Öffentliche Anhörung des Gesundheitsausschusses
Die Reform der Pflegeversicherung stand am Mittwoch, dem 23.
Januar 2008, in zwei öffentlichen Anhörungen des
Gesundheitsausschusses zur Debatte. Sachverständige aus dem
Gesundheits-, Sozial- und Pflegewesen diskutierten über die
Themen Finanzierung, Private Krankenversicherungen und
berufsrechtliche Fragestellungen. Um die Themenblöcke
Qualitätssicherung in der Pflege und Pflegestützpunkte
war es bereits in zwei Anhörungen am Montag, dem 21. Januar
2008, gegangen (Zusammenfassungen:
siehe unten).
Die 1995 eingeführte Pflegeversicherung soll nach Willen der Bundesregierung besser auf die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen zugeschnitten werden. Im Oktober 2007 hat sie einen Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Pflegeversicherung verabschiedet, der unter anderem die Schaffung von Pflegestützpunkten und eine Anhebung des Beitragssatzes um 0,25 Prozentpunkte vorsieht.
Die Pläne der Bundesregierung zur Qualitätsverbesserung in der Pflege stoßen bei Experten auf viel Zustimmung. Zum Auftakt der insgesamt elfstündigen Anhörungen zur Pflegereform betonte Peter Pick, Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS), es sei richtig, dass die Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) Pflegeeinrichtungen künftig spätestens alle drei Jahre prüfen sollen. Die jetzige Prüffrequenz liege bei etwa 20 Prozent und würde mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ( 16/7439) auf rund 30 Prozent angehoben. Ebenso wichtig sei es, so Pick weiter, die Prüfberichte für Laien verständlich zu veröffentlichen. Damit werde die Transparenz über die Qualität der Pflege geschaffen. Pflegebedürftige und Angehörige erhielten endlich die Möglichkeit, sich umfassend zu informieren, sagte Pick. Er forderte, dass es bundeseinheitliche Kriterien für die Veröffentlichung geben müsse.
Insgesamt nahmen in der ersten Runde der Anhörungen 66 Verbände und fünf Einzelsachverständige Stellung zu dem Regierungsentwurf sowie zu den Vorlagen der Oppositionsfraktionen ( 16/7491, 16/7472, 16/7136). Auch der Bundesverband der kommunalen Senioren- und Behinderteneinrichtungen (BKSB) begrüßte die vorgesehenen regelmäßigen und unangekündigten Prüfungen von Pflegeeinrichtungen und -diensten. Gleichwohl sollten "Einrichtungen, die nicht so gut sind, öfter geprüft werden", sagte BKSB-Referentin Sabine Mattes. Dieter Lang von der Verbraucherzentrale Bundesverband fügte hinzu, bei den Prüfungen müsse die Lebensqualität der Betreuten ein höherer Stellenwert eingeräumt werden.
Elke Bartz vom Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen verlangte, die Bewohner von Pflegeheimen müssten sehr viel besser in die Prüfung einbezogen werden. Nachbesserungsbedarf gibt es nach Auffassung des Medizinischen Dienstes bei der Regelung, dass Pflegeeinrichtungen die Regelprüfung durch von ihnen in Auftrag gegebene Prüfzertifikate lockern können. Pick sagte, Zertifizierungen seien ein Instrument des internen Qualitätsmanagements und könnten keinesfalls die externe Kontrolle durch unabhängige Prüfinstitutionen wie den MDK ersetzen.
Auch der AOK Bundesverband und der Verband der Angestellten Krankenkassen drangen in der Anhörung darauf, dass die Prüfung "neutral und unabhängig" erfolgen müsse. Kritik an dieser Regelung hatte zuvor bereits der Bundesrat in seiner Stellungnahme ( 16/7486) zur Pflegereform geäußert.
Dagegen begrüßten der Deutsche
Caritasverband und der Arbeiterwohlfahrt
Bundesverband, dass der Gesetzgeber mit der Regelung das
interne Qualitätsmanagement stärke. Die
Stichprobenüberprüfung sollte allerdings auf zehn statt
der vorgesehenen 20 Prozent der zertifizierten Einrichtungen
beschränkt werden, sagte Caritas-Referentin Elisabeth
Fix.
Die von der Bundesregierung geplante Einrichtung von Pflegestützpunkten ist nicht nur in der Koalition, sondern auch unter Experten umstritten. In der zweiten von vier Anhörungen zur geplanten Pflegereform wies der Leiter des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherung an der Universität Bonn, Professor Gregor Thüsing, am Montag auf verfassungsrechtliche Probleme hin. Es bestehe die "Gefahr der Mischverwaltung", wie sie vor wenigen Wochen vom Bundesverfassungsgericht bereits im Fall der Arbeitsgemeinschaften zur Umsetzung der Hartz-Reformen beanstandet worden sei, sagte Thüsing. Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Herbert Reichelt, betonte zwar, dass ein "individueller Rechtsanspruch auf Pflegeberatung dringend geboten" sei. Es sei aber "mehr als fraglich", ob dazu der "Aufbau völlig neuer Strukturen" sinnvoll sei. Auch sei der von der Regierung genannte Starttermin, der 1. Januar 2009, "eher unrealistisch".
Im Gesetzentwurf der Bundesregierung ( 16/7439) ist der Aufbau von rund 4.000 Pflegestützpunkten für jeweils rund 20.000 Einwohner vorgesehen. In diesen sollen sich Bürger individuell über Pflegeleistungen und -einrichtungen etc. informieren können. Während die SPD-Fraktion die Einrichtung von Pflegestützpunkten befürwortet, lehnt die Unions-Fraktion sie ab.
Die Leiterin des Sozialdezernats des Deutschen Städtetages, Verena Göppert, hob in der Anhörung hervor, die Beratung aus einer Hand sei richtig. Allerdings müssten die Verantwortlichkeiten klar geregelt sein. Die Kommunen stünden bereit, die Koordinierungsfunktion zu übernehmen. Für den AWO Bundesverband führte Mona Frommelt aus, dass es etwa in Nürnberg hervorragende Erfahrungen mit vernetzten Beratungsangeboten gebe. Diesen fehle aber noch die Durchsetzungskraft, für die der Gesetzentwurf sorge. Der Einzelsachverständige Dr. Peter Weskamp wies darauf hin, dass mit den Pflegestützpunkten erstmals eine nachhaltige und qualitative Beratung ermöglicht werde. Auch die Aktion Psychisch Kranke unterstützte den Entwurf. Gerade für Menschen, die selbst nicht gut in der Lage seien, ihre Pflege selbst zu organisieren, sei eine leistungsübergreifende Anlaufstelle mit regionalem Bezug wichtig.
Dagegen monierte Gerd Kukla vom IKK Bundesverband, die ins Auge genommene Anschubfinanzierung für die Pflegestützpunkte reiche nicht aus. Die Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, Cornelia Goesmann, sagte, die Stützpunkte würden ausschließlich der Organisation und Verwaltung von Leistungen dienen. Der eigentlichen Versorgung könnten so beträchtliche Mittel entzogen werden. Dadurch drohten den Pflegekassen finanzielle Engpässe, so Goesmann. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege warnte, die vielfach schon jetzt vorhandenen Beratungsstellen seien nicht ausreichend in die Pläne einbezogen. Doppelstrukturen müssten vermieden werden.
Als "sehr positiv" wertete die Deutsche Alzheimergesellschaft (DAlzG) die erstmalige Berücksichtigung von Demenzerkrankungen. Laut dem Entwurf erhalten Demenzkranke, psychisch Kranke und geistig behinderte Menschen künftig eine Zusatzleistung von bis zu 2.400 Euro jährlich, auch wenn für sie lediglich ein Betreuungs- und kein erheblicher Pflegebedarf nachgewiesen wird. Die DAlzG-Geschäftsführerin Sabine Jansen machte sich wie Goesmann dafür stark, von einer abgestuften Auszahlung abzusehen.
Der Gesundheitsökonom Professor Heinz Rothgang von der Universität Bremen sprach sich für eine solidarische Bürgerversicherung aus. Wenn eine Integration der solidarischen und privaten Pflegeversicherung nicht möglich sei, müsse zumindest ein Finanzausgleich zwischen beiden Systemen stattfinden. Rothgang sagte, realistisch sei ein Transfer von 1 Milliarde Euro von der privaten an die solidarische Pflegeversicherung.
Dagegen plädierte der Direktor des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht, Professor Helge Sodan, für den Aufbau eines Kapitalstocks als Demografiereserve. Dies habe im Übrigen auch der Koalitionsvertrag vorgesehen, erinnerte Sodan.
Der Freiburger Finanzwissenschaftler Professor Bernd Raffelhüschen sagte, er halte den Aufbau eines Kapitalstocks "für keine gute Idee". Raffelhüschen betonte, das Sinnvollste sei, die Pflegeversicherung auslaufen zu lassen. Für die arme Bevölkerung müsse die Pflege über Steuermittel finanziert werden. Ansonsten müsse private Vorsorge betrieben werden. "Das Vernünftigste wäre einzusehen, dass die Pflegeversicherung ein groß angelegtes Erbschaftsbewahrungsprogramm für den Mittelstand ist", sagte der Pflegeexperte und unterstützte damit den Antrag der FDP ( 16/7491).
Die langfristige Finanzierung der Pflege ist in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ( 16/7439) allerdings ohnehin weitgehend ausgespart. Dem Entwurf zufolge soll der Pflegebeitrag zum 1. Juli 2008 um 0,25 Punkte auf 1,95 Prozent für Versicherte mit und auf 2,2 Prozent für Versicherte ohne Kinder erhöht werden. Das soll zu jährlichen Mehreinnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro führen. Erstmals seit Einführung der Versicherung im Jahr 1995 sollen die Pflegesätze erhöht werden. Im ambulanten Bereich sollen die Leistungen in Pflegestufe eins bis zum Jahr 2012 schrittweise von monatlich 384 auf 450 Euro steigen, in Pflegestufe zwei von monatlich 921 auf 1.100 Euro und in der Pflegestufe drei von 1.432 auf 1.550 Euro. Bei den stationären Pflegesätzen soll die Stufe drei angehoben werden: von 1.432 auf 1.550 Euro und von 1.688 auf 1.918 Euro in Härtefällen.
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen sprechen sich in ihren Anträgen ( 16/7472, 16/7136) für eine Bürgerpflegeversicherung aus.
Für die Volkssolidarität bedauerte Alfred Spieler mit Blick auf ähnliche Überlegungen in der SPD, dass die "strukturelle Mehrheit" für eine Bürgerversicherung nicht realisiert werden könne. Rothgang verwies darauf, dass sowohl die solidarische als auch die private Pflegeversicherung obligatorisch seien und dieselben Leistungen gewährten. Aufgrund der "schlechteren Risiken" der Versicherten in der solidarischen Pflegeversicherung seien die Leistungsausgaben pro Versichertem hier aber um das Zweieinhalbfache höher als in der privaten Pflegeversicherung.
Der Verbandsdirektor der privaten Krankenversicherung,
Volker Leienbach, lehnte einen Finanzausgleich
strikt ab. Damit würde lediglich das System gestärkt, das
nicht nachhaltig und generationengerecht sei. Außerdem gebe
es erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Bei den beiden
Versicherungszweigen handele es sich um zwei Solidargemeinschaften,
die nach unterschiedlichen Prinzipien funktionierten und nicht
vermischt werden dürften.
Die Pläne der Bundesregierung, Angehörigen der Pflegeberufe die Möglichkeit zu geben, Pflegehilfsmittel und Verbandsmittel zu verordnen, sind bei Experten auf ein geteiltes Echo gestoßen. In der letzten von vier öffentlichen Anhörungen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Pflegereform ( 16/7439) am Mittwoch, dem 23. Januar 2008, unterstützte der Deutsche Pflegerat (DPR) den Vorstoß.
Ein Pfleger, der etwa chronische Wunden behandelt, müsse auch das entsprechende Verbandsmaterial auswählen können, sagte der DPR-Vizepräsident Franz Wagner. Dieses Vorgehen hatte auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen empfohlen. Bedenken gibt es bei der Bundesärztekammer (BÄK) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV).
Nach Vorstellungen der Regierung soll es unter anderem auch Modellprojekte geben, in denen die Pflegeberufe - anders als bisher - in beschränktem Umfang die Heilkunde ausüben dürfen. Der Pflegerat kritisierte, es gebe bislang eine Reihe von Versorgungsfragen, bei denen das Prinzip der Delegation eine effektive und effiziente Pflege erschwere. Es sei deshalb wichtig zu klären, ob und wie durch eine Erweiterung der Aufgaben der Pflegenden die Versorgung verbessert werden könne. International sei es üblich, dass Pflegefachkräfte auch heilkundlich tätig sein dürfen. Es könne nicht sein, dass das Grundprinzip des Arztvorbehalts höher bewertet werde als die Versorgungsqualität und -sicherheit der Betroffenen.
Die BÄK und die KBV betonten hingegen, bei der Öffnung des Arztvorbehalts in der medizinischen Versorgung handele es sich "um eine gesundheitspolitisch und gesundheitsökonomisch, vor allem medizinisch fragwürdige Entscheidung". Dafür bestehe weder eine Notwendigkeit noch werde damit der Fortbestand der Qualität der medizinischen Versorgung gesichert. Die organisierte Ärzteschaft schlägt Modellvorhaben vor, die die Delegationsmöglichkeiten von Ärzten durch Übertragung bestimmter Tätigkeiten auf medizinischeFachangestellte erproben. Außerdem müssten die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Einbindung von qualifiziertem Fachpersonal in arztentlastende und arztunterstützende Maßnahmen unter Beibehaltung der ärztlichen Auswahl- und Durchführungsverantwortung auszuweiten.