verteidigungsminister „abkommandiert” zu werden), pocht er prompt auf „klare Kante”. Die Legislative ist für ihn in der „Firma Deutschland” der „Aufsichtsrat”.
Bei allem Streit, in dem er sich auf den Feldern etwa der friedlichen Nutzung der Kernenergie oder der NATO-Nachrüstung mit der SPD entzweit, lässt auch der Kanzler Schmidt an diesem Selbstverständnis keinen Zweifel. Selbst als 90-jähriger, etwa dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr kritisch gegenüberstehender Autor der „Zeit” mahnt der Elder Statesman eine „angemessene parlamentarische Befassung” mit dem heiklen Thema an.
Text: Hans-Joachim Noack
Erschienen am 25. Februar 2009