An der Rezeption des neu eröffneten Hotels am Rande der Altstadt von Tallinn herrscht dichtes Gedränge. Eine Gruppe von deutschen Studenten ist gerade mit dem Easyjet-Flug aus Berlin-Schönefeld eingetroffen. Seit die Billigfluglinie Direktflüge aus London und Berlin anbietet, hat sich die estnische Hauptstadt zu einem begehrten Reiseziel, vor allem für deutsche und britische Kurzurlauber, entwickelt.
Mit professioneller Freundlichkeit verteilt Sascha Oranow die Zimmerschlüssel und beantwortet die Fragen seiner Gäste. Vier Sprachen beherrscht er bisher fließend. Neben seiner Muttersprache Russisch auch Estnisch, die Amtssprache seines Heimatlandes, sowie Englisch und Deutsch. Sascha ist Anfang 20, studiert BWL, jobbt nebenbei an der Rezeption des Hostels und möchte später einmal in die boomende Tourismusbranche einsteigen. Er wurde noch in der Sowjetunion geboren und gehört zur großen russischsprachigen Minderheit, wie etwa 30 Prozent der Einwohner der baltischen Republik.
Der junge Mann besitzt aber weder die estnische noch die russische, sondern eine "undefinierbare" Staatsbürgerschaft, wie sie im Amtsjargon des estnischen Innenministeriums bezeichnet wird. "Ich bin ein Alien", sagt er lachend und kramt zum Beweis das hellgraue Dokument mit der entsprechenden englischsprachigen Aufschrift "Aliens Passport" aus seiner Manteltasche. Aliens steht im Englischen für Ausländer, aber auch für Außerirdische, und ist deshalb in Estland so etwas wie ein "running gag" unter den Inhabern dieses Dokuments.
Knapp zehn Prozent der Bevölkerung, rund 130.000 Menschen, sind Inhaber eines solchen Passes. Im benachbarten Lettland ist deren Anteil sogar noch höher. "Durch die Osterweiterung hat die EU nicht nur einige hunderttausend ethnische Russen, sondern fast gleich viele Aliens erhalten", erwähnt Sascha vergnügt. Blau, Rot und Grau sind die Farben der verschiedenen Pässe der Mehrheit der estnischen Bevölkerung. Blau steht für den estnischen und somit begehrten EU-Pass, Rot für die Staatsangehörigen Russlands und Grau für die Staatenlosen. Daneben gibt es noch eine Minderheit von Staatsangehörigen der anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, je nach dem Herkunftsland der betreffenden Personen.
Die Republik Estland wurde 1918 gegründet und verlor ihre Unabhängigkeit nach der Besetzung durch die Sowjetunion 1940. Nach der Unabhängigkeit und dem Ende der UdSSR wurde die Republik Estland 1991 neu gegründet und das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1938 auf der Grundlage des Blutrechts (ius sanguinis) wieder eingeführt. Die Jahrzehnte der sowjetischen Besatzung hatten das demografische Gefüge des Landes grundsätzlich verändert.
Durch Tötung, Massendeportationen und gesteuerte Ansiedlung von Nichtesten aus allen Teilen der Sowjetunion sank der Anteil der estnischen Bevölkerung von 88,1 Prozent im Jahr 1934 auf lediglich 61,5 Prozent 1989. Die Auslöschung der estnischen Identität war das Ziel der Sowjets, und fast wäre ihnen dies gelungen. Basierend auf diesen historischen Erfahrungen gehörte das estnische Staatsbürgerschaftsgesetz unmittelbar nach der Unabhängigkeit zu einem der härtesten der Welt.
Insbesondere die hohen Anforderungen beim Sprachtest führten international zu Protesten und konfrontierten die junge Republik mit dem Vorwurf des Rassismus. Mitglieder der Roten Armee oder Mitarbeiter des KGB sowie deren Familien waren dabei a priori von der estnischen Staatsbürgerschaft ausgeschlossen.
In den vergangenen Jahren und besonders im Vorfeld der EU-Osterweiterung wurde die Einbürgerungsprozedur entscheidend vereinfacht. "Einige Mitglieder meiner Familie waren im KGB tätig", antwortet Sascha auf die Frage, warum 15 Jahre nach der Unabhängigkeit bisher niemand in seiner Familie einen estnischen Pass hat. "Später kamen finanzielle Gründe und die Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung hinzu", ergänzt er. Inzwischen ist er darum bemüht, den blauen Pass zu erwerben. Zusammen mit seinem Kommilitonen Roman hat er sich gerade die notwendigen Dokumente aus dem Internet heruntergeladen.
Roman ist ein "Roter", also russischer Staatsangehörigkeit. "Nein, richtig zu Hause fühle ich mich hier in Estland nicht. Finno-Ugrier und Slawen sind doch zwei völlig verschiedene Völker und haben eigentlich nur wenig gemeinsam", antwortet Roman auf die Frage nach der Motivation für den Erweb des estnischen Passes. "Wir sind so etwas wie ,Euro-Russen', deshalb möchten wir auch die Chancen und Rechte eines EU-Bürgers erhalten, Reise- und Niederlassungsfreiheit eingeschlossen." Sascha ergänzt: "Ich war noch nie im Ausland; wegen meiner ,undefinierbaren Staatsangehörigkeit' ist selbst ein Visum für Russland eine komplizierte Angelegenheit."
Ungefähr ein Jahr würde es bis zum Erhalt des estnischen Passes dauern. Zuerst ist der Sprachtest zu absolvieren, dann eine Prüfung über Landes- und Verfassungskunde zu bestehen. Schließlich würden die Behörden noch einige Monate benötigen, um die formalen Anforderungen der Antragsteller - die estnischer Herkunft oder mindestens fünf Jahre im Lande ansässig sein müssen - zu überprüfen. Ungefähr 2.000 estnische Kronen, rund 130 Euro, dürfte das die beiden Studenten kosten. "Eine ganze Menge Geld, ungefähr die Hälfte unseres Monatsgehalts. Aber langfristig eine gute Investition", stellen die beiden jungen Männer übereinstimmend fest.
"Integration, die Erlangung der estnischen Staatsbürgerschaft und vor allem die Reduzierung der Staatenlosigkeit gehören zu unseren größten Prioritäten", erklärt hingegen Juhan Parts die Passpolitik des baltischen Landes. Parts war bis März vergangenen Jahres Premierminister Estlands, ist Gründungsmitglied der rechtsliberalen Partei Respublica und gilt als Vater des estnischen EU-Beitritts. Neben der Verankerung in transatlantischen Strukturen und dem technologischen Aufstieg Estlands forciert Respublica wie keine andere Partei im Lande die Integration der überwiegend russischsprachigen Minderheit. "Unser Ziel ist ein Estland all seiner Bürger, egal welcher Herkunft und Muttersprache", fügt der frühere Premierminister hinzu. Während seiner Amtszeit wurde ein Aktionsplan für ungefähr 5.000 Einbürgerungen jährlich entwickelt.
Die Statistik scheint Parts Auffassung zu bestätigen. Nach einer im November veröffentlichten Umfrage, würden 61 Prozent der Bewohner mit "undefinierbarer Staatsangehörigkeit" gerne die estnische Staatsangehörigkeit erwerben. Seit dem EU-Beitritt hat sich die Anzahl der jährlichen Bewerber verdoppelt, von 3.706 Antragstellern im Jahr 2003 auf mehr als 7.000 im vergangenen Jahr. "Ich denke, in einigen Jahren wird sich das Phänomen der Staatenlosigkeit in Estland in Luft aufgelöst haben. Wir können dann ein weiteres Kapitel der postsowjetischen Realitäten zu den Akten legen", stellt Pars fest.