Die beiden kleinen Büroräume sind vollgestopft mit Büchern, Zeitschriften und Zeitungen in zwei Dutzend Sprachen, die etwa 25 Millionen Menschen benutzen. Doch nur drei Mitglieder dieser Völkerfamilie haben einen eigenen Staat: die Finnen, die Esten und die Ungarn. In Westeuropa noch halbwegs bekannt sind die Kwens und Samen (Lappen) in Skandinavien und die Liven in Lettland. Die anderen finno-ugrischen Völker leben in Russland, die Karelier, Komi, Udmurten, Mari und Mordwinen in eigenen Republiken, die Chanten, Mansen sowie die verwandten Nenzen in eigenen Autonomen Kreisen. Mit Ausnahme der Wepsen in Karelien haben die noch kleineren Völker kein eigenes Territorium.
Doch in all diesen "staatlichen" Gebilden, die sich Subjekte der Russischen Föderation nennen, sind die Titularnationen gegenüber den zugewanderten Russen längst in der Minderheit, und ihre Sprachen sterben aus, auch wenn sie gesetzlich geschützt und neben dem Russischen offizielle Amtssprachen sind. So hat sich die Zahl der Sprecher zwischen 1989 und 2002 von 3,3 auf 2,7 Millionen Menschen verringert, und der Trend hält an.
Konstantin Samjatin, der Leiter des Tallinner Infozentrums, trägt den Namen eines bekannten russischen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts, und er hat einen Pass der Russischen Föderation. Doch "Konsta", wie sie ihn bei "Fenno-Ugria" nennen, ist Udmurte. Er kam im Rahmen des von der estnischen Regierung finanzierten Programms für verwandte Völker aus Udmurtiens Hauptstadt Ischewsk zum Studium nach Estland.
Seine Geschichte ist typisch für zehntausende junger Nichtrussen, die ihre Muttersprache in den von Russen dominierten Städten nicht mehr erlernen. In Ischewsk konnte Konsta als Kind jedenfalls nicht udmurtisch sprechen, auch in der Familie nicht. "Meine Eltern waren Opfer der Modernisierung", sagt er. "Sie sind vom Land in die Stadt gezogen, und die Stadt war russisch. Sie mussten den Sprachenwechsel vollziehen, wenn sie beruflich Erfolg haben und die Zukunft ihrer Kinder sichern wollten." Udmurtisch sprachen sie deshalb nur noch in ihrem Heimatdorf, wo Konsta die Sprache seines Volkes in den Schulferien lernte.
Doch Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierung sind nicht ausschlaggebend für die Entwicklung. Seit den 60er-Jahren wurde die muttersprachliche Bildung der Finno-Ugrier systematisch eingeschränkt. Heute findet muttersprachlicher Unterricht nur noch in wenigen ländlichen Grundschulen statt, in den höheren Klassen ist die Muttersprache ein Fach unter anderen Fächern. Es fehlt an Lehrern und Lehrmitteln. "Das Problem ist, dass nur das Russische als Sprache der Zivilisation gilt", sagt Konsta. "Wer also zivilisiert sein will, spricht russisch, wer lieber seine finno-ugrische Muttersprache spricht, gilt als Hinterwäldler."
Auch die Geschichte der etwa 637.000 Seelen zählenden Udmurten ist typisch für das Schicksal der nichtrussischen Völker in Russland. Hatten die Bolschewiki diesen Völkern in der frühen Sowjetzeit eine Autonomie zugestanden und nationale Kader mit Führungsaufgaben betraut, so nahm Stalin in den 30er-Jahren Kurs auf Russifizierung und schickte die Führungsschicht in die Gulags oder ließ sie umbringen. Ihren Platz nahmen Russen ein. Udmurtien aber wurde eine der großen Rüstungsschmieden der UdSSR. In Ischewsk entwickelte Michail Kalaschnikow sein berühmtes Sturmgewehr, und die Flugabwehrraketen, die Moskau heute dem Iran liefert, stammen auch aus Udmurtien. Infolge der Zuwanderung stellen die Udmurten nur noch 30 Prozent der Bevölkerung in ihrer eigenen Republik, und unter den 100 Abgeordneten des Parlaments sind nur sechs Udmurten.
Den Westeuropäern ist diese Entwicklung weitgehend entgangen, während estnische Wissenschaftler schon in den frühen 90er-Jahren ein "Rotbuch der Völker des Russischen Imperiums" veröffentlichten. "Wir haben ja auch 50 Jahre in diesem Kessel geschmort, wir wissen, wie das ist, wenn die Muttersprache bedroht ist", erklärt der estnische Schriftsteller Arvo Valton, Präsident der "Assoziation finno-ugrischer Literaturen", die junge Autoren in Russland unterstützt, Übersetzungen finanziert, Seminare organisiert und die Entstehung einer finno-ugrischen Identität fördert. Viele Autoren dieser Völker schreiben zwar in ihren Sprachen, aber sie haben nicht genügend Leser und keine Chance gegen die russischsprachigen Massenmedien, insbesondere gegen das Fernsehen, das nun bis ins entfernteste finno-ugrische Dorf dringt. "Die Entwicklung ist einfach beängstigend", sagt Arvo Valton, "und wir spüren das besser als andere Völker in Europa."
Hoffen lässt nur die Tatsache, dass es mit einer Ausnahme in den betroffenen Territorien keine offenen politischen oder ethnischen Konflikte gibt. Die Ausnahme ist die Republik Mari El, wo die nationale Bewegung der Mari in außerparlamentarischer Opposition zum repressiven Regime des Präsidenten Leonid Markelow steht. Unter Markelow, der aus Moskau nach Joschkar Ola kam und kein Mari spricht, wurden ethnische Mari aus der Republikverwaltung entlassen, Radio- und Fernsehprogramme in der Mari-Sprache reduziert und nationale Schulen geschlossen.
Die Zahl der Buchtitel, die auf Mari in der Republik-Hauptstadt Joschkar Ola erscheinen, ist weiter zurück-gegangen, und die Versammlungen der Nichtregierungsorganisation "Mari Uschem" ("Bund der Mari") werden systematisch behindert. Regimekritische Zeitungen müssen außerhalb der Republik gedruckt werden. Bei Überfällen wurden allein im Jahre 2001 drei unabhängige Journalisten getötet. Anfang Februar 2005 wurde Wladimir Koslow, Übersetzer und Chefredakteur der Internationalen finno-ugrischen Zeitung "Kudo+Kodu" ("Haus+Heim") vor dem Pressehaus in Joschkar Ola mit Eisenstangen krankenhausreif geschlagen.
Koslow, der auch Vorsitzender des "Gesamtrates der Mari" ("Mer Kanasch") ist und sein Volk im Konsultativrat des Weltkongresses der finno-ugrischen Völker vertritt, hatte vehement gegen die undemokratische Wiederwahl Markelows im Dezember 2004 protes-tiert und wirft ihm "Mariphobie" vor. Hingegen würdigte Präsident Wladimir Putin die Verdienste des wiedergewählten Markelow mit einem Orden für Völkerfreundschaft.
Anfang Mai vergangenen Jahres forderte die Föderalistische Union der europäischen Volksgruppen (FUEV) von Russland "energische Schritte zum Schutz der vielfach existenziell bedrohten Ethnien" und verlangte, den schleichenden oder offenen sprachlichen Assimilierungstendenzen ein Ende zu bereiten.
Kurz danach verurteilte auch das Europäische Parlament in Straßburg einstimmig das Verhalten der Behörden von Mari El und forderte Joschkar Ola und Moskau auf, "für qualifizierten muttersprachlichen Unterricht auf allen Ebenen zu sorgen und damit die Gleichstellung der Mari-Sprache mit Russisch in der ganzen Republik zu sichern". Doch die Verantwortlichen in Joschkar Ola zeigten sich wenig beeindruckt. Markelow nannte die Straßburger Resolution eine "offene Lüge", und die Fraktionsvorsitzenden des Republikparlaments sprachen von "grober Einmischung in das ökonomische, sozialpolitische und kulturelle Leben" der Republik Mari El. Ende Mai 2005 überfielen russische Skinheads ein Musikensemble der Mari, nachdem die Künstler auf der Straße hörbar Mari gesprochen hatten.
"Das Problem der Mari ist kein inneres Problem der Republik Mari El", kommentiert Jaak Prozes von der Stiftung "Fenno-Ugria": "Russland hat das Europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen unterzeichnet und erfüllt seine Verpflichtungen nicht. Das ist alles."
Stattdessen entwickeln Medien in Joschkar Ola und Russlands Hauptstadt Moskau Verschwörungstheorien. Angeblich wollen extremistische Gruppen in Estland und Finnland sowie ausländische Geheimdienste im Zentrum Russlands eine "orangene Revolution" anstiften und den rohstoffreichen Raum unter ihre Kontrolle bringen. Glaubt man der Internetzeitung "News12.ru", die Markelow nahe steht, dann sind die Unruhen in den französischen Vorstädten im vergangenen Herbst von "estnischen Nationalisten" angestiftet worden. Auch der jüngst erschienene Bericht der Internationalen Helsinki-Föderation über die Lage der Menschenrechte der Mari-Minderheit in der Republik fällt offiziell in die Rubrik "Einmischung". Seit Veröffentlichung des Berichts hat der Druck auf die Nichtregierungsorganisation der Mari massiv zugenommen.
Aufgrund der Vorgänge in Mari El lässt nun auch der Europarat prüfen, inwieweit Russland der dringlichen Empfehlung von 1998 nachgekommen ist, die muttersprachliche Bildung der finno-ugrischen Völker "zu erhalten und zu entwickeln". Berichterstatterin des Kulturkomitees ist Katrin Saks, Mitglied der estnischen Delegation. Die Sozialdemokratin hat die "finno-ugrischen" Territorien bereist und dort gründlich recherchiert. "In den fünf Republiken ist die Lage ziemlich hoffnungslos, weil sie kein zweisprachiges Schulsystem haben", resümiert die Abgeordnete, die viele Gesprächspartner "nicht offen" und "verängstigt" empfand.
Was kann Europa also für die kleinen Völker tun? "Es ist schwer, von außen zu helfen", sagt Katrin Saks, "aber es ist möglich. Alles hängt von der Haltung der örtlichen Behörden ab. Sie könnten diese Sprachen wirklich fördern und Zweisprachigkeit propagieren, wenn sie dazu veranlasst werden. Ich sage nicht, dass die Kinder kein Russisch lernen sollen, das wäre ganz falsch. Sie müssen sogar sehr gut Russisch sprechen, und man kann auch ein System schaffen, in dem sie ihre Muttersprache und ihre nationale Identität nicht verlieren."
Man darf gespannt sein, wie Russland auf den Report des Europarats, dem es 1996 beigetreten ist, reagiert.