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Gültig ab: 07.11.2004 21:00
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Intolerant gegenüber Intoleranz

Bild: Richard Schröder
Richard Schröder.

von Richard Schröder

Religionsfreiheit versteht sich nicht von selbst. Bis heute kennen isoliert lebende Stämme das Problem gar nicht. Sie leben, denken, handeln selbstverständlich wie ihre Vorfahren. Erst wenn solche Selbstverständlichkeit gestört wird, durch die Begegnung mit Fremden oder durch Kritik, entsteht das Problem.

Menschliches Zusammenleben setzt immer Konsens voraus, und es ist angenehm, sich unter Gleichgesinnten zu bewegen. „Ein König, ein Gesetz, ein Glaube“, hat Ludwig XIV. gesagt. Nach der Logik der Herrschaft ist das plausibel. So haben auch die meisten Herrscher der Weltgeschichte gedacht und gehandelt. Auch das römische Kaiserreich, das doch einen beachtlichen religiösen Pluralismus tolerierte, forderte einen religiösen Minimalkonsens, die göttliche Verehrung des Kaisers. Weil die Christen das verweigerten, kam es zu den Christenverfolgungen. Aber 380 erklärte Kaiser Theodosius das (orthodoxe) Christentum zur Staatsreligion, als neuen Reichskonsens. Jetzt musste mit Verbannung rechnen, wer dem orthodoxen Christentum widersprach. Im Mittelalter wurde die Ketzerverfolgung sogar blutig. Aber so weit müssen wir gar nicht zurückblicken. Die kommunistischen Parteien wollten die „wissenschaftliche Weltanschauung“ des Marxismus-Leninismus als gesellschaftlichen Konsens durchsetzen. Unter Stalin kam es dabei zu sehr blutigen Ketzerverfolgungen.

Wenn Religionsfreiheit, erweitert zur Überzeugungsfreiheit, jener Herrschaftslogik widerspricht, wie konnte sie sich dann als Grundrecht der modernen Verfassungen durchsetzen? Ich möchte vier Stationen des langen Weges zur Religionsfreiheit benennen.

Erstens: Von Jesus stammt das Wort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Matthäus 22, 21). Darin ist die Unterscheidung von Staat und Kirche und eine Entsakralisierung des Staates angelegt.

Zweitens: Mit der Reformation kam es zur Spaltung der europäischen Christenheit und zu Religionskriegen, die, weil um die Wahrheit geführt, besonders unerbittlich waren. Da keine Seite die andere bezwingen konnte, fand man rechtliche Regelungen. Die Reichsstände gewährten sich im Westfälischen Frieden (1648) konfessionelle Duldung als das kleinere Übel. Dabei wurde wichtig, dass nach gemeinsamer christlicher Überzeugung die Vernunft genügt, um Recht zu schaffen.

Drittens: Erst mit der Aufklärung setzte sich die alte christliche, von Luther wiederholte Einsicht wirksam durch, dass der Glaube und das Gewissen keinen Zwang vertragen (non vi, sed verbo). Der Staat kann mit seinen Mitteln die religiöse Wahrheitsfrage nicht entscheiden. Er soll sich auf die vernünftige Regelung des menschlichen Zusammenlebens beschränken. Das Recht beansprucht nicht mehr, die Wahrheit zu schützen, sondern die Person, ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung.

Viertens: Und dann kam da noch eine staatspolitische Einsicht hinzu. Toleranz fördert Handel, Gewerbe und die Wissenschaft, denn Verstand und Tüchtigkeit sind nicht nach Konfessionen verteilt.

Die Religionsfreiheit ist uns selbstverständlich geworden. Trotzdem treten immer wieder Streitfälle auf. Sie sind besonders schwierig, wenn es um die Religion geht, die erst neuerdings in Deutschland verbreitet ist, den Islam. Darf eine islamische Lehrerin während des Unterrichts das Kopftuch tragen? Dieses Kopftuch ist für sie ein Symbol von hoher Bedeutung. Für eine Nationaltracht oder einen Schutz vor Erkältung würde sie nicht prozessieren.

Aber wofür ist es ein Symbol? Ich will die Frage nicht entscheiden, sondern das Problem benennen. Im Koran fehlt ein Satz von der Art jenes Jesuswortes von Kaiser und Gott. Mohammed war zugleich Religionsstifter, Politiker und Feldherr. Umma ist die Gemeinde in der religiösen und der politischen Bedeutung. In unserem Kulturkreis ist es immer wieder zu engen Verbindungen zwischen Staat und Religion gekommen. Aber immer wieder meldeten sich Stimmen, die sagten: Das soll nicht so sein.

In der islamischen Welt ist seit dem Ende des Kalifats die religiöse und die politische Autorität faktisch unterschieden, aber immer wieder melden sich Stimmen, die sagen: Das soll nicht sein. Und nun ist die eine Frage, ob das Tragen des Kopftuchs dies ausdrücken soll. Dann müssten wir Lehrerinnen das Kopftuch im Dienst verbieten. Die andere ist die, ob dieses Kopftuch Widerspruch gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau ausdrücken soll. Auch dann müssten wir es Lehrerinnen im Dienst verbieten. Denn die Toleranz muss intolerant sein gegenüber der Intoleranz, die ihre Grundlagen angreift.

Foto: Picture Alliance
Erschienen am 08. November 2004

RICHARD SCHRÖDER, Jahrgang 1943, lehrt an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin. 1988/89 arbeitete er mit bei der „Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ in der DDR. Er trat 1989 der SDP bei, war von März bis Oktober 1990 Mitglied der Volkskammer der DDR und bis Dezember 1990 im Bundestag. Zuletzt erschien von ihm „Einsprüche und Zusprüche. Kommentare zum Zeitgeschehen“ (Stuttgart 2001).

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