UN-MILLENNIUMSZIELE
Sie sollen bis 2015 Milliarden Menschen eine bessere Zukunft bringen. Die Zwischenbilanz ist gemischt
Anfang September ist neunjähriges Jubiläum. Auf ihrem Gipfel im September 2000 beschloss die UN-Vollversammlung in New York die "Millennium Declaration". Darin erklärten die Mitgliedstaaten ihre Absicht, "alle Männer, Frauen und Kinder von den elenden und inhumanen Bedingungen extremer Armut zu befreien". Ein Jahr später einigten sich 192 Staaten auf jene Erklärung konkretisierende acht Millenniumsziele - in Fachkreisen als MDGs abgekürzt -, die bis 2015 erreicht sein sollten.
Das diesjährige Jubiläum bietet wenig Grund zum Feiern. Denn trotz einiger Fortschritte in einzelnen Ländern und bei einzelnen Zielen (siehe Text rechts) sind sich Entwicklungsexperten diverser akademischer Institutionen, der UN, der Weltbank und vieler Nichtregierungsorganisationen einig: Die Zwischenbilanz der MDGs lautet weitgehend "Nicht im Soll". Wenn sich nicht einiges ändert, werden die Ziele wohl nicht annähernd erreicht werden können. Der Zwischenbericht der Vereinten Nationen für 2009 etwa prognostiziert, dass Ende diesen Jahres 90 Millionen Menschen mehr in extremer Armut leben werden als zu Beginn der weltweiten Wirtschaftskrise. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon machte in einer Rede am 6. Juli zudem den Klimawandel und die gestiegenen Nahrungsmittelpreise dafür verantwortlich, dass "erstmals in fast 20 Jahren der Trend zu weniger Hunger in der Welt wieder umgekehrt wurde."
John McArthur, Chef von "Millennium Promise", der weltweit größten Nichtregierungsorganisation, die sich ausschließlich den MDGs verschrieben hat, kann sich minutenlang darüber aufregen, dass viele reiche Länder, "auch Deutschland", ihre von höchster Regierungsseite gemachten finanziellen Zusagen bisher nicht eingehalten haben. Die Millenniumsziele hätten jedoch gerade angesichts der Schwierigkeiten "ein bemerkenswertes Durchhaltevermögen" gezeigt. Sie seien etwa "extrem hilfreich, in der Öffentlichkeit ein Verständnis für die einzelnen Probleme, aber auch ihre Verbindungen untereinander zu wecken", sagt McArthur. Zudem seien sie konkret genug, um Fort- oder Rückschritt weltweit und in einzelnen Ländern und Regionen genau messen zu können.
Genau das allerdings ist derzeit Anlass zu teilweise harscher Kritik an von den MDGs inspirierter Entwicklungspolitik. Denn vor allem Afrika südlich der Sahara erscheint in sämtlichen Zwischenbilanzen als das große Sorgenkind. Eine im Februar publizierte Studie des bedeutenden US-amerikanischen Thinktanks Brookings Institut etwa kritisiert dieses Bilanzieren und Vergleichen als kontraproduktiv. "Wir haben diese MDG-Maschine, die gute Nachrichten aus Afrika zu schlechten Nachrichten aus Afrika macht", sagt der Hauptautor der Studie, William Easterly von der New York University. Tatsächlich würde ganz Afrika ein jährliches nachhaltiges Wirtschaftswachstum von sieben Prozent, also absolutes Weltspitzeniveau, brauchen, um die Millenniumsziele zu erreichen.
Die Psychologie von Motivation und Frustration angesichts der Millenniumsziel-Zwischenbilanzen spielt tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Rolle. Oft aber auch eine positive. In vielen armen Ländern gehören die Ziele mittlerweile zum aktiven Wortschatz in der öffentlichen Diskussion. Schlagzeilen wie "Fiji vorn bei MDGs im Pazifikraum" in den Fiji Daily Post News oder "Haushaltsmittel für Gesundheit und Bildung deutlich weniger als in MDG-Vorgaben" in einer pakistanischen Tageszeitung sind Beispiele dafür, dass sie nicht nur von Theoretikern im UN-Hauptquartier diskutiert werden. In Sambia provozierte kürzlich der Sozialwissenschaftler Rozious Siatwambo mit der These, sein Land werde das Bildungsziel für 2015 nicht erreichen, weil "wir hierzulande keine Lust haben, in Bildung zu investieren".
Die konkreten MDGs dienen dort, wo es funktionierende Regierungen gibt, gelegentlich auch zur Rechtfertigung für mehr oder minder drastische Maßnahmen. Auf den Philippinen etwa hat Präsidentin Gloria Arroyo Ende Juli per Dekret verfügt, dass fünf wichtige Medikamente ab September nur noch halb so viel wie bisher kosten dürfen. Teil ihrer offiziellen Begründung: Ihr Land soll die Millenniumsziele erreichen.
Dass "good governance", also gute Regierungsführung, helfen kann, Entwicklungsziele zu erreichen, darüber sind sich Entwicklungsexperten einig. Doch während etwa Dambisa Moyo, Autorin des die gesamte Entwicklungspolitik der vergangenen 60 Jahre als verfehlt anprangernden Buches "Dead Aid", am liebsten alles dem Markt überlassen will, verweist der weltweit wohl bekannteste und einflussreichste Entwicklungsökonom Jeffrey Sachs von der Columbia University auf dem widersprechende Fakten: Die Länder mit den größten Fortschritten, wie etwa Ghana oder Ruanda, seien auch jene mit den höchsten Pro-Kopf-Zuwendungen der internationalen Gemeinschaft. Oder, wie UN-Generalsekretär Ban Ki-moon anlässlich des ernüchternden Zwischenberichts für 2009 sagte: "Die richtigen Strategien, abgesichert durch angemessene Finanzierung und ein starkes Engagement der Politik, können eindrucksvolle Resultate bringen."
Wie effektiv Hilfe für die Landwirtschaft sein kann, zeigt das Beispiel Malawi. Aus dem einstigen Armenhaus Afrikas ist innerhalb von drei Jahren ein Nahrungsmittelexporteur geworden, weil zwei Millionen Farmern mit Düngemittel und Saatgut geholfen wurde.
Doch sollte man sich angesichts der gemischten Zwischenbilanz nicht schon jetzt Gedanken darüber machen, wie es nach 2015 weitergehen soll? "Das geschieht bereits, und es wird sicher einen modifizierten Ansatz geben, der sich daran orientiert, was funktioniert und was nicht", sagt John McArthur. Zunächst lägen "erst einmal noch sechs Jahre vor uns, und die werden beeindruckende Fortschritte bringen, wenn nur die reichen Länder ihre auf dem G8-Armutsgipfel in Gleneagles 2005 und anderswo gemachten verbindlichen finanziellen Zusagen einhalten werden". Auch die 20 Milliarden Dollar zum Aufbau einer nachhaltigen Nahrungsmittelproduktion in armen Ländern, die nach dem G8-Gipfel in L'Aquila versprochen wurden, könnten einen entscheidenden Schritt bedeuten - aber nur, wenn das Geld auch wirklich fließt.
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.