Eine Eingabe der Jungen Union Nordrhein-Westfalen an den Bürgerbeauftragten der EU, Nikiforos Diamandouros, gab den Anstoß. Das EU-Parlament sprach sich am 4. April 2006 in Straßburg dafür aus, dass Ratssitzungen, in denen Gesetze verhandelt oder beschlossen werden, öffentlich sein sollen. Fast 500 Abgeordneten stimmten für den entsprechenden Bericht des spanischen Abgeordneten David Hammerstein Mintz. Sie erinnerten daran, dass eine derartige Reform nicht durch Veto blockiert werden könnte. Eine einfache Mehrheit würde daher genügen, um die Geschäftsordnung des Rates entsprechend zu ändern.
Die CDU-Nachwuchspolitiker hatten zunächst in einem offenen Brief an Generalsekretär Javier Solana verlangt, der Rat solle künftig öffentlich tagen. Solana antwortete, die Regierungen hätten 2002 in Sevilla ei-ne weitreichende Reform beschlossen. Seither würden Beratungen über Kommissionsentwürfe ebenso wie die Aussprache vor der Abstimmung über ein Gesetz per Videoübertragung für Journalisten zugänglich ge-macht. Alle übrigen Verhandlungen fänden aber weiterhin hinter verschlossenen Türen statt.
Damit gaben sich die Jungpolitiker nicht zufrieden. Im Dezember 2003 monierten sie in einem Brief an den Europäischen Ombudsmann, dass der Rat der Fachminister oder der Regierungschefs der Mitglied-staaten nach wie vor nur in Ausnahmefällen und nur beschränkt öffentlich tage. Das widerspreche dem geltenden EU-Vertrag, der verlangt, dass die Entscheidungen der Europäischen Union "möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden." Noch deutlicher fordere das der Entwurf für eine Verfassung Europas, den alle Regierungschefs in Rom unterzeichnet hätten: "Das Europäische Parlament tagt öffentlich; dies gilt auch für den Ministerrat, wenn er über Gesetzgebungsvorschläge berät oder beschließt." Der Europäische Bürgerbeauftragte hält die Argumente der Beschwerdeführer für stichhaltig. "Als Jurist könnte man argumentieren, dass ja bereits alle 25 Regierungen den Text des neuen Verfassungsvertrages akzeptiert haben. Da die öffentlichen Sitzungen danach vorgesehen sind, könnte man sich darauf berufen, dass jeder einzelne Mitgliedstaat dem bereits zugestimmt hat." Diamandorous hofft, dass über diese Frage eine einvernehmliche Lösung zwischen Rat und EP gefunden werden kann.
Das Europaparlament könnte sich zwar auf den Wortlaut des derzeit geltenden Vertrags von Nizza berufen und den Europäischen Gerichtshof anrufen. Doch die Institutionen seien immer bemüht, solche harten Konfrontationen zu vermeiden, so Diamandouros. Auch er sieht in öffentlichen Ratssitzungen einen wichtigen Schritt hin zu mehr Bürgernähe.
Das glaubt auch Berichterstatter David Hammerstein von den Grünen. "Wenn Millionen Bürger eine Debatte zur Dienstleistungsrichtlinie oder zur Stammzellenforschung live verfolgen könnten, würde das Interesse an den europäischen Angelegenheiten steigen", sagt Hammerstein. Sein Fraktionskollege Johannes Voggenhuber aus Österreich pflichtet ihm bei. "Öffentlichkeit ist ein grundlegendes Bauprinzip der Demokratie. Seit ich mich im Konvent zur Verfassung Europas mit dem Problem befasst habe, erscheint mir der Rat als schwarzes Loch der Demokratie." Sowohl die britische Ratspräsidentschaft im letzten Jahr als auch die derzeit amtierenden Österreicher hatten signalisiert, sie wollten die nötige Änderung der Geschäftsordnung durchsetzen. Kürzlich aber sagte die österreichische Außenministerin Ursula Plassnik auf Nachfrage, die Angelegenheit sei "heikel". Damit spielt sie darauf an, dass Kampfabstimmungen im Rat nicht üblich seien. Der jeweilige Vorsitzende bemüht sich um eine Einigung. Deshalb will Voggenhuber dem Rat ein Ultimatum bis Ende des Jahres stellen: Vom 1. Januar 2007 an sollte das Europaparlament alle Gesetze pauschal ablehnen, die im Rat nicht öffentlich beraten und beschlossen wurden.
Die großen Fraktionen würden diesen harten Konfrontationskurs gegenüber den Regierungen sicher nicht mittragen. Sie unterstützen aber die Forderung der Grünen nach mehr Transparenz bei der Ratsarbeit. Die ungarische Sozialistin Alexandra Dobolyi erinnerte im Plenum daran, dass sogar das britische Oberhaus öffentlich tage, obwohl es nicht wie die EU-Regierungen demokratisch gewählt sei. Ihr irischer Parteikollege Proinsias De Rossa sagte, technisch sei es möglich, die Ratssitzungen in jedes europäische Wohnzimmer zu übertragen. Schon die Debatte im Binnenmarktausschuss Ende des Monats über die Dienstleistungsrichtlinie hätte öffentlich geführt werden sollen. Der konservative Abgeordnete Elmar Brok regte an, diese Reform zu einem Markenzeichen der Debatte über die Zukunft Europas zu machen. Der Bürger habe ein Recht zu wissen, wer für welche Entscheidung ver-antwortlich sei. Dennoch rämut Brok ein, es müsse natürlich weiterhin Raum für vertrauliche Beratungen bleiben, zum Beispiel im Ausschuss der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten bei der EU. Im kommenden Halbjahr übernehmen die für ihre Offenheit im politischen Tagesgeschäft berühmten Finnen den Vorsitz in der Europäischen Union. Vielleicht gelingt es ihnen, eine Abstimmung auf die Tagesordnung zu setzen und damit die Türen des Europäischen Rates einen Spalt zu öffnen.