Leicht ist ihm sein Abschied nicht gefallen. 15 Jahre war Winfried Nachtwei Mitglied des Deutschen Bundestages und hat sich einen Namen als Verteidigungsexperte gemacht. Zur Wahl im September 2009 hat der Vollblutpolitiker seine „letzte Chance einer Resozialisierung” wahrgenommen und den Bundestag verlassen. An seinen Spezialgebieten Afghanistan und Krisenprävention wird er trotzdem dranbleiben.
Für einen Friedenspolitiker ist es vielleicht ungewöhnlich, für einen Grünen erst recht: Winfried Nachtwei hat als junger Mann zwei Jahre Wehrdienst geleistet. Schon damals ist er der Auffassung gewesen: „Zur Verteidigung unserer Freiheit musst du das tun.” Zur Friedensbewegung stieß der Gymnasiallehrer aus Dülmen in den 80er-Jahren - im Zusammenhang mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland. Da sei bei ihm „eine langjährige Verdrängung geplatzt”, sagt das Gründungsmitglied der Grünen. Damals sei ihm aufgegangen, dass die atomare Abschreckung eine „Totverteidigung” sei.
Politisch interessiert war er bereits während der Schul- und Studienzeit. Die Anregung, in die Politik zu gehen, kam von einem Mitstreiter aus der Friedensbewegung. Er selbst habe gern unterrichtet, sagt er, und: „Das Bild von der Politik war damals das eines Haifischbeckens.” Als er sich 1983 auf einem wenig aussichtsreichen Listenplatz erstmals für den Bundestag bewarb, war er „ganz froh drum, dass es nicht geklappt hat”. 1994 schaffte er schließlich den Einzug. Nachtwei tauschte nur zögerlich seinen Lehrerberuf gegen das Politikerleben. Und er hat enormen Gefallen daran gefunden. Noch kurz vor der Bundestagswahl im September waren in seinem Büro keine Spuren von Umzug oder Abschied zu erkennen. Über Freizeit mochte er in seiner Zeit als Abgeordneter gar nicht nachdenken - auch wenn er immer darauf bedacht gewesen ist, sich eine Art „Restmußefähigkeit” zu erhalten. Bei ruhiger Arbeit habe er sich erholt, betont er - etwa beim Schreiben oder bei Diavorträgen über Afghanistan: „Da brauche ich keine Briefmarken zu sammeln.” Eine Radtour um den Aasee in seiner Heimat Münster ist für ihn Kurzurlaub.
Selbst das Radfahren bringt ihn wieder zur Politik. Einmal sei er absichtlich bei Glatteis zu einer Koalitionsrunde mit dem damaligen SPD-Fraktionschef Peter Struck gefahren. „Als Politiker muss man sich auf Glatteis bewegen können”, soll das heißen. Das gilt sogar für die eigene Partei. Sein Politikfeld, die Friedens- und Sicherheitspolitik, sei für Grüne bisweilen ein „politisches Minenfeld”.
Als Verteidigungsexperte hat sich Nachtwei über die Parteigrenzen hinweg viel Anerkennung verdient. Von 2002 bis 2005 war er sicherheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion, seit 2002 Obmann im Verteidigungsausschuss und im Unterausschuss Rüstung und Rüstungskontrolle. Als Dilemma empfand er die Entscheidung über den Einsatz im Kosovo 1999, den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr seit dem Zweiten Weltkrieg. „Das war krass”, erinnert sich Nachtwei. Viele Grüne hätten große Bedenken gegenüber Luftwaffeneinsätzen in der serbischen Provinz gehabt. Andererseits habe man sich vorstellen müssen, was passiert wäre, wenn man die Situation habe weiterlaufen lassen. Das wäre auf eine „sehr wirksame, stille Vertreibung” der Kosovo-Albaner hinausgelaufen.
Als Zerreißprobe empfand er auch die Abstimmung über den Antiterroreinsatz der Bundeswehr in Afghanistan im November 2001. Um sich die Zustimmung seiner widerspenstigen rotgrünen Koalition für den Einsatz zu sichern, verband der damalige Kanzler Gerhard Schröder die Abstimmung mit der Vertrauensfrage. Damals grübelte Nachtwei ein Wochenende lang über die Frage: „Gibst du dein Mandat zurück?” Allerdings sei klar gewesen, wenn die Vertrauensfrage scheitern würde, „dann ist auch Schluss mit Rot-Grün, dem historisch erstmaligen Projekt”.
Das Engagement für Afghanistan gehört neben dem Thema Krisenprävention zu Nachtweis Leidenschaften. Um die richtige Strategie für den Einsatz am Hindukusch kreisen seine Gedanken. Nachtwei ist ein Befürworter des ISAFEinsatzes, und trotzdem hat er bei der Verlängerung der Mandate 2007 und 2008 im Bundestag dagegen gestimmt. Er räumt ein, dass das vielleicht schwer zu verstehen ist, und erklärt: Die Bundes- regierung verhalte sich halbherzig bei der Umsetzung des vernetzten Ansatzes. Sie bleibe eine Antwort darauf schuldig, wie die Abwärtsspirale im Raum Kundus, wo die Bundeswehr seit zwei Jahren immer häufiger angegriffen wird, gestoppt werden könne.
Nachtwei vereinfacht nicht. Er warnt auch die nachfolgende Grünen-Generation vor der Versuchung zu polarisieren - um der öffentlichen Aufmerksamkeit willen. Alles, was er zu Afghanistan sagt, spiegelt die vielen Facetten der Wirklichkeit. Auf die Frage, ob die Bundeswehr in Afghanistan Krieg führt - wie es etwa der Bundeswehrverband sieht - hat er kein klares Ja oder Nein parat. Da ist zum einen die taktische Ebene: Im Raum Kundus führten die Taliban einen Guerillakrieg gegen die eigenen Sicherheitskräfte, gegen ISAF und die Bundeswehr. Das empfänden auch die Soldaten vor Ort als Krieg. Auf der strategischen Ebene jedoch ist ISAF immer noch eine Stabilisierungsmission, auch wenn sie Züge der „Friedenserzwingung” annehme, sagt Nachtwei. Auf der militärischen Ebene allein sei der Konflikt jedoch nicht zu gewinnen. Der Friedenspolitiker weiß: „Man muss über den Tellerrand des Militärischen hinausgucken.”
Das von der Bundeswehr Anfang September 2009 angeforderte Bombardement zweier Tanklastzüge am Fluss Kundus, die zuvor von den Taliban gekapert worden waren, macht Nachtwei Sorgen. Er sieht es als „einschneidendes Ereignis”, denn es war der opferreichste Konflikt im deutschen Verantwortungsbereich in Afghanistan. Nach NATO-Erkenntnissen kamen dabei auch Zivilisten ums Leben - was der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung zunächst leugnete. Es sei eine „besondere Tragik”, dass ausgerechnet der Bundeswehr, für die der Schutz der Bevölkerung immer das A und O gewesen sei, dies passiert sei, meint Nachtwei. Er geht aber weiterhin davon aus, „dass die Bundeswehr jetzt nicht auf einen aggressiven Kurs einschwenkt, sondern dass diese Katastrophe vor dem Hintergrund einer Extremsituation geschah”.
Nachtwei ist zufrieden mit sich und seinen 15 Jahren im Bundestag. Auf der Habenseite verbucht er, dass er in der rotgrünen Koalition den Aktionsplan Krisenprävention mit durchgesetzt hat und dass er zu dem „kleinen Kreis derjenigen gehört hat, die es hingekriegt haben, dass Deutschland sich nicht am Irak-Krieg beteiligte”. Auch die Entwicklung seiner Partei gefällt ihm. Die Grünen seien auf eine gute Weise etabliert, „in der Mitte der Gesellschaft angekommen”.
Winfried Nachtwei, Jahrgang 1946, ist Gründungsmitglied der Grünen. Bevor er 1994 in den Bundestag gewählt wurde, arbeite er 17 Jahre lang als Lehrer für Geschichte und Sozialwissenschaften. Nachtwei war sicherheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion und seit 2002 Obmann im Verteidigungsausschuss. 2003 wurde er als Krisenvermittler in die Liste von Persönlichkeiten der vorbeugenden Diplomatie bei den Vereinten Nationen aufgenommen.
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Text: Claudia Kemmer
Erschienen am 25. März
2010