Das ist der größte Durchbruch für ein soziales Europa", freute sich die Berichterstatterin des Parlamentes, Evelyne Gebhardt (PSE). Nach der Abstimmung in Straßburg im Februar war vom ersten Vorschlag der Kommission nur noch wenig übrig. Seitdem reifte bei Binnenmarktkommissar McCreevy die Erkenntnis, dass der Vorschlag seines Vorgängers Bolkestein "niemals Gesetz wird". Spätestens seit dem jüngsten EU-Gipfel war außerdem klar, dass auch der Ministerrat dem ursprünglichen Text der Kommission nicht zustimmen würde.
Das Herkunftslandprinzip, das in der öffentlichen Diskussion zu einem Reizwort geworden ist, wurde umformuliert. Ursprünglich wollte Bolkestein durchsetzen, dass Dienstleister nur den Anforderungen genügen müssen, die in ihrem Heimatland gelten. In der neuen Fassung heißt es: "Die Mitgliedstaaten müssen das Recht von Dienstleistern respektieren, Dienste in einem Land zu erbringen, in dem sie nicht niedergelassen sind."
Die Mitgliedstaaten dürfen von Firmen, die in anderen EU-Ländern ansässig sind, verlangen, dass sie sich registrieren lassen und andere Voraussetzungen erfüllen. Bürokratische Auflagen dürfen einen Ausländer aber nicht schlechter stellen als seinen inländischen Wettbewerber. Sie müssen notwendig sein, um Ziele der "öffentlichen Ordnung und Sicherheit, des Gesundheits- oder des Umweltschutzes" zu erreichen und sie müssen zu diesen Zielen in einem "angemessenen Verhältnis" stehen. McCreevy ist dem Parlament auch beim Geltungsbereich der Richtlinie weit entgegengekommen. Dienstleistungen von allgemeinem Interesse bis hin zum sozialen Wohnungsbau sowie Zeitarbeit, Sicherheitsdienste, Glücksspiele und der gesamte Gesundheitssektor werden von der Liberalisierung ausgenommen. Für alle anderen Dienstleister, sagt der Binnenmarktkommissar, werde es in Zukunft leichter, sowohl in einem anderen EU-Land zu arbeiten als auch, sich dort niederzulassen.
Damit können nicht nur die Sozialisten im Europäischen Parlament gut leben. Der konservative Abgeordnete Malcolm Harbour drängt die Mitgliedstaaten, den neuen Vorschlag der Kommission schnell zu beraten und die Dienstleistungsmärkte zu öffnen. Auch der Fraktionschef der Liberalen, Graham Watson, signalisiert Zustimmung: "Wir werden vielleicht die Hälfte dessen bekommen, was Bolkestein wollte. Aber das ist schon etwas und es wird neue Impulse für den Aufschwung in Europa bringen."
Nicht alle Liberalen nehmen ihre Niederlage so gelassen. Die Kommission habe als Hüterin der Verträge versagt, schimpft Alexander Graf Lambsdorff (FDP). Mit den Grünen ist sich Lambsdorff einig, dass die neue Richtlinie nicht mehr, sondern weniger Rechtssicherheit für die Unternehmen bringt. Die Kommission habe keine klare Alternative zum Herkunftslandprinzip vorgelegt, sagt Heide Rühle (Grüne): "Der Europäische Gerichtshof erhält damit das letzte Wort." Zur Rechtsunsicherheit trägt nach Ansicht der Grünen auch der willkürliche Katalog der Ausnahmen bei.
Tatsächlich sind die Signale, die die Kommission im Zusammenhang mit der Dienstleistungsrichtlinie aussendet, widersprüchlich. Auf der einen Seite hat sie alle protektionistischen Erwartungen des Parlamentes erfüllt. Auf der anderen Seite glaubt der Binnenmarktkommissar, dass die neuen Regeln Wirkung entfalten. "Die Mitgliedstaaten sind jetzt verpflichtet, alle ungerechtfertigten Hürden für den Dienstleistungsverkehr zu beseitigen. Das sollte niemand unterschätzen."
Die Kommission hat außerdem deutlich gemacht, dass auch für abhängig Beschäftigte ausländischer Firmen bürokratische Hürden abgebaut werden müssen. Das Parlament habe zwar durchgesetzt, dass in der Richtlinie der Verweis auf die Entsenderichtlinie entfällt. "Das kann nicht bedeuten, dass die Mitgliedstaaten das Recht haben, bürokratische Hindernisse aufrechtzuerhalten, die die Entsendung von Arbeitnehmern durch Dienstleistungsfirmen behindern", sagt Sozialkommissar Vladimir Spidla. Auch auf dem Arbeitsmarkt gelte der Grundsatz, dass nur berechtigte und angemessene Maßnahmen erlaubt seien, heißt es in Leitlinien, die die Kommission in der letzten Woche verabschiedet hat. Nicht angemessen sei es zum Beispiel, dass eine Baufirma einen "ständigen Vertreter" vor Ort haben müsse, wenn sie einen Auftrag in einem anderen EU-Land abwickelt - in der Hoffnung, dass die Kosten für den "ständigen Vertreter" die ausländische Konkurrenz der heimischen Bauwirtschaft abschrecken.
Evelyne Gebhardt kritisiert jedoch, dass die Leitlinien, im Gegensatz zur neuen Dienstleistungsrichtlinie, nicht mit dem Parlament abgestimmt seien. Neuer Streit zwischen Kommission und EU-Parlament ist also schon vorprogrammiert.