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Perspektivwechsel

Zukunft im Blick: Russ Carnahan inmitten einer Gruppe jugendlicher Besucher vor dem Kapitol in Washington
Zukunft im Blick: Russ Carnahan inmitten einer Gruppe jugendlicher Besucher vor dem Kapitol in Washington
© DBT/Marie Kopcsik

Besuch im Kapitol: der US-Abgeordnete Russ Carnahan

Die Welt blickt nach Amerika in diesen heißen Wahlkampftagen. Doch wie sieht die amerikanische Perspektive aus? Viele US-Abgeordnete arbeiten kontinuierlich an den internationalen Beziehungen und pflegen die Partnerschaft mit Deutschland. Russ Carnahan tut dies mit großem Enthusiasmus. Der Abgeordnete des Repräsentantenhauses übernimmt bald den Vorsitz der „Congressional Study Group on Germany”, des Pendants zur Parlamentariergruppe des Bundestages. An schwierigen Aufgaben mangelt es nicht, und auch nicht an gemeinsamen Zielen.

Russ Carnahan leidet unter akutem Schlafmangel. Das merkt man dem demokratischen Abgeordneten aus St. Louis im Bundesstaat Missouri zwar nicht an, aber es ist so. Und er gibt es auch zu. Er ist nämlich soeben erst, nach einem langen Nachtflug, von einer Reise von Mitgliedern des Ausschusses „Naher Osten und Südasien” des Repräsentantenhauses nach Afghanistan, Pakistan, Indien und Israel zurückgekehrt. Man hätte die Kongressferien in der Woche nach dem amerikanischen Unabhängigkeitstag vom 4. Juli auch anders, jedenfalls weniger kräftezehrend, verbringen können. Tatsächlich haben die meisten Abgeordneten und Senatoren die Sitzungspause genutzt, um in ihre Wahlkreise und Bundesstaaten zurückzukehren. Aber wenn die Mitglieder eines wichtigen Unterausschusses des Auswärtigen Ausschusses bei Debatten und Entscheidungen über die nationale Außenund Sicherheitspolitik ihr politisches Gewicht und ihre Kenntnisse in die Waagschale werfen wollen, dann muss diese Kenntnis auch wachsen. Und das erreicht man durch Eindrücke und Einsichten, die man an Ort und Stelle gewinnt.

Die Eindrücke und Einsichten während der Reise waren, zumal in Kabul, nicht gut. Die Delegation von sechs Abgeordneten war kaum aus Afghanistan abgereist, als sich ein Selbstmordattentäter vor der indischen Botschaft in der afghanischen Hauptstadt in die Luft sprengte und mindestens 41 Menschen mit in den Tod riss. Es war der blutigste Anschlag seit dem Fall des Taliban-Regimes im November 2001. Hinzu kamen während des Aufenthalts der Delegation fortgesetzte Angriffe der wiedererstarkten Taliban im Süden und Südosten des Landes gegen Soldaten der von der NATO geführten internationalen Schutztruppe ISAF sowie weitere Anschläge des Terrornetzes Al Qaida.

Der US-Abgeordnete Russ Carnahan in seinem Büro

© DBT/Marie Kopcsik
„Die Lage ist tatsächlich so schlecht, wie sie von außen scheint”, sagt Carnahan in seinem Abgeordnetenbüro im siebten Stock des „Longworth Office Buildings”, eines von drei mächtigen Gebäuden in Sichtweite des Kapitols, in welchen die Büroräume der 435 Abgeordneten sowie auch einige Sitzungsräume von Ausschüssen untergebracht sind. Die Taliban und Al Qaida hätten im afghanisch-pakistanischen Grenzland „einen terroristischen Freiraum” gefunden, sagt Carnahan, wo sie dank jahrhundertealter Traditionen des Schutz- und Gastrechts der paschtunischen Stämme dem Zugriff der staatlichen Autorität in Islamabad entzogen seien. Reichlich finanziert durch die Erlöse aus dem illegalen Drogenanbau und dem Heroinhandel, der zu großen Teilen mit den Vereinigten Staaten und den europäischen Ländern abgewickelt werde, sei ein Ende des terroristischen Aufstandes von Taliban und Al Qaida nicht abzusehen, warnt Carnahan. Ohne die „robuste Hilfe der pakistanischen Streitkräfte” sei dem Problem ohne dies nicht beizukommen, sagt der Abgeordnete, und er gibt zu verstehen, dass die soeben erst gebildete neue Regierung in Islamabad noch nicht recht sattelfest sei und in dieser Richtung bisher wenig bis nichts unternommen habe.

Parlamentsvorbehalt in den USA?

Der falsche Krieg im Irak, bekräftigt Carnahan die Argumentationslinie der Demokratischen Partei, sei eine Ablenkung vom Krieg in Afghanistan gewesen, dem „richtigen Krieg am richtigen Ort”, wie er sagt. In Afghanistan stehe nach wie vor eine Koalition von 40 Nationen im Kampf gegen Taliban und Al Qaida zusammen, im Irak müssten die Vereinigten Staaten und Großbritannien die Last des Krieges fast alleine tragen. Die in Washington und auch von anderen Verbündeten in der NATO
„Richtiger Krieg am richtigen Ort.”
geäußerte Kritik an Berlins mangelnder Bündnissolidarität, weil die deutschen Soldaten am Hindukusch mit begrenztem Bundestagsmandat vor allem zum Wiederaufbau im ruhigeren Norden eingesetzt sind, statt im Süden gemeinsam mit den NATO-Partnern im Kampf gegen die Taliban zu stehen, will Carnahan jedenfalls nicht zuspitzen. „Jedes Land hat seinen eigenen Zugang und unterliegt besonderen Bedingungen, um seine Aufgabe an der zentralen Front im Krieg gegen den Terrorismus zu erfüllen”, sagt Carnahan.

Zudem unterstützt Carnahan den soeben von den ehemaligen Außenministern James Baker und Warren Christopher vorgelegten Plan, dem Kongress bei der Entscheidung zum Krieg künftig ein größeres Mitspracherecht als bisher einzuräumen. Baker und Christopher, die eine überparteiliche und unabhängige Expertengruppe zu dem Thema geleitet hatten, schlagen vor, dass der Präsident in Zukunft verpflichtet sein soll, vor Beginn eines bewaffneten Einsatzes von mehr als einer Woche Dauer beim Kongress die Zustimmung zu dem Waffengang einzuholen. Binnen 30 Tagen soll der Kongress dann entscheiden, ob der Präsident den Truppen tatsächlich den Marschbefehl erteilen darf. Eine Stärkung der Rolle des Parlaments in der Kriegsfrage sei in jedem Fall wünschenswert, sagt Carnahan. „In den ersten sechs Jahren der Amtszeit von Präsident George W. Bush hat der von den Republikanern kontrollierte Kongress die Politik des Weißen Hauses kritiklos abgesegnet”, klagt er. Seit dem Sieg der Demokraten bei den Kongresswahlen vom November 2006 nehme der Kongress sein Aufsichtsrecht in der über Leben und Tod entscheidenden Kriegsfrage zwar wieder intensiver wahr als zu Zeiten der republikanischen Mehrheit bis Anfang 2007. Aber wegen der umfassenden Verfassungsrechte des Präsidenten sei es, zumal mit einer knappen Mehrheit der Demokraten im Kongress, schwierig, dessen Handlungsspielraum wirklich einzuengen. „Grundsätzlich ist es von großer Bedeutung, dass sich der Kongress mit außen- und sicherheitspolitischen Fragen intensiv befasst, weil wir damit auch dazu beitragen, das beschädigte Image Amerikas in aller Welt wieder zu verbessern”, sagt Carnahan.

Russ Carnahan, geboren am 10. Juli 1958 in Columbia und aufgewachsen in Rolla im ländlichen Missouri, ist selbst zwar erst seit Anfang 2005 Mitglied des Repräsentantenhauses. Aber die Ölgemälde, welche die Wände seines Büros zieren, offenbaren eine lange politische Traditionslinie der Carnahans. Da sind zunächst die Bilder der Eltern Jean und Mel Carnahan. Mel Carnahan war von 1993 an Gouverneur von Missouri, im Jahr 2000 bewarb er sich um einen Sitz im Senat in Washington. Auf dem Weg zu einer der letzten Wahlkampfveranstaltungen vor der Wahl vom 7. November starben Mel Carnahan, der jüngste Sohn Randy sowie ein Wahlkampfberater beim Absturz einer zweimotorigen Cessna, an deren Steuerknüppel Randy Carnahan gesessen hatte. Nach den Wahlgesetzen von Missouri durfte der Name des tödlich verunglückten Kandidaten so kurz vor dem Wahltermin nicht mehr von den Wahlzetteln gestrichen werden. Und so errang Mel Carnahan postum einen tragischen Wahlsieg — ein bisher einzigartiger Vorgang in der Geschichte des Senats. Als Nachrückerin wurde vom Gouverneur von Missouri Carnahans Witwe Jean ernannt, die bis zur Niederlage bei der Nachwahl von 2002 den Sitz ihres verstorbenen Mannes im Senat in Washington einnahm.

In große Fußstapfen
Neue Perspektiven: Das Kapitol, Sitz des US-Kongresses, neben einem der vier Löwen des Grant Memorials
Neue Perspektiven: Das Kapitol, Sitz des US-Kongresses, neben einem der vier Löwen des Grant Memorials
© DBT/Marie Kopcsik


Die politische Dynastie der Carnahans hatte schon Russ Carnahans Großvater Albert Carnahan (1897 bis 1968) begründet, der von 1945 bis 1960 Abgeordneter im Repräsentantenhaus und an-schließend für zwei Jahre der erste amerikanische Botschafter in dem westafrikanischen Staat Sierra Leone war. Am gleichen Tag schließlich, an dem Russ Carnahan im November 2004 der Sprung ins Kapitol nach Washington gelang, wurde seine drei Jahre jüngere Schwester Robin Carnahan zum „Secretary of State” von Missouri gewählt — ein Posten, der in Deutschland etwa dem eines Innenministers in einem Bundesland entspricht.

„Ich habe große Fußstapfen auszufüllen”, sagt Russ Carnahan, und er erinnert sich an den ersten Wahlkampf seines Lebens: Das war im Alter von acht Jahren, als sich sein Vater Mel Carnahan um einen Sitz im Parlament des Bundesstaates Missouri in Jefferson City bewarb. „Ich habe das Glück, in einer Familie aufgewachsen zu sein, in welcher der Wert des gewählten Amtes nicht nur gelehrt, sondern auch gelebt wurde”, erinnert sich Carnahan.

Zum politischen Erbe des promovierten Juristen, der vor seiner Wahl ins Abgeordnetenhaus von Missouri im Jahre 2000 als Rechtsanwalt in St. Louis praktizierte, gehört auch, dass Carnahan heute jenes Abgeordnetenmandat des Wahlkreises 3 von Missouri erfüllt, das von Januar 1977 bis Anfang 2005 Dick Gephardt, der langjährige Mehrheits- und Minderheitsführer der Demokraten im Repräsentantenhaus, innehatte. Wie Gephardt, der sich 1998 und 2004 vergeblich um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten beworben hatte, hat auch Carnahan deutsche Vorfahren. Aber das ist in Missouri wahrlich kein Wunder, denn fast 18 Prozent der gut 5,8 Millionen Einwohner des Bundesstaates stammen von deutschen Einwanderern ab.

In der Metropole St. Louis, die Carnahan als Abgeordneter im Repräsentantenhaus vertritt, liegt der Anteil der Einwohner mit deutschen Vorfahren noch höher. Carl Schurz (1829 bis 1926) wurde 1868 als erster Deutsch-Amerikaner in den Senat gewählt — für den Bundesstaat Missouri. In St. Louis gründeten im Jahre 1860 die ebenfalls aus Deutschland stammenden Eberhard Anheuser (1805 bis 1880) und dessen Schwiegersohn Adolphus Busch (1839 bis 1913) die Brauerei Anheuser-Busch. Das Brauhaus sollte über die Jahrzehnte und Jahrhunderte zur größten amerikanischen Brauerei aufsteigen und wurde am 13. Juli 2008 vom belgisch-brasilianischen Braugiganten InBev für fast 52 Milliarden Dollar gekauft. Das neue Unternehmen „Anheuser-Busch InBev” wurde damit zum größten Bierbrauer der Welt.

Auch wenn bei Russ Carnahan vom Deutschunterricht an der Highschool nur noch ein paar Brocken übriggeblieben sind, sieht er seine künftige Aufgabe als Vorsitzender der „Congressional Study Group on Germany” mit Enthusiasmus. Die etwas irreführend „Studiengruppe” genannte Gruppe von Abgeordneten ist das Gegenstück im Repräsentantenhaus zur Parlamentariergruppe USA des Bundestages. Seit inzwischen 25 Jahren treffen sich die Mitglieder der Gruppen abwechselnd in den Vereinigten Staaten und in Deutschland, um sich über den Zustand der deutsch-amerikanischen Beziehungen, über das transatlantische
„Die Zusammenarbeit der Parlamentariergruppen bildet so etwas wie das institutionelle Gedächtnis der deutsch-amerikanischen Beziehungen.”
Verhältnis sowie über die Lage an den Krisenherden der Welt auszutauschen (siehe Kasten). „Die Zusammenarbeit der Parlamentariergruppen bildet so etwas wie das institutionelle Gedächtnis der deutsch-amerikanischen Beziehungen”, sagt Carnahan. „Mancher Abgeordnete sieht Präsidenten und Kanzler kommen und gehen, aber der Austausch der Ideen und Erfahrungen unter den Parlamentariern dauert fort.” Dass das Ansehen der Vereinigten Staaten in Europa und in Deutschland vor allem wegen des Streits um den Irakkrieg derzeit so schlecht sei wie seit Menschengedenken nicht, stimmt Carnahan nicht nur pessimistisch. Denn das Misstrauen sei vor allem auf die gegenwärtige Regierung gerichtet und nicht gegen Amerika und die Amerikaner insgesamt. Mit einem neuen Präsidenten und einer neuen Regierung von Januar 2009 an könnten die Vereinigten Staaten das verlorene Ansehen rasch wieder zurückgewinnen.

Dabei spiele vor allem der Kampf gegen den Klimawandel und für eine umweltfreundliche Energiepolitik eine entscheidende Rolle. „Auf diesem Gebiet haben es die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren versäumt, eine internationale Führungsrolle zu spielen”, beklagt Carnahan. Vor allem die Regierung in Washington sei es gewesen, die zunächst mit ihrer Weigerung, das Phänomen des Klimawandels überhaupt anzuerkennen, auf diesem Feld eine Entwicklung verhindert habe. „Da haben wir viel Zeit verloren”, klagt Carnahan. Dafür seien viele Bundesstaaten und auch Kommunen in die Bresche gesprungen und hätten ihrerseits die Nutzung erneuerbarer Energiequellen und die Entwicklung von Umwelttechnologie vorangetrieben.

Impressionen am Lincoln Memorial — ein Denkmal zu Ehren Abraham Lincolns mit einer 5,80 Meter hohen Statue des 16. Präsidenten der USA
Impressionen am Lincoln Memorial — ein Denkmal zu Ehren Abraham Lincolns mit einer 5,80 Meter hohen Statue des 16. Präsidenten der USA
© DBT/Marie Kopcsik
Vorreiter Missouri

„Wir brauchen in Amerika eine nationale Verpflichtung in der Klimapolitik — so etwas wie ein Wettrennen um die Erde, so wie wir in den fünfziger Jahren einen Wettlauf zum Mond ausgerufen haben — und diesen auch gewonnen haben”, fordert Carnahan. Von Ländern wie Deutschland, wo regenerierbare Energiequellen zu den stärksten Wachstumssegmenten gehören, könnten die Vereinigten Staaten viel lernen.

Es kann nicht überraschen, dass Carnahan für den 4. November in seinem Heimatstaat Missouri einen Sieg von Barack Obama über John McCain voraussagt. „Missouri ist bei Präsidentenwahlen der Leithammel-Staat schlechthin”, erzählt Carnahan. Außer bei den Präsidentenwahlen von 1956, als sich die Wähler in Missouri mit denkbar knapper Mehrheit für den Demokraten Adlai Stevenson entschieden, während die Nation dem Republikaner Dwight Eisenhower eine triumphale Wiederwahl bescherte, hat Missouri seit 1904 stets auf den „richtigen” Kandidaten gesetzt: Wer in Missouri bei Präsidentenwahlen die Mehrheit der Wählerstimmen erhielt, dem gelang auch der Sprung ins Weiße Haus. „Barack Obama kommt aus dem benachbarten Bundesstaat Illinois, er ist in Missouri gut bekannt”, schließt Carnahan. „Obama versteht die enormen Herausforderungen, die vor uns liegen — vom Kampf gegen den Terrorismus über eine Wende in der Energiepolitik bis zur Gesundheitsversorgung. Ich bin sicher, dass Senator Obama in Missouri gewinnen wird — und nicht nur in Missouri!” 

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Text: Matthias Rüb
Erschienen am 13. August 2008

Zur Person:

Russ Carnahan, Jahrgang 1958, ist seit Anfang 2005 Mitglied des Repräsentantenhauses für den 3. Wahlkreis (Congressional District) von Missouri. Er gehört unter anderem den Ausschüssen (Committees) für Foreign Affairs, Transportation & Infrastructure und Science & Technology an und ist designierter Vorsitzender der „Congressional Study Group on Germany”.
www.carnahan.house.gov


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